Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 37 / 11.09.2006
Klaus Bachmann

Wenn Mentalitäten aufeinanderprallen

Deutsch-polnische Verständnislosigkeit
Zwischen Berlin und Warschau kriselt es. Seit die Zwillingsbrüder Lech und Jaroslaw Kaczynski die zwei mächtigsten Staatsämter in Polen bekleiden, scheinen die atmosphärischen Störungen nicht mehr aufhören zu wollen. Dabei beruhen manche Missstimmungen auf einem unterschiedlichen Verständnis von politischer Kultur in beiden Ländern.

Bundespräsident Horst Köhler kritisiert beim "Tag der Heimat" die Projekte der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach - doch Polens Premierminister Jaroslaw Kaczynski ist empört, dass Köhler überhaupt vor Vertriebenen gesprochen hat: "Ein neues, besorgniserweckendes Phänomen." Polens Präsident Lech Kaczynski sagt ein Treffen des Weimarer Dreiecks ab, weil er sich von einer missglückten Satire der "tageszeitung" (taz) beleidigt fühlt. Und Polens Außenministerin verlangt eine Stellungnahme der deutschen Regierung zu dem Artikel der taz.

Viele, selbst Außenpolitiker und Diplomaten, sprechen von einer deutsch-polnischen Krise. Doch Krisen sind Chancen - man kann sie überwinden, einen neuen Anfang machen, Reformen in Angriff nehmen, die ohne Krisenstimmung nicht durchsetzbar wären. Zwischen Warschau und Berlin herrschte dagegen in den vergangenen Jahren einfach ein sich ständig vertiefendes Unverständnis, das auf die gesellschaftliche Ebene aber kaum durchschlägt. Untersuchungen des Warschauer "Instituts für Öffentliche Angelegenheiten" zeigen, dass die Distanz der polnischen Bevölkerung zu Deutschen nach dem EU-Beitritt Polens abgenommen hat. Fast drei Viertel der Befragten sind für Zusammenarbeit und gegen Konfrontation, obwohl auf der politischen Ebene eher das Gegenteil stattfindet.

Trotzdem wäre es ein Fehler, die Konflikte zwischen Warschau und Berlin allein auf polnische Neurosen oder darauf zu schieben, dass Polens - für westeuropäische Verhältnisse etwas exotische - Regierungsparteien außenpolitische Sündenböcke und Feindbilder brauchen. Wenn die Kaczynski-Zwillinge von einer Bedrohung durch Deutschland sprechen, glauben sie, was sie sagen. Die politischen Kräfte, die bei den jüngsten Wahlen an die Macht gekommen sind, haben so gut wie keine außenpolitische Erfahrung, dafür aber das starke Gefühl, durch die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre benachteiligt worden zu sein. Sie sehen Politik als Nullsummenspiel, das von Intrigen beherrscht wird und in dem man sich ständig vor Bedrohungen von außen verteidigen muss.

Hinzu kommt, dass Polen seit einigen Jahren eine starke Individualisierung und einen ähnlichen Wertewandel durchmacht wie Westeuropa in den 70er-Jahren: Forciert durch die Wirtschaftsreformen der frühen 90er-Jahre, den EU-Beitritt und die Globalisierung treten nun besonders bei den Jüngeren traditionelle Werte wie Nation, Familie, Fleiß und Bereitschaft zur Unterordnung in den Hintergrund, neue Werte werden populär wie Emanzipation, Selbstverwirklichung, Kritikfähigkeit, Offenheit und das Denken in individualistischen Kategorien. Polens Regierungsparteien stellen die Gegenreaktion gegen diese Trends dar, sie propagieren einen traditionellen, ethnischen Patriotismus, patriarchalische Vorstellungen, obrigkeitsstaatliches Denken in Freund-Feind-Kategorien. Zugleich sind sie aber zutiefst beseelt vom Wunsch nach Zugehörigkeit sowohl zur intellektuellen Elite ihres Landes, als auch zum politischen Establishment Europas.

