Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 26 / 26.06.2006
Alexander Weinlein

Aufgekehrt

Nein, nein, nein. Das kann nicht gut sein. Überall hängen sie. Überall flattern sie. Fahnen, Fahnen, noch mehr Fahnen. Auch noch die eigene - in Schwarz-Rot-Gold. Das geht nicht. Das muss gefährlich sein, kann gar nicht anders sein.

Jetzt singen sie! Und wie laut. Schmettern sogar die richtige Strophe, textsicher. Unglaublich, die lernen ansonsten doch auch nichts in der Schule. Da sind bestimmt Drogen im Spiel. Überhaupt - dieser ganze Patriotismus. Das geht ja gar nicht. Der hat doch bestimmt Nebenwirkungen. Würde ja gerne mal meinen Arzt oder Apotheker fragen. Wahrscheinlich kriege ich Herzrythmus-Störungen oder Pickel. Aber die sitzen ja schon wieder im Stadion oder jubeln auf der Fan-Meile. Wahrscheinlich haben sie sich geschminkt. Das ganze Gesicht in den Nationalfarben - gesund ist das bestimmt nicht. Wahrscheinlich belastet es auch die Umwelt. Kann die EU da nicht was machen? In Brüssel erlassen sie doch sonst für alles eine Richtlinie. Das könnte man doch auf ein Drittel des Gesichts begrenzen. Für Fans mit Migrationshintergrund oder Doppelpass wegen mir auch auf zwei Drittel. Wegen der Integration. Ich sag nur: Neukölln.

Penetrant diese gute Stimmung. Hat mal einer an die Folgen gedacht? Hab's gerade gelesen: Die ausländischen Fußballfans fühlen sich alle sicher und wohl in Deutschland. Am Ende wollen die noch hier bleiben. Deswegen findet der Gysi das wahrscheinlich auch so gut. Weil das so "unverkrampft" sei, hat er gesagt.

Und dann die Nationalmannschaft: Jetzt gewinnt die auch noch ständig. Oder hat sie am Wochenende doch verloren? Egal! Wenn ich schon diesen Alles-wird-gut-Klinsmann sehe - als hätte die ZDF-Ruge nicht schon ausgereicht. Ist doch bekannt, dass Optimismus ansteckend ist; eine Krankheit eben. Dabei hat's die Kanzlerin doch letzte Woche noch betont: Deutschland ist ein Sanierungsfall. Schulden, nichts als Schulden. Hört denn keiner mehr zu? Nee, hängen ja wieder alle vor irgendeinem Großbildschirm. Überall rotten sich Tausende vor den blöden Dingern zusammen. Haben die alle nichts zu tun? Wahrscheinlich nicht, kein Wunder bei der Arbeitslosenquote.

Ich mach mir echt Sorgen um unser Land. Wird Zeit, dass das Gekicke ein Ende hat. Ich will endlich wieder ungestört jammern. Wir sind hier doch schließlich in Deutschland.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.