Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
Karl-Otto Sattler

Urlaub am faszienierenden Element

Tourismus zwischen Strandkörben und schwimmenden Clubhotels

Man schrieb das Jahr 1882, als in Warnemünde die Neuheit des Strandkorbs erfunden wurde. 123 Jahre später kreierte Westerland auf Sylt einen weltweiten Quantensprung beim Badeurlaub: Seit 2005 können Touristen auf der Nordseeinsel Strandkörbe online buchen. Auch ansonsten mangelt es nicht an Superlativen. Die Regatten in der Kieler Förde sind ein internationales Spektakel ersten Ranges. Zur Seglerparade Hanse Sail pflegen immer im August an die 250 Schiffe nach Warnemünde zu schippern, am Kai bestaunt von einer Million Zuschauern. Das schleswig-holsteinische Ostseebad Laboe wirbt mit der "ältesten und größten Regatta für klassische Yachten", von denen alljährlich über 200 auf dem Wasser kurven. Als Deutschlands "größte Badewanne" und als "größten Buddelkasten der Republik" preist der Landes-Touristenverband die 1.700 Kilometer Küstenkilometer Mecklenburg-Vorpommers mit 18.000 Liegeplätzen für Boote an.

Richtig glücklich ist die Reederin des Kreuzfahrtschiffs "MS Deutschland", Gisa Deilmann: Einen ungeahnten Aufschwung" erlebe dieser Sektor, "dieser Trend macht die Unternehmen für Investoren interessant". Michael Thamm, Chef von "AIDA Cruises", dem Branchenprimus in der Bundesrepublik: "Der Kreuzfahrtmarkt ist in den vergangenen Jahren mit zehn Prozent pro Jahr gewachsen und damit weit stärker als der Tourismus insgesamt." Das Rostocker Unternehmen mit 2.400 Mitarbeitern aus 25 Nationen und jährlich 230.000 Passagieren wolle deshalb seine "Flotte von jetzt vier Clubschiffen auf sieben erweitern": Die drei neuen Kähne sollen 2007, 2008 und 2009 in Papenburg vom Stapel laufen. Warnemünde ist übrigens der größte deutsche Kreuzfahrthafen: Dieses Jahr rechnet man mit über 100 der schwimmenden Hotels, die dort auf ihren Hochseetouren ankern.

Es ist einiges los an und auf dem Meer, auch in Deutschland. "Seit jeher übt das Wasser eine geheimnisvolle Anziehungskraft aus", das Meer sei ein "faszinierendes Element", sagt Horst Klüber, Manager beim Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern. Am Strand oder auf dem Wasser breitet sich ein Gefühl von Freiheit und Naturverbundenheit aus, obwohl doch die Wellen meist eher gleichförmig vor sich hin schwappen. So manchen Zeitgenossen packt das Fernweh, es locken die Weite des Meers und exotische Häfen. Segler, mit ihrem Boot hart am Wind, und wagemutige Surfer suchen die Herausforderung. Aber auch für viele Sommerfrischler ist der Strand einfach etwas anderes als ein Binnensee oder ein noch so adrettes Schwimmbad: Der ferne Horizont, die Sandburgen der Kids, der Schaulauf der sexy Bikini-Girls, das Nacktbaden, das Wattwandern - es wiederholt sich beim Urlaub Tag für Tag, aber es wird nie langweilig. Und wo ist die Sonne schöner als am Meer? Umweht abends eine frische salzige Brise das Gesicht, schmecken Fisch und Weißwein erst richtig.

So heißt es nicht von ungefähr in einer Analyse des Fremdenverkehrsverbands Mecklenburg-Vorpommern: "Besonders der maritime Tourismus ist seit 1989 zu einer neuen, bedeutsamen Wirtschaftsbranche geworden". Von den 2005 in Schleswig-Holstein registrierten über 20 Millionen Übernachtungen entfallen rund 70 Prozent auf den Fremdenverkehr an Nord- und Ostsee. Jedoch hat das Meer hierzulande bei weitem nicht jenen ökonomischen Stellenwert wie etwa in Spanien, Italien oder Kroatien. In der Bundesrepublik dürften Küsten und Inseln etwa zehn Prozent zur Wertschöpfung im Tourismus beitragen. Diesen Schluss lässt ein Blick auf verschiedene Daten zu.

