Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 26 / 26.06.2006
Claus Haffert, dpa

Kalkulierte Konflikte mit Berlin

Ein Jahr Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen

Ein Jahr nach seiner Wahl zum nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten hat Jürgen Rüttgers (CDU) noch längst nicht alle Wahlversprechen eingelöst. Die Jäger warten beispielsweise noch auf ihren Ertrag aus dem Machtwechsel in Düsseldorf. "Die Jagdsteuer ist am 22. Mai vergangenen Jahres abgewählt worden", sagt Jäger-Chef Jochen Borchert, ehemaliger Bundeslandwirtschaftsminister und CDU-MdB, und macht damit deutlich, welches Mitbringsel die Grünröcke erwarten, wenn Rüttgers als erster NRW-Regierungschef zu ihrem Jahrestreffen kommt. Bei den großen Themen sind Rüttgers und seine Regierung weniger zögerlich.

Pünktlich zum Jahrestag der Wahl von Rüttgers zum nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten setzte die schwarz-gelbe Koalition am 22. Juni im Landtag ihr bislang ambitioniertestes Reformprojekt durch - einen weit reichenden Umbau des Schulsystems. Unbeeindruckt von herber Kritik aus Lehrerverbänden und Teilen der Elternschaft haben CDU und FDP ganz überwiegend an dem festgehalten, was sie schon in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hatten. "Viele Leute wundern sich, dass wir tatsächlich das tun, was wir angekündigt haben", sagt Rüttgers immer wieder. Und dafür nimmt er auch Gegrummel an der eigenen Parteibasis in Kauf.

In der Bundespolitik setzt Rüttgers auf kalkulierte Konflikte mit den eigenen Parteifreunden in Berlin. Für Kritik an der Politik der Großen Koalition ist Düsseldorf oft eine erste Adresse, etwa beim Elterngeld oder dem Antidiskriminierungsrecht. Bei der Mehrwertsteuererhöhung hat NRW im Bundesrat sogar mit einem folgenlosen Nein gestimmt - obwohl Rüttgers sie bei den Koalitionsverhandlungen in Berlin mit abgesegnet hatte. Die Landes-SPD warf ihm darauf vor, er sei ein "gnadenloser Populist und grandioser Umfaller". Nicht die Sorge um die Konjunktur, sondern "Frust über die eigene Bedeutungslosigkeit in Berlin" sei der wahre Grund für das Rüttgers-Nein, mutmaßen die Genossen.

Rüttgers selbst erinnert in diesen Tagen gerne an den Sommer vor zwei Jahren. Damals hatte er als einer der ersten eine Generalrevision der Arbeitsmarktreformen Hartz IV gefordert. Er sei dafür, "furchtbar beschimpft worden - auch aus den eigenen Reihen". Heute sei diese Forderung Allgemeingut. Mit dem Nein zur Mehrwertsteuererhöhung sieht sich Rüttgers offensichtlich erneut als unerschrockener Vorreiter. Doch die höhere Mehrwertsteuer wird auch die nordrhein-westfälische Landeskasse füllen und Rüttgers eine Erfolgsmeldung bescheren. Denn dank der Zusatzeinnahmen kann sein Finanzminister Helmut Linssen (CDU) die Neuverschuldung deutlich stärker senken als geplant. Im kommenden Jahr will Linssen 4,5 Milliarden Euro an Krediten aufnehmen - fast 40 Prozent weniger als beim Regierungsantritt von Schwarz-Gelb. Die SPD lässt zwar vom Landesverfassungsgericht überprüfen, ob Linssen damals die Kreditaufnahme künstlich aufgebläht hat - ein Urteil wird aber wohl erst in eineinhalb Jahren fallen, wenn längst andere Themen die Diskussion beherrschen.


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