Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 12 / 20.03.2006
Ulrike Schuler

Streitpunkt Zwangsberatung

Spätabtreibung: Deutsche Ärzte fordern Änderung des Paragrafen 218
"Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine Kleine denke. Manchmal ist es sehr schmerzhaft und an anderen Tagen weniger. Ich werde diese Schwangerschaft, den Abbruch und mein Kind nie vergessen." Das schreibt eine 35-Jährige an die Universitätsfrauenklinik Bonn. Die Frau hatte ihr Kind in der 17. Schwangerschaftswoche abtreiben lassen, nachdem sie erfahren hatte, dass es behindert sein und unter dem Down-Syndrom leiden würde.

Abtreibungen zu einem relativ späten Zeitpunkt wegen Behinderung des Kindes - nicht nur für die betroffenen Frauen selbst ist das ein hochemotionales Thema und eine brisante Entscheidung, die sie möglicherweise ihr ganzes Leben lang verfolgt. Nach Paragraf 218 des Strafgesetzbuches sind Abbrüche nach der medizinischen Indikation auch in späten Schwangerschaftswochen straffrei, wenn eine schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren zu erwarten ist. Gestritten wird dabei nicht um die Fälle, in denen das Leben der Mutter durch Schwangerschaft oder Geburt gefährdet ist, sondern um die, in denen eine absehbare schwere seelische Belastung der Mutter, beispielsweise durch eine Behinderung des Kindes, attestiert wird.

Besonders hoch schlagen die Wellen der Erregung, wenn es um so genannte Spätabbrüche, also schon lebensfähige Kinder geht, die nach der 23. Schwangerschaftswoche abgetrieben werden. Spektakulär war der Fall des "Oldenburger Babys". Als seine Mutter 1997 erfuhr, dass das Kind am Down-Syndrom leiden würde, wollte sie einen Schwangerschaftsabbruch. Tim überlebte die Abtreibung in der 25. Schwangerschaftswoche, obwohl er stundenlang unversorgt blieb. Heute lebt er in einer Pflegefamilie. Der Fall dient "Lebensschützern" als Argumentationshilfe gegen Abtreibungen, auf Webseiten wie "www.Tim-lebt.de" wird für ein gesetzliches Verbot von späten Abbrüchen geworben.

Auch in der rot-schwarzen Koalition ist das Thema ein heißes Eisen. Unionsfraktionschef Volker Kauder hatte im Januar angekündigt, eine Initiative gegen Spätabtreibungen zu starten und sich um Gespräche mit der SPD zu bemühen. Im Koalitionsvertrag haben sich die Regierungspartner darauf geeinigt, zu prüfen, "ob und gegebenenfalls wie die Situation bei Spätabtreibungen verbessert werden kann". Das, obwohl die Sozialdemokraten am liebsten alles beim Alten lassen würden. In einer der nächsten Sitzungswochen soll sich eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe aus Vertretern von Union und Sozialdemokraten mit dem Thema befassen.

Der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Johannes Singhammer, findet die jetzige Situation "unerträglich". "Es kann nicht sein, dass auf der einen Seite Frühchen mit unerhörtem technischen Wissen und Einsatz gerettet werden und auf der anderen Seite möglicherweise behinderte Kinder bis unmittelbar vor der Geburt abgetrieben werden", sagt der CSU-Abgeordnete.

Handlungsbedarf sieht auch die Ärzteschaft. Die Bundesärztekammer und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) wollen in Kürze ein gemeinsames Positionspapier vorlegen. Ziel des Papiers sind klarere formale Regelungen für Spätabtreibungen. Die derzeitige Gesetzeslage lasse zu viel Spielraum offen und belaste die Ärzte. "Genauere gesetzliche Regelungen machen Sinn wegen des Drucks, der auf der Situation liegt. Die Wahrnehmung von außen ist: Die können ewig lang Kinder abtreiben", sagt Klaus Vetter, Präsident der DGGG. Diesem Eindruck wollen die Ärzte entgegentreten. "Ziel der Ärzteschaft ist eine Verminderung von Schwangerschaftsabbrüchen jedweder Art", sagt Vetter.

