Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 23 - 24 / 06.06.2006
Adam Krzeminski

Versöhnung auf Raten

Deutsch-polnisches Verhältnis 15 Jahre nach dem Nachbarschaftsvertrag
Der deutsch-polnische Vertrag vom 17. Juni 1991 war eine Folge des Zusammenbruchs des Kommunismus im "Völkerherbst" 1989, der Vereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 und der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik im Dezember 1990. Heute ist der Vertrag zwischen Polen und Deutschland über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit einer der Ecksteine der europäischen Ordnung. Denn ohne diesen Ausgleich mit seinem westlichen Nachbarn wäre Polen weder der Europäischen Union noch der Nato beigetreten.

Zugleich dokumentiert der Vertrag den fundamentalen Wandel im deutsch-polnischen Verhältnis, der sich seit über einem halben Jahrhundert im Bewusstsein der Deutschen und der Polen vollzogen hat. Anfangs betraf er nur einzelne Intellektuelle, danach einflussreiche Gruppen sowohl in kirchlichen als auch weltlichen Kreisen, dann die Politiker und schließlich ganze gesellschaftliche Bewegungen - um an den massenhaften und spontanen Reflex konkreter Solidarität der Deutschen mit den Polen während des Kriegszustandes oder an die Solidarität der polnischen "Solidarnosc" mit den Vereinigungsbestrebungen der DDR-Deutschen 1989 zu erinnern.

Der Vertrag war kein taktisches Manöver im ewigen Spiel nationaler Egoismen, sondern entsprang dem Willen eines Großteils der politischen Klasse beider Staaten, den "Fatalismus der Feindschaft" (Stanislaw Stomma - Publizist, Politiker und Nestor der deutsch-polnischen Aussöhnung, die Red.)-, der mindestens seit der Bismarck-Zeit tief im polnischen und deutschen Bewusstsein verwurzelt war, wirklich zu überwinden. Als der damalige polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski von einer deutsch-polnischen Interessengemeinschaft sprach, ersetzte er bewusst die konfrontative Vorstellung von den deutsch-polnischen Beziehungen als einem "tausendjährigen Ringen" durch eine kooperative Vision der Zusammenarbeit, guten Nachbarschaft und osmotischen Symbiose, die ja auch tief in der Geschichte verwurzelt ist: angefangen von den deutschen Ehefrauen der ersten polnischen Könige über die deutschen Siedler im Mittelalter und Intellektuellen der Renaissance wie Nikolaus Kopernikus oder Veit Stoß bis hin zur polnisch-sächsischen Union im 18. Jahrhundert.

Die deutsch-polnische Interessengemeinschaft berief sich jedoch nicht auf Sentiments, sondern auf Konkreta. Sie besagte, dass die Beseitigung des Kommunismus und die Vereinigung Deutschlands sowohl im polnischen als auch im deutschen Interesse liegen, da sie Polen hinter seiner Westgrenze einen Nachbarn bescheren, der bereits über eine stabile Demokratie und eine starke Marktwirtschaft verfügt. Das war eine völlige Umkehrung der bisherigen polnischen Doktrin, die in der Teilung Deutschlands einen Vorteil sah, weil sie den deutschen Revisionismus schwäche - selbst wenn es bedeutete, einen deutsch-stalinistischen Nachbarn zu haben. Im Unterschied zu Frankreich und Großbritannien wurden 1989/1990 gerade in Polen keinerlei Manöver unternommen, um die Vereinigung Deutschlands hinauszuzögern, obgleich es Streitigkeiten über den Zeitpunkt der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Art und Weise des Rückzugs der sowjetischen Armee aus der ehemaligen DDR gab. Natürlich konnte Polen die Vereinigung nicht blockieren, doch es hätte diesen Prozess bremsen, den Deutschen Knüppel zwischen die Beine werfen und damit die gegenseitigen Beziehungen für lange Zeit belasten können. Das tat es jedoch nicht.

Der Vertrag von 1991 ermöglichte es, ein Netz institutioneller - politischer, wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher - Verbindungen zwischen Polen und Deutschland aufzubauen und zu stärken. Allgemein hieß es, Deutschland sei zum Anwalt der polnischen Interessen in der EU geworden, eine vielleicht nicht allzu geschickte Formulierung, da sie einen gewissen Protektionismus suggerieren konnte; zudem gibt es verschiedene Anwälte, die gestellten Rechtsbeistände nehmen ihre Mandanten nicht immer ernst, die privaten wiederum verlangen für ihre Dienste gesalzene Honorare.

