Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 25 / 19.06.2006
Zora del Buono

Eine ganze Welt für sich - fast ohne uns

Der Mensch betreibt ein gefährliches Experiment mit dem Meer: Bislang lässt ihn die Evolution gewähren
Fangen wir ganz oben an. In erholsamer Höhe, irgendwo in den Alpen. Beginnen wir vielleicht in Sils-Maria, am besten in dem legendären Hotel Waldhaus, da wo schon Theodor W. Adorno, Thomas Mann und Theodor Heuss beim Nachmittagskonzert in ihren Teetassen gerührt haben, in tiefe Sessel gedrückt und mit gewichtigen Gedanken im Kopf. Schauen wir wie sie durch die Fenster der gediegenen Hotelhalle in die Berge: Wir sehen Lärchenwälder und Felswände, bestürzend klare Seen unter einem großen Himmel. Diese gewaltigen Felsformationen waren einst Meeresboden.

Was die Engadiner Gebirgslandschaft bildet, wurde durch Plattenverschiebungen zusammengestoßen, aufgefächert, in die Höhe geschoben. Wurde ist nicht ganz richtig - wird noch immer; die Alpen wachsen, das Mittelmeer verkleinert sich, es ist ein Überbleibsel jenes gewaltigen Ozeans, der einmal Tethys hieß und im Urkontinent Pangäa lag. Viel Leben entstand in der Tethys, unsere Vorfahren schwammen darin, schlängelten sich oder kauerten im Schlick; Vorfahren allerlei Couleur, mit Kiemen, Flossen, Augen und einem pumpenden Herzen.

Das Mittelmeer ist der klassische Ort der Sehnsucht. Allerdings noch nicht sehr lange. Eigentlich begann es mit den Engländern. Sie waren es, die sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts an den Gestaden des Mittelmeers niederließen, für mehrere Wochen, mit Bediensteten und viel Gepäck. Erste Hotels wurden gebaut, Grand Hotels für Menschen mit üppigen Vermögen und einem Bedürfnis nach dem Geruch des blühenden Südens. Strandpromenaden entstanden, Flanieren kam in Mode. Das Meer betrachten, gerne. Das Meer befahren, lieber nicht - die Überquerung des Ärmelkanals war schon schlimm genug.

Ein wenig in die Ferne schauen, das ist es, was die Menschen mögen, vielleicht kurz in die Tiefe tauchen, ein paar Meter nur, die Papageienfische bestaunen und die Korallenriffe. Wer sich hinaus begibt aufs offene Meer, verdrängt in der Regel lieber, wo er eigentlich ist. Wir nehmen die Meere als Fläche war, als blaue, riesige Fläche. Was unter uns geschieht, kümmert uns wenig. Und wen es interessiert, der studiert Ozeanografie. Der erfährt, wie es aussieht auf dem sich wandelnden Meeresboden, wie Berge sich türmen und Schluchten sich winden, wie glühende Magmaströme aus der Erdkruste quellen, wie sich Bakterien, Krabben und meterlange Würmer rund um die "Black Smokers" heften, jene Schlote in der Tiefe, denen glühend heißes Schwefelgemisch entströmt; der lernt vieles über Tiere, die selber leuchten, so wie der Anglerfisch, über blasse Kreaturen, die mit wehenden Flossen, schwebenden Taschentüchern gleich, durch die Meere ziehen.

Richtig vorstellen kann man es sich allerdings nur wenig. Dunkel ist es, viel zu dunkel. Die ersten 200 Meter gibt es Licht, Photosynthese und viele bekannte Lebewesen. Doch es geht noch weiter, gut dreieinhalb Kilometer ist das Meer im Durchschnitt tief, aber das ist noch nicht alles. Knapp 11.000 Meter misst die tiefste Stelle, der Marianengraben im Pazifik. Eine Welt ganz für sich. Eine Welt fast ganz ohne uns. Fünf Quadratkilometer Tiefseeboden hat die gesammelte Wissenschaft bislang untersucht, es wird geschätzt, dass rund zehn Prozent der Tierwelt entdeckt sind.

Hadal nennt sich die Schicht unterhalb von 6.000 Metern, abgeleitet von Hades, dem Totenreich der Griechen. Wer bei sonnigem Wetter auf einem Kreuzfahrtschiff die Ozeane befährt, denkt nicht an den Hades, vergisst das Reich in der Tiefe, nimmt nur die schillernde Oberfläche wahr, die wie ein Seidentuch gespannt zu sein scheint, und freut sich an den springenden Delfinen. Wenn sich die Wellen aber bäumen und der Himmel sich verdunkelt, dann wird das Meer zu dem, was es eigentlich ist: ein Kosmos für sich, ein gewaltiger Ort, der alles andere als für den heutigen Menschen geschaffen ist. Ein Hort der Angst, ein Symbol des Grauens, des inneren wie des äußeren; Sigmund Freud war sich dessen bewusst.