Eine Möglichkeit, die Anzahl später Abbrüche zu senken, sei eine Verbesserung der Pränataldiagnostik. "Je früher die Diagnose gestellt wird, desto weniger späte Abbrüche müssen gemacht werden", sagt der Mediziner. Zudem müsse bei der Beratung der Schwangeren nachgebessert werden. Genau wie bei der Möglichkeit zur Abtreibung nach sozialer Indikation bis zur zwölften Woche sollten nach den Vorstellungen der Ärzte eine Beratungspflicht und eine mehrtägige Bedenkzeit vor dem Abbruch vorgeschrieben werden. Vetter fordert "eine Logik der Gleichheit" beim Schutz des Kindes: "Getrieben wurde unser Papier davon, dass wir gesagt haben, der Schutz des Kindes kann nicht unterschiedlich sein. Das Kind ist bei medizinischer Indikation weniger geschützt als sonst."

Die Union haben die Ärzte auf ihrer Seite: Auch sie fordert eine verpflichtende Beratung und eine Bedenkzeit von drei Tagen, die im Paragrafen 218 festgeschrieben werden sollen. "Ganz wichtig ist uns auch die Klarstellung, dass eine absehbare Behinderung allein kein Grund für einen Abbruch sein darf", sagt Singhammer.

SPD und Grüne verweisen darauf, dass das Gesetz einen Abbruch nicht wegen einer absehbaren Behinderung des Kindes, sondern wegen einer zu erwartenden schwerwiegenden Beeinträchtigung der körperlichen oder seelischen Gesundheit der Schwangeren ermögliche. "Wir wollen nicht, dass der Paragraf 218 wieder geöffnet und geändert wird", sagt Christel Humme, frauenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. Es sei alles geregelt, sowohl was die Indikationen als auch den Anspruch auf Beratung angehe, der im Schwangerschaftskonfliktgesetz verankert sei. "Der Paragraf 218 soll so bleiben wie er ist", meint auch die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk. Beide halten - ebenso wie ihre Kollegin von den Liberalen, Ina Lenke - nichts davon, die Frauen zu einer Beratung zu verpflichten. "Das verhindert keine Abtreibung, sondern erhöht nur den ohnehin schon vorhandenen psychischen Druck auf die Frauen", sagt Humme. Auch Die Linke lehnt eine "restriktive Veränderung" der bestehenden Regelungen ab. "Zwangsberatungen halten wir für unsinnig und kontraproduktiv", stellt die frauenpolitische Sprecherin, Karin Binder, die Position ihrer Fraktion dar.

Eine bessere Beratung wird allerdings nicht nur von der Union, sondern auch von SPD, Grünen und FDP gefordert. "Es besteht Handlungsbedarf, weil die Beratung nicht gut ist", sagt Schewe-Gerigk. Weitgehende Eintracht besteht unter den Parteien darüber, dass nicht nur medizinisch, sondern auch psychosozial beraten werden soll. Das soll die Frauen vor überstürzten Entscheidungen bewahren, die sie später bereuen. Gerade bei den immer ausgefeilteren Möglichkeiten der Pränataldiagnostik müssten Frauen auch darauf hingewiesen werden, dass sie nicht alle Untersuchungen mitmachen müssen, findet FDP-Politikerin Lenke. "Die Mutter hat ein Recht auf Wissen, aber auch auf Nicht-Wissen", sagt sie.

Besondere finanzielle Probleme für die Länder durch eine verbesserte Beratung erwartet Singhammer nicht, da die Fallzahlen solcher Abbrüche nicht hoch seien. "Das kann mit den vorhandenen Strukturen bewältigt werden", sagt der CSU-Politiker.