Sowohl in Deutschland als auch in Polen wurde der Vertrag mit überwältigender Parlamentsmehrheit verabschiedet, obgleich er in beiden Ländern auch Widerspruch wegen eines vermeintlichen Ausverkaufs nationaler Interessen hervorrief. In Deutschland opponierten Politiker der Vertriebenenverbände gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und die Ausklammerung von Entschädigungen für verlorenes Eigentum. In Polen empörten sich rechte Abgeordnete über die Ausklammerung der Frage deutscher Kriegsreparationen und die angebliche Privilegierung der deutschen Minderheit in Polen im Vergleich zu den hunderttausenden Polen, die in Deutschland leben.

Kein Vertrag gilt ewig. Die einen sind schon vor ihrer Unterzeichnung nur ein Fetzen Papier, weil eine der Seiten von Anfang an in ihm lediglich eine Finte sieht. Andere jedoch bleiben - trotz Kritik - über viele Jahrhunderte gültig. So war es mit der polnisch-litauischen Union, die im 14. Jahrhundert geschlossen und im 16. vertieft wurde und die mental noch 100 Jahre nach der formalen Abschaffung der polnisch-litauischen "res publica" im Jahre 1795 fortbestand. Erst der Nationalismus des 19. Jahrhundert trennte Polen und Litauer unwiderruflich.

Der deutsch-polnische Vertrag von 1991 war aber kein Fetzen Papier, und sein Geist könnte sich als langlebig erweisen, auch wenn eines seiner Hauptziele - Polen in die euroatlantischen Strukturen zu integrieren - mit Polens Beitritt zur Nato im Jahr 2000 und der Erweiterung der EU um die ostmitteleuropäischen Staaten 2004 erreicht wurde. Und ausgerechnet zu der Zeit kam in Polen zunehmend eine konservativ-nationale Formation zu Wort, deren Ideologen offen die von Skubiszewski formulierte "Interessengemeinschaft" aufzukündigen und durch eine "Streitgemeinschaft" zu ersetzen begannen. Sie hatten sich in Carl Schmitts politische Theologie "verguckt" und strichen nun erneut die Interessenunterschiede heraus, gemäß einem Primat des Paradigmas der Konfrontation über das der Kooperation. Eine ähnliche "Renationalisierung" des Denkens schien sich auch in Deutschland breit zu machen. Die rot-grüne Regierung begann die "deutschen Interessen" stärker zu betonen und gleichzeitig forderten einstmalige Linksintellektuelle - wie Martin Walser - die Deutschen auf, sie sollten sich weniger für den Zweiten Weltkrieg auf die Brust schlagen und den deutschen Opfern des Krieges mehr Beachtung schenken.

Auch in den 1990er-Jahren war es bisweilen schon zu deutsch-polnischen Missstimmungen gekommen, etwa 1995, als Bundeskanzler Kohl zum 50. Jahrestag des Kriegsendes Vertreter der Siegermächte nach Berlin einlud - darunter das Staatsoberhaupt Frankreichs, dessen Beitrag zur Niederwerfung des Dritten Reichs nicht gerade überwältigend war, nicht aber das Polens, das sich als erstes einem bewaffneten Überfall der Wehrmacht widersetzt hatte. Doch erst in der neuen Dekade bewirkte der Streit über die Geschichtspolitik eine deutliche Abkühlung des Klimas im deutsch-polnischen Verhältnis. In der Öffentlichkeit schoben sich seit 2003 der Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen, um Entschädigungen und Kriegsreparationen in den Vordergrund und konkurrierten mit anderen zwischen Polen und Deutschland strittigen Themen: der deutsch-russischen Zusammenarbeit und ostentativ demonstrierten Freundschaft über Polen hinweg, mit der deutsch-polnischen Dissonanz wegen der unterschiedlichen Optionen beider Länder im Irak-Krieg und in der Zeit des EU-Beitritts Polens schließlich mit der Akzentuierung des eigenen wirtschaftlichen Egoismus durch beide Seiten.

Wurde also die "Interessengemeinschaft" zehn Jahre nach Vertragsabschluss tatsächlich von einer "Streitgemeinschaft" abgelöst?

Auch wenn diese These im polnischen Wahlkampf, der sich von 2003 bis 2005 hinzog, ständig wiederholt wurde, trifft sie nicht zu. Ebensowenig stichhaltig war es, Gerhard Schröder zum schwarzen Schaf der deutsch-polnischen Beziehungen zu machen. Schließlich hatte sich der sozialdemokratische Kanzler endlich der Entschädigungsfrage für die Zwangsarbeiter des Dritten Reichs angenommen. Darüber hinaus hatte er 2000 in Nizza trotz französischer Widerstände eine für Polen günstige Stimmengewichtung im Europäischen Rat unterstützt, 2004 die juristische Haltlosigkeit von Ansprüchen deutscher Vertriebener bekräftigt und sich im Herbst 2004 auf nachdrückliche Bitten des polnischen Präsidenten hin für die orangene Revolution in der Ukraine eingesetzt.

