Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 21 - 22 / 22.05.2006
Michael Hereth

Haut und Muskeln der Nation

Symbolische Orte im Bewusstsein der Franzosen

Die Nationalhymne "La Marseillaise", die Symbole der Revolution, "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", ein Baudenkmal, ein Kriegsschauplatz, Personen aus der Geschichte, ein Sportereignis, ein Romanwerk, die Hauptstadt - all dies sind "Erinnerungsorte", deren Geschichte, Wahrnehmung und Interpretation das Bewusstsein der Franzosen prägen. Ein Erinnerungsort ist also nicht zwangsläufig ein geografischer Platz - aber immer ein symbolischer Ort im Bewusstsein der Bürger.

Pierre Nora, der Herausgeber des Buches "Erinnerungsorte Frankreichs" ist Professor für Geschichte an der Eliteuniversität Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, verantwortlicher Direktor der Geistes- und Sozialwissenschaften beim Verlag Gallimard und Mitherausgeber von "Le Debat", einer führenden wissenschaftlichen Zeitschrift jenseits des Rheines. Diese herausragenden Positionen haben ihm ermöglicht, eine ganze Schule von Historikern für sein außerordentliches Unternehmen zu gewinnen.

Die "Erinnerungsorte Frankreichs" übersetzen einen kleinen Teil der über 130 Beiträge, die in Frankreich in insgesamt fünf Bänden von 1984 bis 1992 erschienen sind. Einige der Essays des gigantischen Unternehmens sind dem deutschen Publikum durch den Wagenbach Verlag bekannt gemacht worden. Bis auf einen Beitrag sind die Aufsätze des vorliegenden Buches aber noch nicht in Deutschland publiziert.

Die Publikation stellt die Realität der französischen Nation als eine im Bewusstsein der Menschen präsente Wirklichkeit dar. Sie zeichnet ein vielschichtiges Bild Frankreichs und des französischen Selbstverständnisses. Die Beiträge bewegen sich zwischen Geschichte und politischer Wissenschaft, weil sie an der Entstehung und Gegenwart der einzelnen Orte mehr vom Selbstverständnis und der Realität Frankreichs erkennbar machen als die üblichen statistischen, insbesondere ökonomischen Daten, Verfassungs- und Organisationsbeschreibungen unserer amerikanisierten politischen Wissenschaft. Wenn diese die Knochen und teilweise die Sehnen des Sozialkörpers wären, dann wären die Erinnerungsorte die Haut und die Muskeln.

Die Launen des Präsidenten

Die besondere Qualität des Gesamtunternehmens kann vielleicht an einem der Aufsätze deutlich gemacht werden: Jacques Revel schildert den "Hof", das heißt das gesellschaftliche und politische Leben um das französische Staatsoberhaupt. Es waren für ausländische Beobachter fast unerklärliche Ereignisse als

Francois Mitterand überraschend Edith Cresson zur Premierministerin machte oder als er ihren Nachfolger Michel Rocard - wie auch sie selbst - ebenso überraschend aus dem Amt ausscheiden ließ. Auch die Berufung des amtierenden Regierungschefs Dominique de Villepin, der sich nie einer allgemeinen Wahl in irgendein Amt der Republik unterzogen hatte, durch Jacques Chirac war erstaunlich. Jener de Villepin hatte immerhin Chirac zum wahrscheinlich größten Fehler seiner Amtszeit bewegt: der Auflösung der Nationalversammlung im Jahre 1997, die zu einer sozialistischen Parlamentsmehrheit führte. Das Eigenleben im Elysee-Palast, dem Sitz des Präsidenten der Republik, gehorcht ganz offensichtlich auch und gerade in der fünften Republik den Launen und Vorlieben des Präsidenten - so wie es den Launen des souveränen Königs gehorchte. "Auch wenn sich alles um diesen Hof herum verändert haben mag", erklärt Revel, "so ähneln doch in mehr als einem Fall die Verhaltensweisen derer, die wir gewählt haben, damit sie uns regieren, denen unserer letzten absoluten Herrscher".

Unter Ludwig XIV. hat diese Konzentration des gesellschaftlichen und politischen Lebens einen ganz Europa beeinflussenden Höhepunkt erreicht. Alle Höflinge bemühen sich um die Gunst des Königs, buhlen um seine Anerkennung und machen ihn zum Zentrum des Landes. Die Verhaltensformen, die Art zu regieren, die Wege in Erscheinung zu treten, die gesamte Lebensweise des Adels - alles kreist um den Herrscher.

Alle Beiträge des Buches machen die Eigenarten des politischen und gesellschaftlichen Lebens Frankreichs in einer Weise aus der Geschichte verständlich, die den Leser fasziniert. Wer sich nicht am Stereotypenhandel über unseren Nachbarn im Westen beteiligen will, muss dieses Buch ebenso lesen, wie es die Legationsräte des Auswärtigen Amtes als Pflichtlektüre verordnet bekommen müssten.

Pierre Nora (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. Verlag C.H. Beck, München 2005; 667 S., 39,90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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