Schewe-Gerigk fände bei dem Thema einen fraktionsübergreifenden Antrag angemessen und schlägt als Kompromiss eine Pflichtberatung vor der Durchführung von Pränataldiagnostik vor. In der vergangenen Legislaturperiode wurde von den Parteien schon einmal ein Anlauf genommen, wegen der moralischen Tragweite des Problems einen gemeinsamen Antrag einzubringen. Der Versuch scheiterte zwar, dennoch scheint es an mehr Punkten Einigkeit als Unterschiede zu geben. Größter Knackpunkt ist die Pflicht zur Beratung.

Bei der von der Union geforderten Bedenkzeit zwischen Diagnosestellung und Abbruch liegen die Fraktionen mit ihren Positionen nicht weit auseinander. "Über eine Frist können wir reden", sagt Humme. "Ich glaube, dass es richtig ist, in Ruhe über solch eine Entscheidung nachzudenken", äußert Schewe-Gerigk. Allerdings hält die Grüne es für "nicht zielführend", eine bestimmte Zeitangabe wie etwa drei Tage gesetzlich festzuschreiben. Die Liberale Lenke hingegen befürwortet eine festgeschriebene Drei-Tages-Frist.

Nach Ansicht des Ärztevertreters Vetter sollte auch klar geregelt, wann sich ein Arzt weigern darf, pränatale Diagnosen zu stellen oder einen Abbruch vorzunehmen. "Es wäre für die Ärzte angenehmer, Umstände zu definieren, wo Verweigerung möglich ist", sagt Vetter. "Im Moment hat der Arzt alles an der Backe. Das wollen wir entschärfen."

Auch die Haftungspflicht des Arztes bei falscher

Diagnosestellung oder einem Überleben des Kindes nach einer Abtreibung möchten die Mediziner vermindern. Schon in einem Papier von 2004 fordert die DGGG die Haftung für Unterhaltsleistungen für ein vorgeschädigt geborenes Kind bei Diagnoseirrtümern - ähnlich wie in Frankreich - auf Fälle von grober Fahrlässigkeit zu beschränken.

Davon halten die Sozialdemokraten gar nichts: "Die Haftungspflicht sollte auf keinen Fall eingeschränkt werden. Gerade wenn es um werdendes Leben geht, darf die Haftung nicht eingeschränkter sein als bei Krankheiten", sagt Humme. "Man kann eine Schwangere nicht schlechter stellen als eine Kranke", pflichtet ihr Schewe-Gerigk bei. Auch in der FDP neigt man eher dazu, am Haftungsrecht nicht zur rühren. "Ich persönlich bin dafür, hier keine Änderungen vorzunehmen", sagt Lenke und verweist darauf, dass die neue Fraktion das Thema noch beraten werde. Die Union will die Situation für die Ärzte dadurch verbessern, dass die Prognose über die Gesundheit des Kindes und die medizinische Indikation nicht von einem Arzt allein, sondern von einem interdisziplinär besetzten Gremium gestellt werden.

Ein weniger juristisch-gesetzliches Problem ist das gesellschaftliche Klima, das in Zeiten von immer ausgeklügelteren medizinischen Möglichkeiten zur Früh-erkennung, von Gentechnik und Schönheitswahn kühler wird gegenüber Menschen, die vom Perfekten weit entfernt oder gar behindert sind. Ganz wichtig sei, dass die Eltern nicht unter gesellschaftlichen Druck gerieten, kein behindertes Kind auf die Welt zu bringen, sagt Singhammer. Viele Eltern stünden bei der Diagnose erstmal vor einem Berg scheinbar unbewältigbarer Probleme. Diese Eltern müssten auf die Möglichkeiten der Hilfe und die finanzielle Unterstützung, die es gäbe, hingewiesen werden, ist der CSU-Abgeordnete überzeugt. Singhammer plädiert auch für eine Ausweitung der Hilfen: "Den Eltern muss Mut gemacht werden, sich für ein möglicherweise behindertes Kind zu entscheiden. Die Politik muss die Initiative ergreifen und sagen, dass das Leben mit behinderten Kindern Freude macht."


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.