Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 12 / 20.03.2006
Johanna Metz

Der Sound des Kalten Krieges

Zwischen Gassenhauern und Rock' n' Roll
Ein knappes Jahrzehnt nach Ende des Krieges war die Welt der Deutschen wieder heil: Die Wirtschaft des Westens nahm einen kräftigen Schwung, die Einkommen stiegen und die Menschen entdeckten die Lust am Konsum. Sie kauften sich Autos und Kühlschränke, reisten an die Nordsee oder nach Italien und futterten sich prächtige Wohlstandsbäuche an. Aus der brachen Bundesrepublik war das Wirtschaftswunderland der 50er-Jahre geworden, ein Hort der Gemütlichkeit und Zuversicht und eine Welt jenseits der Trümmer, die der Krieg in den Köpfen der Menschen und ihren Städten hinterlassen hatte.

Im Radio und Fernsehen der Republik dudelten passend zur neuen Beschaulichkeit muntere Melodien: Caterina Valente träumte von der Liebe und der erste Plattenmillionär der Bundesrepublik, Freddy Quinn, sang launige Seemannslieder. Die achtjährige Conny Froboess trällerte: "Pack die Badehose ein." Je größer die Sehnsucht im Volk, das zurückliegende Leid zu vergessen, desto trivialer wurden die Schlager - es schnulzte und gassenhauerte nur so durch alle Kanäle.

Doch nicht nur die Deutschen (West) saßen gebannt vor dem Radiogerät, wenn im RIAS (dem "Rundfunk im amerikanischen Sektor") der "Schlager der Woche" gespielt wurde. Darin waren sich kürzlich die Teilnehmer der Diskussionsrunde zum Thema "Kalter Krieg und schrille Töne - der Klang der 50er-Jahre" im Berliner Kulturzentrum WABE einig. Gekommen waren unter anderem die (westdeutsche) Musikwissenschaftlerin Maren Köster, Jahrgang 1963, wie auch Siegfried Schmidt-Joos, Jahrgang 1936. Der aus Thüringen stammende Schmidt-Joos war 1958 aus der DDR geflohen und ist einer der bekanntesten Musikjournalisten Deutschlands. Er war lange Abteilungsleiter "Leichte Musik" beim RIAS und SFB. Zudem ist er geistiger Vater des bekannten "Rocklexikons". Außerdem saß der 79-jährige Hans Bentzien auf dem Podium, der von 1961 bis 1966 DDR-Kulturminister war. Die Zeitzeugen in der Runde erinnerten sich noch gut daran, dass auch die DDR-Bürger, denen es in der Planwirtschaft lange nicht so gut ging wie den westdeutschen Nachbarn, gern mal RIAS oder AFN, den Sender amerikanischen GIs, einschalteten. Begeistert kauften sie zudem die Platten des volkseigenen Heimatsängers Herbert Roth ("Ich wandre ja so gerne am Rennsteig durch das Land, den Beutel auf dem Rü-hü-cken, die Klampfe in der Hand ..."). Noch war die Grenze offen, und, Kalter Krieg hin oder her, die Heimatschnulzen brachten Ost- wie Westdeutsche gleichermaßen zum Schmelzen. "Das Publikum", sagt Maren Köster, "das waren ja im Osten und im Westen die gleichen Deutschen mit der gleichen NS-Vergangenheit und dem gleichen Wunsch zu verdrängen. Denn genau das ist ja der Hintergrund der Heimatschnulze: eine Idylle zu zeichnen, die eben nicht real ist, wenn man zwischen Trümmern sitzt."

Bei den SED-Oberen war die heile Schlagerwelt trotzdem nicht wohl gelitten. Zu kommerziell, zu wenig authentisch, hieß es, die DDR-Presse warf der "kapitalistischen Schlagerindustrie" Profitsucht und Verlogenheit vor. Auf ihrem Boden, wetterte sie, würde "die Ideologie des Revanchismus und des Militarismus" gezüchtet. Starke Worte, wenn man bedenkt, dass die Plattenbosse und Schlagerstars des Westens ihre Millionen überwiegend mit seichten, völlig unpolitischen Liedchen verdienten. Doch in Zeiten des Kalten Krieges war eben auch Musik nicht länger Privatsache. Als Massenmedium rief es auf beiden Seiten der Demarkationslinie politische Begehrlichkeiten hervor. Schließlich sei es, so erzählt Hans Bentzien, der Ende der 50er-Jahre der Kulturkommission im Politbüro des ZK angehörte, um nichts Geringeres als den "Kampf um die Köpfe" gegangen, um Ideale und Grundsätze, die man auch über die Musik habe transportieren wollen. Daher auch die Kulturdoktrin der DDR, der "Sozialistische Realismus", erzählt Siegfried Schmidt-Joos: "Sie hat alle Kunstformen des 20. Jahrhunderts unter Verdikt gestellt, die Vertreter der neuen E-Musik ebenso wie die des Jazz. Kunst in der DDR sollte zuallererst volksverbunden und volksverwurzelt sein."