Ungeachtet dessen, wie sehr die Frage der Ostsee-Pipeline und die Übernahme des Aufsichtsratsvorsitzes in einem von Gasprom dominierten Unternehmen Gerhard Schröder in Polen diskreditierten, haben sogar die Dissonanzen der vergangenen Jahre gezeigt, dass trotz merklicher Interessengegensätze in Einzelfragen die übergeordnete deutsch-polnische Gemeinschaft, wie sie im Vertrag von 1991 festgeschrieben wurde, die Streitprobe bestanden hat.

Bei genauerer Analyse zeigt sich im Übrigen, dass diese Streitigkeiten eher die Atmosphäre als die Substanz betreffen. Schließlich vertraten im Streit um das Zentrum beispielsweise die Präsidenten beider Staaten - Aleksander Kwasniewski und Johannes Rau - eine ähnliche Position und initiierten gemeinsam das so genannte "Netzwerk Erinnerung und Solidarität", in dessen Rahmen auch der Aussiedlung der Deutschen gedacht werden soll. Und die Bonner Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" wurde auch von den polnischen Medien gut besprochen.

Wenn man die deutsch-polnischen Spannungen der vergangenen Jahre unter Berücksichtigung des Wahlkampfs in beiden Ländern betrachtet, dann zeigt sich, dass ihre Substanz weitaus geringer ist als es ihr mediales Echo vermuten ließ. Was nicht heißt, dass es keine Probleme gibt. Es gibt sie, aber sie sind hauptsächlich mentaler, psychologischer und geschichtsphilosophischer Natur, belegen aber keinen grundsätzlichen Interessengegensatz.

Ein Problem auf polnischer Seite ist die Tatsache, dass im September 2005 eine politische Formation an die Macht kam, die das in den vergangenen 15 Jahren Erreichte, darunter auch die polnische Deutschlandpolitik, weitgehend in Frage stellt. In dieser Formation gibt es Gegner nicht nur des Vertrags von 1991, sondern vor allem auch seiner Konstrukteure. Diese Formation knüpft an zwei politische Vorkriegsströmungen an, die zwar im polnischen historischen Bewusstsein stark sind, aber kaum zur heutigen Situation Polens in Europa passen, nämlich an Roman Dmowskis Nationaldemokratie und an Józef Pilsudskis "sanacja". Die Nationaldemokraten waren heftig antideutsch und xenophob, was nach dem Krieg die Kommunisten übernahmen. Pilsudski dagegen befürwortete eine Äquidistanz zu den Nachbarn. Beide Lager waren autoritär und misstrauten der Bürgergesellschaft.

Die Formation, die Polen heute regiert, verfügt nicht über besondere administrative Erfahrung, sie ist also ideologisch stark und reaktiviert Traumata und Komplexe, die in der Vergangenheit nicht selten von Hurrapatriotismus verdeckt wurden. Dennoch bewirken gerade die strategische und stabile deutsch-polnische Interessengemeinschaft sowie der Geist des Vertrags von 1991, dass vor allem intensive deutsch-polnische Begegnungen auch diese Formation europäisch entkrampfen können. Ein Beleg dafür war die Überraschung des neuen polnischen Präsidenten Lech Kaczynski, der im Wahlkampf kein Hehl aus seiner Abneigung gegen Deutschland gemacht hatte, über die Atmosphäre während seines ersten Besuchs in Berlin und seine Erklärung, dass nach einer Erledigung der Frage der Ostsee-Pipeline die gegenseitigen Beziehungen "aufblühen" würden. Ein weiterer Beleg war auch der herzliche Empfang für den deutschen Papst als Nachfolger des polnischen Papstes in Polen.

Im Übrigen weisen sämtliche Meinungsumfragen in Polen auf wachsende Sympathien für Deutschland und die Deutschen hin. Die westlichen Nachbarn befinden sich in der Spitzengruppe als bevorzugte wirtschaftliche, politische und sogar militärische Partner, wobei die Polen aus verständlichen Gründen auf den beiden letztgenannten Gebieten auch die Amerikaner auf ihrer Seite haben möchten. Die Tatsache, dass deutsche Umfragen eine weitaus größere Zurückhaltung der Deutschen gegenüber den Polen als umgekehrt ergeben, deutet darauf hin, dass der Geist des Jahres 1991 sich vielleicht noch ausgeglichener verteilen könnte.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.