So meldet das Statistische Bundesamt für 2005 in der Bundesrepublik insgesamt 344 Millionen Übernachtungen im Fremdenverkehr, von denen knapp 39 Millionen und damit rund elf Prozent auf die Seebäder entfallen. Nach den Berechnungen des niedersächsischen Servicezentrums Tourismus Nordseeküste belaufen sich die Ausgaben der Tagesgäste in diesem Gebiet jährlich auf etwa 520 Millionen Euro, das sind rund sieben Prozent aller Umsätze dieses Personenkreises in dem Bundesland. In Mecklenburg-Vorpommern steuert der maritime Fremdenverkehr laut Manager Klüber mit einem Jahresumsatz von 160 Millionen Euro - erwirtschaftet von 1400 Unternehmen mit etwa 6.000 Mitarbeitern - zehn Prozent zur touristischen Wertschöpfung des Bundeslands bei.

Freilich dürften Umsätze und Beschäftigtenzahlen in den Küstenregionen höher liegen: Die diversen Erhebungen erfassen nur einen Teil dieser Branche. So ermittelt das Statistische Bundesamt seine Daten lediglich bei Beherbergungsbetrieben mit mindestens neun Betten sowie bei Campingplätzen. Das "Tourismusbarometer" des Sparkassenverbands Schleswig-Holstein vermerkt, dass das Übernachtungsaufkommen bei privaten Zimmervermietern, bei Bekannten und Verwandten von Urlaubern sowie in Ferienwohnsitzen höher ist als das in gewerblichen Betrieben.

Die Lebenserfahrung spricht dafür, dass das Meer seine Anziehungskraft wohl kaum verlieren wird. Bei den Deutschen wird der Bekanntheitsgrad von Nord- und Ostsee sowie der Insel Rügen als Ferienregion nur noch von Hamburg und dem Schwarzwald knapp übertroffen. Baden, Sonnen und der Genuss maritimen Flairs zählen zu den wichtigsten Motiven für eine Reise nach Mecklenburg-Vorpommern, so eine Gästebefragung des dortigen Tourismusverbands.

Gerade der Strandurlaub hat eine lange Tradition. Schon vor zwei Jahrhunderten ging es an der Ostseeküste los mit Faulenzen im Sand, mit Planschen im Wasser, mit Tauchen, mit Angeln, mit Muschelsuchen und Wanderungen im Meereswind. Um 1820 begann sich mit den ersten Gästen, die häufig aus Berlin kamen, Warnemünde zum Seebad zu entwickeln; heute zählt die Region zu den weltweit renommiertesten Seglerparadiesen. Seit jener Pionierphase firmiert die Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns als "Badewanne Berlins". Einst hießen Urlauber in Warnemünde einfach "die Berliners". Vom Massentourismus der Moderne konnte damals noch keine Rede sein. Gleichwohl war die Abkühlung am Meer nicht nur ein Privileg der Reichen: Auch das gemeine Volk konnte sich hin und wieder einen Ausflug zum Strand gönnen. Natürlich haftete lange Zeit so manchen Seebädern das Flair des Mondänen an. Auch jetzt finden sich hie und da noch solche Orte, ein Jetset-Image hat etwa Heiligendamm.

Als erstaunliches Phänomen darf der Aufschwung gelten, den Kreuzfahrten erleben. Angesichts von 38 Millionen deutschen Pauschalurlaubern sind die jährlich 600.000 Passagiere, die eine Hochseereise buchen, gewiss eine kleine Minderheit. Aber vor einem Jahrzehnt waren es nur 350.000. Schiffsfahrten nur so zum Vergnügen hatten früher den Ruf des Luxuriösen, des Edlen, der steifen Etikette, kurzum: Es war ein Vorrecht der High Society.

