Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 26 / 26.06.2006
Karl-Otto Sattler

Von der Hoffnung auf Europa

Nüchterne Blicke auf den Streit um die EU-Mitgliedschaft der Türkei
An Zündstoff mangelt es der europäischen Politik wahrlich nicht. Die Verfassungskrise und der permanente Kampf ums liebe Geld liegen der EU schwer im Magen. Aber auch die Beitrittsgespräche mit der Türkei lassen die Wogen hochgehen, nicht zuletzt in der deutschen Innenpolitik. Der Konflikt um die Aufnahme dieses Staats zerklüftet die politische Debatte in hohem Maße ideologisch, im Clinch zwischen Befürwortern und Gegnern geht der differenzierte Blick auf Pro- und Contra-Argumente leicht verloren.

Um eine solche Versachlichung der Diskussion bemühen sich die zumeist aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich kommenden deutschen und türkischen Autoren des Sammelbandes "Europa und die Türkei". Es ist unverkennbar, dass das Buch im Kern mit einer Mitgliedschaft des Landes am Bosporus in der EU sympathisiert. Aber eine Werbeschrift in diesem Sinne ist es keineswegs: Die elf Beiträge erweisen sich als lohnende Lektüre für jene, die sich gründlicher mit dem komplizierten Thema auseinandersetzen wollen.

Es ist offen, ob die Türkei jemals Mitglied der Union wird, und wenn, wird dies frühestens in zehn, eher in 15 Jahren der Fall sein. Da verwundert die Leidenschaft schon, mit der über diese Frage gestritten wird. Aber es ist schon so: Ein moslemisches Land mit andersartigen Lebensstilen und kulturellen Traditionen, die nicht zur "europäischen Identität" passen wollen - da werden, was Wunder, instinktiv Widerstände geweckt. Von der Furcht vor einer Invasion türkischer Arbeitskräfte in eine von hoher Erwerbslosigkeit geplagte EU und von der Angst vor einer finanziellen Überforderung der Brüsseler Kassen ganz zu schweigen. Geografisch gehört das Land im Übrigen nur mit einem winzigen Zipfel zum alten Kontinent.

Ob demokratisch-rechtsstaatliche Defizite, ob wirtschaftliche Handicaps, ob kulturelle Unterschiede: Die Autoren leugnen diese und andere Probleme keineswegs, die einer Aufnahme der Türkei in die EU im Wege stehen. Aber die Grundthese des Buchs ist, dass gerade die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft die "Europäisierung" dieses Staats weiter vorantreiben wird - ein Argument, das auch für Kritiker eines Beitritts nicht so ohne weiteres zu entkräften ist.

Andrea Riemer erinnert daran, dass die Türkei seit der Republikgründung 1923 auf Europa hin orientiert ist und dass westliche Gesellschaften und Verfassungssysteme stets Vorbilder waren. Christian Rumpf kommt zu dem Schluss, dass die türkische Rechts- und Verfassungsordnung durchaus europäischen Standards entspricht. Etwas anders sieht es mit der politischen Wirklichkeit aus. Trotz mancher Reformen auf demokratisch-rechtsstaatlicher Ebene sieht Heidi Wedel denn auch noch Nachholbedarf, vor allem bei der Beachtung von Minderheitenrechten - weswegen die Autorin an Bürgerrechtsgruppen appelliert, am Bosporus weiterhin Druck zu machen.

Kritik an den deutschen Medien

Gürsel Gür kritisiert die deutschen Medien, die mit ihrer Konzentration auf Menschenrechtsverletzungen und den Kurdenkonflikt ein lückenhaftes Bild der Türkei vermittelten, was nicht ohne Auswirkungen auf den Annäherungsprozess zwischen dem Land und der EU bleiben könne.

Den Zusammenhang zwischen innerem Fortschritt und europäischer Integration beleuchtet Necip Bagoglu am Beispiel der Wirtschaft. Die Zollunion mit der EU und die Kooperation mit dem Internationalen Währungsfonds hätten bereits zu einer Öffnung der Märkte und zu einem ökonomischen Aufschwung geführt, der jedoch durch die Schattenwirtschaft und eine schwerfällige Bürokratie gebremst werde. Aber die Beitrittsperspektive, so Bagoglu, könne eben weitere Impulse für Reformen geben.

Den Finger auf eine Wunde europäischer Politik legen Faruk Sen und Mehmet Öcal. Im Rahmen der sicherheitspolitischen Strategie der EU im Konfliktdreieck Südosteuropas, des Nahen Ostens und des Kaukasus fungiert das NATO-Mitglied Türkei bereits heute als feste Größe. Eine stabilisierende Rolle in dieser fragilen Region, mahnen die Autoren, könne das Land freilich nur über eine feste Einbindung in die europäische Architektur spielen.

Man muss den dieses Buch durchwehenden Optimismus nicht unbedingt teilen, die gegen einen EU-Beitritt sprechenden Argumente lassen sich auch stärker gewichten. Es kann aber einen nützlichen Beitrag zur Versachlichung der vielfach emotional geführte Kontroverse leisten. Vielleicht erübrigen sich indes eines Tages solche differenzierten Analysen: dann nämlich, wenn am Bosporus sich verstärkende nationalistische, moslemisch-traditionalistische und von Europa abgewandte Tendenzen die Oberhand gewinnen sollten - wobei eine abweisende Haltung der EU gegenüber Ankara solchen Kräften natürlich Auftrieb gibt.

 

Siegfried Frech / Mehmet Öcal (Hg.): Europa und die Türkei. Wochenschau Verlag, Schwalbach 2006; 277 S., 16,80 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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