So kommt es, dass beispielsweise die Kaczynski-Brüder einen Anti-Intellektuellen Wahlkampf geführt haben, obwohl sie beide Doktortitel haben und Universitätsdozenten waren und somit durchaus in Anspruch nehmen könnten, selbst Intellektuelle zu sein. So kommt es, dass sie den Europäischen Verfassungsvertrag ablehnen, sich in nationaler Rhetorik üben, aber zugleich empört sind, wenn sie im Ausland als Euroskeptiker hingestellt werden. So erklärt sich auch die überzogene Reaktion auf die taz-Satire: Ihr Autor wertete die Kaczynski-Zwillinge intellektuell ab und traf dabei genau auf jenen Punkt, der bei beiden die Quelle ihrer größten Selbstzweifel ist.

Auch wenn das derzeitige Denken der Regierungspolitiker in Warschau nur beschränkt repräsentativ ist für die gesellschaftlichen Trends im Lande, so sprechen sie doch in einigen Punkten Themen auf eine Art an, die selbst für ihre Kritiker überzeugend ist - etwa mit ihrer Behauptung, Deutschland interpretiere seine Vergangenheit um, um sich von einer Täternation in eine Opfernation zu verwandeln.

Wer in nationalen Kategorien denkt - und das tun in Polen wesentlich mehr Menschen als in Deutschland - für den müssen viele deutsche Debattenbeiträge klingen wie ein Versuch der Deutschen, sich aus der (nationalen) Vergangenheit für das Dritte Reich hinauszustehlen: Der plötzliche Schulterschluss von linken und rechten Intellektuellen um Erika Steinbachs "Zentrum gegen Vertreibungen", die Debatte über die Opfer der alliierten Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs und die Zerstörung Dresdens. Auch die Tatsache, dass Erika Steinbach und ihr Projekt zwei Drittel aller Deutschen überhaupt nicht bekannt sind (wie jüngste Umfragen des ISP zeigten) gilt nun in Polen weit über Regierungskreise hinaus nicht als Beweis für "polnische Hysterie", sondern als Beweis dafür, dass Polen von Deutschland ignoriert wird. Beides ist aus polnischer Sicht auch für Deutschland wichtig, eben weil es in Polen solch heftige Reaktionen auslöst.

So gesehen genügt es nicht, dass deutsche Politiker Steinbach und ihre Äußerungen bagatellisieren, ignorieren oder als marginal abtun. So etwas gilt in Polen als Beweis heimlicher Sympathie, solange sie sich nicht öffentlich und deutlich von jeder ihrer Äußerungen distanzieren. Dahinter verbirgt sich auch eine in der Bundesrepublik fast unbekannte Sehnsucht von Bürgern und Politikern nach symbolischer Politik: Politiker müssen nicht nur konkrete Probleme lösen, sondern im Namen des Volkes möglichst klare Worte sprechen. Deshalb genügt es nicht, wenn Bundespräsident Köhler auf dem "Tag der Heimat" das "Zentrum gegen Vertreibungen" gar nicht erwähnt und statt dessen ein anderes Projekt lobt, sondern er hat - aus polnischer Sicht - entweder die Einladung zum "Tag der Heimat" auszuschlagen oder Steinbachs Projekt dort öffentlich zu kritisieren. So würde sich jedenfalls ein polnischer Politiker in der innenpolitischen Auseinandersetzung verhalten.

In Polen ist Politik nicht die Kunst des Möglichen, sondern die Pflicht, ständig moralisches Zeugnis abzulegen, was Politik verständlicher für die Bürger macht, zugleich aber auch die ständige Gefahr von Heuchelei mit sich bringt. Dieser Graben zwischen deutscher und polnischer politischer Kultur lässt sich kurzfristig und mit einfachen Gesten kaum überbrücken - eben darum wäre es falsch, von einer Krise zu sprechen, die einfach durch geschicktes kurzfristiges Krisenmanagement beigelegt werden könnte.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2006.