Den Mythos schlechthin schuf die "Titanic": Dort schwelgte vor dem Untergang die feudale Oberklasse in noblen Salons. Die schneeweiße Luxusjacht "Prinzessin Viktoria Luise" der Reederei Hapag fuhr Anfang des 20. Jahrhunderts als erstes Kreuzfahrtschiff überhaupt durch die Meere. In den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde bei Weltreisen auf dem Wasser viel teurer Kaviar verspeist. In den USA waren während der Prohibitions-Repressionszeit der 20er-Jahre Ausflüge in internationale Gewässer sehr beliebt: Dort konnte man sich an Bord auch bei Whisky und Bier amüsieren.

Für den Kreuzfahrtboom in jüngerer Zeit sind unschwer einige Gründe auszumachen. Nicht zu unterschätzen ist der Werbeeffekt durch die ZDF-Serie "Traumschiff". Reederin Deilmann: "Das Fernweh bei den Zuschauern ist jedenfalls geweckt." Touren durch die Ostsee, ins Nordmeer, ins Mittelmeer, zu den Kanaren oder in die Karibik kann sich mittlerweile wegen der erschwinglicheren Preise auch ein breiteres Publikum leisten.

Als erfolgreich entpuppte sich ein inzwischen auch von anderen Anbietern praktiziertes Konzept von "AIDA Cruises", nämlich Kreuzfahrt und Cluburlaub zu verbinden. Von "viel mehr Freiheiten an Bord" spricht Unternehmenschef Thamm, beispielsweise gebe es "keine Kleiderzwänge". Auf hoher See können Passagiere Tanz- und Sprachkurse absolvieren, Yogaübungen machen, sich Gesichtsmasken machen lassen, Seidenmalerei lernen, Bingo spielen und natürlich im Pool baden.

Von gravierendem umweltpolitischen Streit ist der Meerestourismus in Deutschland weithin verschont geblieben. Anders als etwa in Spanien wurden an den hiesigen Küsten keine Betonburgen hochgezogen. Zwar ist es Öko-Gruppen wie dem Bund für Umwelt und Naturschutz ein Dorn im Auge, wenn Besucher mit Autos gelegentlich bis in die Nähe von Strandbädern fahren können. Aber eigentlich markiert die Auseinandersetzung um die geplante Fehmarnbelt-Querung den einzigen Großkonflikt. Diese milliardenteure Superbrücke mit Autobahn und Eisenbahnlinie zwischen Puttgarden und dem dänischen Roedby soll dem vor allem wegen des Tourismus wachsenden Verkehrsaufkommen Rechnung tragen. Umweltverbände und Meeresbiologen lehnen das gigantische Projekt über die Meerenge ab: Der Vogelflug in diesem Durchzugsgebiet werde massiv beeinträchtigt, zudem werde auch die Meeresströmung negativ verändert. Überdies locke die Brücke noch mehr Autoverkehr an, was den Tourismus auf Fehmarn gefährde.

Öko-Organisationen sind inzwischen dazu übergegangen, vor Ort mit Behörden, Wassersportverbänden und der Fremdenverkehrsbranche Vereinbarungen zur Förderung eines umweltverträglichen Küstentourismus zu treffen. Solche Abkommen hat das Büro des World Wildlife Found in Stralsund für diverse sensible Zonen wie Schilfgebiete, Vogelschutzreservate, Steilküsten, Riffs und Flachwasserbereiche an der Ostseeküste und auf Rügen erreicht: Dabei wird festgelegt, wann und wie Angler, Paddler, Segler und Taucher diese Regionen nutzen dürfen. Zum maritimen Flair gehört auch eine intakte Natur, deren Reize ja besonders die Meeresurlauber genießen wollen.

Der Autor lebt und arbeitet als freier Journalist in Berlin.


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