Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
Susanne Güsten

Städte am Meer: Istanbul - An der Meerenge

Hoch über Dächern, Kirchtürmen und Minaretten findet Istanbul zu sich selbst. In den obersten Geschossen der Hochhäuser, auf Dachterrassen und in gläsernen Lofts liegen die trendigsten Restaurants, Bars und Nachtclubs. Von hier aus überblickt man ein gutes Stück des Bosporus, der das Marmara-Meer mit dem Schwarzen Meer verbindet und Istanbul in zwei Hälften zerteilt - eine in Asien, die andere in Europa. Zu Füßen liegt die Bucht des Goldenen Horns, das Altstadt und Neustadt voneinander abgrenzt. Im Süden geht die Aussicht weit über das Marmara- Meer, das Bindeglied zu den Dardanellen, zur Ägäis und zum Mittelmeer. Wer es sich leisten kann, der trinkt hier oben seinen Aperitif. Alle anderen - und das sind zehn bis zwölf Millionen Menschen - begnügen sich mit dem Meerblick, der von den Brücken, Balkons und steilen Gassen der Stadt aus überall umsonst zu haben ist.

"Istanbul bezieht seine Kraft aus dem Bosporus", behauptet der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk in seinem jüngsten Buch, "Istanbul: Stadterinnerungen". "Der Bosporus singt von Leben, Vergnügen und Glück", heißt es in einer Passage, während an anderer Stelle vom "Tod, Unglück und Verderben" die Rede ist, das der Bosporus über die Stadt bringt. Auf den Bosporus ist die Stadt schon immer fixiert gewesen. "Der Bosporus ist der eigentliche Schöpfer von Byzanz, wichtiger als Byzas selbst", schrieb der Historiker Petrus Gyllius im 16. Jahrhundert. Byzas, das war der griechische Gründer der Stadt, dem das Orakel von Delphi im Jahr 667 vor Christus den Weg an den Bosporus wies.

Alles, was am Bosporus liegt, ist heute Teil von Istanbul. Ob es die antike Hafenstadt Chrysopolis ist, das Heilbad Therapia oder das Fischerdorf Sariyer, sie sind alle längst in der größten Stadt Europas aufgegangen. Anders als jene Städte, die am Rhein oder am Potomac, am Mittelmeer oder an der Ostsee liegen, füllt Istanbul sein Synonym "am Bosporus" voll aus. Auch wenn die Einwohner der Stadt selbst heute gar nicht mehr vom "Bosporus" sprechen, was griechisch ist und "Rinderfurt" bedeutet - nach der Sage von Io, der Geliebten von Zeus, die als weiße Kuh über die Meerenge sprang, um der eifersüchtigen Hera zu entkommen. Auf Türkisch heißt die Meerenge einfach "Bogaz" - was nichts anderes bedeutet als "Meerenge".

Als Bosporus wie als Bogaz hat die 35 Kilomter lange Meerenge immer die Geschicke der Stadt bestimmt. Durch ihre Kontrolle wurde Byzanz mächtig; mit den Zöllen und Gebühren, die es von durchfahrenden Schiffen erheben konnte, wurde die Stadt reich. Diese Lage war es auch, die Kaiser Konstantin I. im Jahr 330 bewog, die Hauptstadt des Römischen Reiches hierher zu verlegen. Auf drei Seiten von Wasser umgeben, galt die Stadt als praktisch uneinnehmbar.

Vom Wasser kam dennoch der Untergang. Beim Vormarsch auf Konstantinopel bauten die Osmanen im 15. Jahrhundert Festungen auf beide Ufer des Bosporus, beschossen anfahrende Schiffe und schnitten der Stadt die Getreideimporte aus Russland ab. Später zogen sie ihre Kriegsschiffe nachts über einen Hügel, setzten sie ins Goldene Horn und segelten den Verteidigern in den Rücken, um die Stadt einzunehmen. Doch auch für sie selbst kam das Ende später vom Meer: Mit zwei Kriegsschiffen, die 1914 im Bosporus einliefen, bewegte das Deutsche Reich die Osmanen zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg. Als der Krieg vorbei war, gab es das Osmanische Reich nicht mehr.

Heute fürchtet sich die Stadt vor allem vor einem Tankerunglück. Auf dem Bosporus fahren jährlich 50.000 Schiffe durch die Metropole, fast 10.000 davon Tankschiffe, die Erdöl und Erdgas von den Schwarzmeerhäfen zu den westlichen Märkten bringen. Alteingessenene erinnern sich an Schiffskollisionen, bei denen das Meer drei Wochen lang brannte. Bisher griffen die Flammen nie auf das Ufer über, aber die große Katastrophe ist wohl nur eine Frage der Zeit - zumal es kein leichteres Ziel für einen Terroranschlag geben dürfte als einen Tanker voller Flüssiggas, der gemächlich unter einer Bosporusbrücke durchfährt. Ein paar Monate lang begleiteten nach dem 11. September Motorboote voller türkischer Anti-Terror-Soldaten die Tanker auf ihrer Fahrt durch den Bosporus, seither muss sich die Stadt wieder auf die Hoffnung verlassen. Viel mehr ist nicht zu machen, denn Istanbul kontrolliert den Bosporus nicht mehr. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches verloren die Türken die Hoheit über die Meerenge. Seit dem 1936 abgeschlossenen Vertrag von Montreux haben sie immerhin militärisch wieder das Sagen dort; für die Handelsschiffahrt bleibt der Bosporus aber bis heute internationales Gewässer.

Außer der Durchfahrt durch den Bosporus macht auch der Verkehr über die Meerenge den Einwohnern der Stadt auf zwei Kontinenten immer mehr Probleme. Die beiden Brücken über den Bos-porus werden täglich von 330.000 Autos überfahren, weitere 170.000 Menschen setzen jeden Tag mit Fähren über die Meerenge. Ereignet sich morgens zur Stoßzeit auf einer Brücke ein Verkehrsunfall, liegen ganze Wirtschaftszweige einen halben Tag lang lahm. Ein Baggerschiff gräbt jetzt vor dem Goldenen Horn an einem Tunnel, der unter dem Bosporus durch führen soll, eine dritte Brücke ist auch schon in Planung.

Orhan Pamuk hat schon recht: Nicht nur Glück und Leben hat die Lage der Stadt gebracht, auch reichlich Unglück und Verderben. Während abends in den Fischrestaurants entlang des Bosporus die Gläser gehoben werden, stehlen sich hoch über ihnen die Selbstmörder auf die Brücken. Es sind jährlich Hunderte.

Die Autorin lebt in Istanbul und berichtet als freie Korresponentin aus der Türkei.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.