Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21 - 22 / 22.05.2006
Volker Müller

Marsch, marsch Richtung Europa

Georgien im dritten Jahr nach der Rosenrevolution
Tief hängen die Regenwolken über Tiflis an diesem Maimorgen. "Völlig ungewöhnlich für diese Jahreszeit", sagt Nino Kadschaia, die junge Pressesprecherin des georgischen Außenministeriums. Die Gruppe deutscher Journalisten hat sich in Mäntel und Jacken gehüllt, Nino betreut sie zwei Tage lang, Begegnungen mit den Spitzen des Staates und ein bisschen Sightseeing.

Der Besuch erregt Aufmerksamkeit in dem kleinen Land südlich des Kaukasus. Einheimische Kamerateams begleiten die Gruppe, fragen die Gäste nach ihren Eindrücken. Georgien sucht die Aufmerksamkeit der westlichen Medien. Die Botschaft lautet: Wir sind Europäer, wir sind Christen, wir sind eine Demokratie und wir wollen so schnell wie möglich in die NATO. Und irgendwann auch in die Europäische Union.

Seit 1801 hat Georgien zu Russland und später, bis auf ein kurzes Intermezzo von 1918 bis 1921, zur Sowjetunion gehört. 1991 erklärte sich die frühere Sowjetrepublik für unabhängig, Deutschland erkannte als erster Staat diese Unabhängigkeit an. Der letzte Außenminister der Sowjetunion, Eduard Schewardnadse, war maßgeblich an der deutschen Wiedervereinigung beteiligt, was nicht zuletzt ein Grund für das besondere Wohlwollen der Bundesrepublik gegenüber Georgien ist. Aber auch umgekehrt gibt es viele Sympathien: Seit dem 19. Jahrhundert übten die deutsche Sprache und Kultur eine große Strahlkraft auf die Oberschicht des Landes aus.

Die postsowjetische Zeit unter dem Präsidenten Schewardnadse endete abrupt im November 2003 mit der so genannten Rosenrevolution, als eine junge Truppe von zum Großteil in den USA ausgebildeten Politikern das Ruder übernahm und die Wahlen mit deutlicher Mehrheit gewann. Seither verfolgt Georgien einen klar proamerikanischen Kurs. Der 38-jährige Staatspräsident Micheil Saakaschwili, mit jungenhaftem Charme und unverwüstlichem Optimismus ausgestattet, ist der georgische Jürgen Klinsmann: Anfangserfolge, aber man weiß noch nicht, wie das Experiment ausgeht. Wie die deutsche Fußballnationalmannschaft, so schwächelt zurzeit auch die georgische Regierung nach einem furiosen Start. Innenpolitisch hat sie sich den Kampf gegen die grassierende Korruption auf die Fahnen geschrieben. Die Besoldung von Richtern und Polizisten wurde deutlich verbessert, um sie für Bestechung weniger anfällig zu machen. In beiden Berufsgruppen wechselte die Regierung als korrupt und ineffektiv geltende Amtsinhaber aus und reformierte das Justizwesen.

Die Korruption zum Ende der Ära Schewardnadse war einer der Hauptauslöser für die Rosenrevolution des Schewardnadse-Zöglings Saakaschwili und seiner wichtigsten Mitstreiter, des späteren Ministerpräsidenten Surab Schwanija und der heutigen Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse. Schwanija war im Februar 2005 bei einem Gasunfall in der Wohnung eines Freundes ums Leben gekommen. Sein Nachfolger wurde Finanzminister Surab Nogaideli. Die Antikorruptionsorganisation "Transparency International" äußert sich in ihrem jüngsten Bericht eher skeptisch, ob der beachtliche Aktionismus der Regierung im Kampf gegen Korruption tatsächlich zu handfesten Erfolgen führen wird. Die Kriminalitätsraten haben sich seit 2003 verdoppelt, was aus Sicht der Regierung damit zusammenhängt, dass Straftaten statistisch besser erfasst werden als früher. Die ausbleibende Besserung der wirtschaftlichen Lage hat am 30. März eine große Demonstration gegen die Regierung ausgelöst. Für den Unabhängigkeitstag am 26. Mai ist eine weitere Demonstration angekündigt. Die Vorschusslorbeeren sind verwelkt, der Klinsmann vom Kaukasus muss Erfolge vorweisen.

Kurzfristig ist die Aufnahme in das nordatlantische Verteidigungsbündnis das wichtigste außenpolitische Ziel Georgiens. "Wir sind überqualifiziert für die NATO", sagt Saakaschwili etwas salopp. Bei Außenminister Gela Beschuaschwili klingt es formeller: "Georgien teilt die Prinzipien und Werte der demokratischen Gesellschaften, auf denen die NATO basiert." Demonstrativ stehen georgische Soldaten im Irak an der Seite der US-Truppen. An die Pforten der EU klopft Georgien zurzeit nicht, wie Präsident, Außenminister und Parlamentspräsidentin übereinstimmend betonen. Doch schon jetzt gibt es einen Parlamentsausschuss für die europäische Integration. Auch lassen die demonstrativen Auftritte von Präsident und Außenminister, eingerahmt von der nationalen Flagge und der Flagge der Europäischen Union, keinen Zweifel daran, dass dies langfristig das Ziel ist. Nino Burdschanadse räumt ein, dass ein EU-Beitritt der Türkei für die eigenen Bestrebungen vorteilhaft wäre.