Herman Melville und Joseph Conrad konnten von den Gefahren der See berichten und schufen dabei noch Literatur. Wer James Cooks lapidare Logbücher liest, dem wird Angst und Bang, und wer sich mit den Biografien der karibischen Piratinnen des 17. Jahrhunderts beschäftigt, dem stockt vor lauter Respekt der Atem. Fischer haben noch heute den gefährlichsten Beruf der Welt. Romantisch ist daran nichts.

Womöglich ist das der Grund, weshalb die vielen Segeljachten, die an den Küsten dieser Welt vertäut sind, mehr liegen als fahren. In Deutschland wird ein privates Segelboot im Jahr durchschnittlich an zehn Tagen verwendet, geschlafen an Bord wird eine Nacht. Deutsche Segler träumen lieber als dass sie segeln. Denn auch sie wissen: unten lauert der Hadal, oben der Wind. Drum also: sehnsüchtig an der Uferpromenade stehen und auf den Horizont schauen. Oder sich Fantasiewelten erschaffen, Luxushotels, die dann "Atlantis" heißen und etwa auf den Bahamas Tiefseewelten imitieren, Tiere aus jenem Kosmos inklusive, Seegurken zum Beispiel. Kinder dürfen die Geschöpfe streicheln. Wenn es dem Getier, dessen Vorfahren schon Hunderte Millionen Jahre länger auf diesem Planeten weilen als die Vorfahren des Menschenkindes, dann zu viel werden könnte, lagern es fleißige Angestellte in einem Plastikbecken hinter den Kulissen zwischen. Zum Stressabbau, gewissermaßen.

Die andere Möglichkeit, sich dem Ozean zu nähern: Bauen mit Blick aufs Wasser. Kaum ein Unsinn ist so verbreitet wie dieser. Die Ränder der Kontinente sind heikel wie wenig andere Orte, permanent in Bewegung, dauernd bedroht abzubröckeln oder in Gefahr überflutet zu werden. Und doch wollen alle genau da hin. Es ist fast schon rührend zu sehen, wie die Menschen sich abmühen, das Meer zu zähmen und die Küsten zu schützen. Sie bauen Deiche und künstliche Lagunen, Schutzwände und Kanäle. Floridas Architekten werden den Kampf mit den Hurrikans aufnehmen. Das kreative Potenzial scheint unerschöpflich; schwimmende Städte, höhenverschiebbare Häuser, Flughäfen auf Pontons, alles, was denkbar ist, soll auch machbar werden.

Wenn ein Naturereignis die bewohnten Zellen zerstört, wird von einer Naturkatastrophe gesprochen. Die Natur kennt keine Katastrophen. Sie tut einfach. Und erholt sich wieder. Irgendwann. Bei Meteoriteneinschlägen und anschließender Verdunkelung mit Eiszeit kann das schon mal ein paar Millionen Jahre dauern. Auch Vulkanausbrüche können ernsthafte Folgen haben. Wenn die kanarische Insel La Palma dereinst zerbersten wird, hat das einen Tsunami zur Folge, der noch an der westlichen Seite des Atlantiks 50 Meter hohe Wellen aufwerfen wird. Sollte New York dann überhaupt noch existieren, hat es ein Problem.

In den Meeren schwimmen Tiere, die es seit Urzeiten gibt. Haie etwa ziehen seit mindestens 450 Millionen Jahren durch die Meere. Vom Nautilus ganz zu schweigen. Der Hai wird wohl der Gier der Menschen zum Opfer fallen. Seiner Flosse als Delikatesse beraubt, sinkt er langsam schwerverletzt zu Boden und erstickt. Dafür haben ein paar Liebhaber asiatischen Lifestyles eine Delikatesse zu sich genommen. Auch zermalmte Seepferdchen müssen nicht unbedingt sein, Erektionsstörungen hin oder her.

Der Mensch betreibt ein gefährliches Experiment. Die Evolution ließ bislang jene im Rad des Lebens mitspielen, die sich am besten den sich verändernden Bedingungen anpassen konnten. Vielleicht sind wir ja in der Lage, das eines Tages zu begreifen; es besteht die leise Hoffnung, dass sich unser Verstand noch entwickelt, mit sechs Millionen Jahren sind wir noch sehr jung - wenn man bedenkt, dass es die Dinosaurier auf immerhin 155 Millionen Jahre gebracht haben. So haben wir ja noch ein Weilchen Zeit zum Üben.

Spätestens in viereinhalb Milliarden Jahren wird alles ein Ende haben, dann nämlich stürzt die Erde in die Sonne. Bis dahin lassen sich noch eine Menge Tassen Tee in mondänen Berghotels trinken. Kluge Menschen wie Friedrich Nietzsche konnten angesichts der Engadiner Berge, die, wie wir ja wissen, Meeresboden waren, zu fulminanten Gedanken wie dem der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" gelangen. Vielleicht kommt auch noch anderes Substanzielles dabei heraus. Schauen wir mal.

Zora del Buono ist stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift "mare".


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