In der DDR suchte man daher in Anlehnung an die Volksliedtradition aus der Sowjetunion fieberhaft nach "authentischem", "echtem" Liedgut und durchforstete die alten Liederbücher nach geeignetem "Material". Nazi-Lieder wurden aussortiert. Zudem förderten die DDR-Kulturfunktionäre Laienkunstbewegungen im ganzen Lande. Während Amateurkünstler in der BRD in selbständigen Verbänden organisiert waren, nutzten die DDR-Eliten die so entstehenden Netzwerke gezielt für ihre politisch-ideologischen Zwecke. "Volkskunstfestivals" und "Volksmusiktage" überzogen das Land, Orchester, Chöre und Kabarettgruppen schossen wie Pilze aus dem Boden. Noch allerdings verstanden die SED-Oberen die "deutsche Volkskunst" als gesamtdeutsche Angelegenheit: Auf den Veranstaltungen traten in der Anfangszeit auch Künstler aus der Bundesrepublik auf. Walter Ulbricht dazu 1952: "Uns ist die Aufgabe gestellt, die deutsche Volkskunst als einen Teil unserer gemeinsamen nationalen Kultur zu pflegen, zu verbreiten und als eine Waffe gegen die kosmopolitischen Einflüsse der amerikanischen Kulturbarbarei zu nutzen." Allerdings war das Pulver schnell verschossen: Ende der 50er-Jahre brachen die Kontakte zwischen den Volkskunstvereinen vollständig ab, die Nation war tief gespalten.

Die DDR setzte ihren Kampf gegen die "amerikanische Unkultur" unvermindert fort: Es entstanden "politische Massenlieder", agitatorische Songs, gesungen von Massen für Massen. Ganze Kommissionen sorgten sich um ihre Verbreitung und Produktion, Komponisten wie Hanns Eisler ("Ohne Kapitalisten geht es besser") und Ernst Busch ("Ami go home", "Die Partei hat immer Recht") wurden intensiv gefördert. In den Texten ging es darum, eine bessere Welt zu schaffen, um Frieden, die Freundschaft mit anderen Völkern und die Erfolge der Partei. "Natürlich", sagt Maren Köster, "gab es auf politischer Seite die Idealvorstellung, wenn nur die Leute oft genug singen, dass die Partei immer Recht hat, dann werden sie es auch glauben. Vor allem aber gab es im Osten den Gedanken der Erziehung durch Musik - bis hin zu der Vorstellung, wenn die Leute ordentlich Klassik hören, wird der Humanismus in ihnen wieder keimen."

In der BRD, wo die Massenkultur in erster Linie unpolitisch und konservativ war, scheuten sich die Musiker dagegen vor allzu direkten politischen Äußerungen. Das Massenlied, wie es sich im Osten mehr und mehr verbreitete, war verpönt, sogar "total tabuisiert", wie Köster betont. "Das hat man für etwas ganz furchtbar Gefährliches gehalten. Man fand es entsetzlich, wie der ,böse' Osten die Menschen vereinnahmt und indoktriniert." Allerdings - die deutsche Jugend tanzte da längst auf anderem Parkett. Mitten in die Schlageridylle und sozialistische Massenliedromantik hinein platzte gegen Ende der 50er-Jahre nämlich ein ganz heißes Eisen: der Rock' n' Roll. Er wurde zum Ventil für eine Jugend, die sich im Westen gegen die Bevormundung und das Heile-Welt-Denken ihrer Eltern wendete, im Osten gegen die Vereinnahmung durch den Staat. Während die jugendlichen Fans von Elvis Presley und Bill Haley auf den Tanzflächen der Republik ekstatisch die Hüften schwangen, kam es zum Aufmarsch der Moralaposteln dies- und jenseits der innerdeutschen Grenze. Die amerikanischen Kulturimporte, gleich ob Rock' n' Roll, Swing, Jazz oder Country empfanden sie als "Unkultur": "Was die Ablehnung des Rock' n' Roll betraf", so Schmidt-Joos, "waren der Bischof von Köln und das Politbüro in Ostberlin einer Meinung." Im Osten steigerte sich die Abneigung allerdings in ungeahnte Höhen: Man sah in Elvis Presley die Personifizierung westlicher Dekadenz und Unmoral und vermutete in seinem Hüftschwung gar ein "Geschütz" des alten Krieges. Klar, dass hier gehandelt werden musste: Während die Aufregung im Westen langsam abebbte, setzte die DDR ihre Propaganda-Maschine in Gang, engagierte einen Komponisten und ein Leipziger Tanzlehrerpaar und kreierte kurzerhand einen neuen Tanz für die unverdorbene, sozialistische Jugend - den "Lipsi". Sein Groove sollte die Tanzflächen des Ostens zum Beben bringen und alle Presleys und Haleys dieser Welt zu lahmen Enten machen. Der beschwingte Paartanz im 6/4-Takt wurde mit Preisen überschüttet und sogar zum Patent angemeldet, in den Tanzschulen der Republik wurden die Grundschritte wie Sauerbrot angepriesen: Herr rechten Fuß zum linken Fuß, Dame linker Fuß zum rechten Fuß, Tippschritt und so weiter. Doch diesmal hatten die Bonzen einen Ausfallschritt zu viel gemacht: Die DDR-Jugend ignorierte den Lipsi einfach. Für Hans Bentzien nach 47 Jahren immer noch ein Grund zum Schmunzeln: "Der Lipsi war eine reine Propagandasache, die schnell in sich zusammenfiel und heute nur wieder herausgekramt wird, weil man so herrlich darüber lachen kann."

Das Flaggschiff der DDR-Kulturpolitik versank in den Gräben des Kalten Krieges und die Jugend, so zeigte sich, hatte sich in Ost wie West längst auf einen gemeinsamen Konsens geeinigt: Fern der biederen Unterhaltungswelt der Erwachsenen und dem Versuch der ideologischen Vereinnahmung, hielt sie sich lieber an die Rolling Stones: "It's only Rock' n' Roll - but I like it!"


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.