Der Kurs der Rosenrevolutionäre hat zu Belastungen im Verhältnis mit dem nördlichen Nachbarn Russland geführt. Anfang des Jahres hatte Russland seine Gaslieferungen an Georgien vorübergehend gestoppt. Im April folgte ein Importverbot für georgischen Wein mit der Begründung, dieser würde nicht durchweg den lebensmittelrechtlichen Vorschriften entsprechen und sei teilweise mit Chemikalien versetzt. Für Georgien, das 80 Prozent seiner Weinproduktion exportiert, ist das ein herber Schlag. Fast 90 Prozent ihres Exports haben die georgischen Winzer nach Russland geliefert. In Deutschland werden jährlich nur 20.000 Flaschen abgesetzt, so George Margwelaschwili, Chef des Tifliser Weinherstellers Tbilvino. Nun suchen die Georgier neue Absatzmärkte für ihren Wein, auch in der EU. Margwelaschwili gibt zu, dass die georgischen Weinexporteure ein Problem mit Fälschern haben. Georgischer Wein werde in Russland gepanscht und mit georgischen Etiketten versehen. Hinter dem Konflikt um den Etikettenschwindel vermutet Margwelaschwili aber politische Interessen. "Wir wollten das Ganze als ein technisches Problem ansehen und alles tun, um mit den Russen darüber zu reden. Russland sieht es jedoch als ein politisches Problem an." Inzwischen hat Russland auch ein Importverbot für georgisches Mineralwasser ausgesprochen und die georgisch-orthodoxe Kirche in Moskau geschlossen.

Hinter dieser Politik der Nadelstiche steht unausgesprochen der Konflikt um die territoriale Integrität des georgischen Staates. Wie eine Beule ragt vom Kaukasuskamm herab das autonome Gebiet Südossetien bis fast nach Tiflis hinunter. Die georgische Regierung kontrolliert nur einige georgisch besiedelte Ortschaften, die ossetischen Dörfer und der Hauptort Zchinwali stehen unter ossetischer Selbstverwaltung, die von russischen Truppen geschützt wird. Im Norden schließt sich auf russischer Seite das autonome Gebiet Nordossetien an, das größer ist und stärker besiedelt. Zwar haben schon zu Sowjetzeiten Südossetien zu Georgien und Nordossetien zu Russland gehört, doch auf dem Kaukasus befand sich damals keine Staatsgrenze. Die Osseten wären gerne in einem Gebiet vereinigt, und zwar innerhalb der Russischen Föderation. Für die Georgier ist ihr Staatsgebiet dagegen unteilbar, weshalb Tiflis nun auf dem Verhandlungsweg versucht, die Regierung in Zchinwali durch erweiterte Autonomieangebote für die Rückkehr in den georgischen Staatsverband zu gewinnen.

Noch prekärer ist die Situation in der zweiten autonomen Region Abchasien, im Nordwesten an der Schwarzmeerküste gelegen. Abchasiens Regierung ist völkerrechtlich nicht anerkannt, auch von Russland nicht. Das Kaukasusvolk der Abchasen stellt selbst nur 17 Prozent der Bevölkerung. Dennoch ist es ihm gelungen, nach der Unabhängigkeitserklärung 1992 rund 250.000 Georgier aus dem Land zu vertreiben. Seit dem Waffenstillstandsabkommen 1993 ruht der Konflikt, in Abchasien stehen russische UN-Friedens-truppen. Viele Abchasen und auch Südosseten haben russische Pässe. Von georgischer Seite ist zurzeit kein Zugang nach Abchasien und seiner Hauptstadt, der einstigen Touristenhochburg Suchumi, möglich. Das dritte abtrünnige autonome Gebiet innerhalb des georgischen Staates, Adscharien mit der Hafenstadt Ba-tumi, ein Landstreifen an der türkischen Grenze, konnte Saakaschwili vor zwei Jahren nach Georgien zurückholen.

Der russische Präsident Putin hat vor einiger Zeit den künftigen Status des Kosovos zum Massstab für vergleichbare Fälle erklärt und dabei an Abchasien und Südossetien sowie an die von Moldawien abtrünnige Republik Transnistrien gedacht. Sollte das Kosovo also von Serbien getrennt werden, müsste auch die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anerkannt werden. Außenminister Beschuaschwili sieht in diesen Gedankenspielen eine politische Manipulation im Interesse Russlands.

Saakaschwilis Vision für die Wiedervereinigung Georgiens sind der wirtschaftliche Fortschritt und die Westbindung des Landes. Er nennt dies die Robert-Schuman-Vision. "Wir haben in Adscharien 100 Millionen Euro in Hotels gesteckt, es kommen viermal mehr Türken nach Adscharien als umgekehrt und wir bauen dort einen Flughafen. In drei bis vier Jahren wird Adscharien blühen, während Abchasien noch in Trümmern liegt. Die Abchasen werden erkennen, dass das georgische Modell das bessere ist." Immerhin ist es Saakaschwili kürzlich gelungen, Russland zur Aufgabe seiner beiden Militärstützpunkte in Georgien zu bewegen. Um die Unabhängigkeit von russischen Energielieferungen zu mindern, will Saakaschwili nun auf den Bau von Wasserkraftwerken setzen. Trotz Weinkrise und verdoppelten Energiepreisen erwartet er für dieses Jahr ein zweistelliges Wirtschaftswachstum. Unumwunden stellt der Präsident die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in Frage, in der die ehemaligen Sowjetrepubliken mit Ausnahme der baltischen Staaten versammelt sind. Gerade auf die baltischen Saaten richtet Saakaschwili gern seinen Blick. Den in Litauen und Lettland lebenden Russen gehe es dort besser, als wenn sie in Russland leben würden. "Wir sind heute dort, wo die baltischen Staaten vor 13 Jahren waren."

Und dort, wo diese heute sind, will Saakaschwili mit seinem Land hin. Vor kurzem hat er den früheren estnischen Ministerpräsidenten Mart Laar als Berater verpflichtet. "Gebt uns einen Aktionsplan, gebt uns eine Chance", ruft er den deutschen Journalisten zum Abschied zu.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.