Das Parlament
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 37 / 11.09.2006
Volker Müller

Oskar Schindler aus Konstanz

Ein Roman über eine Spurensuche in der NS-Zeit

September 1941. Der jüdische Pianist Helmut Spiegler und seine 23-jährige Frau Eva aus Köln warten auf dem Bahnhof in Konstanz auf die Weiterfahrt in die Schweiz. Nur noch wenige Tage, dann müssen alle Juden in Deutschland den gelben Stern tragen. Die Spieglers sind nicht allein. Die Grenzstadt am Bodensee ist voller Verzweifelter, die sich ins neutrale Nachbarland retten wollen. Doch die Eidgenossen sind stur, lassen keine Juden mehr herein. Durch Zufall erfährt Eva Spiegler, dass ein Mann hilft, wenn sonst nichts mehr hilft: Gero von Nohlen in der Friedrichstraße 8.

Das ist die Ausgangssituation in Marc Buhls drittem Roman "Das Billardzimmer". Der 39-jährige Freiburger schildert darin nicht nur das Schicksal der Spieg-lers in Konstanz in den Jahren bis Kriegsende, sondern auch die Entdeckung dieses Schicksals durch Gero von Nohlens Enkel, der den gleichen Namen trägt und sich als freiberuflicher Lokaljournalist durchs Leben schlägt. Nohlen soll eine Würdigung seines Großvaters für die Festschrift einer Konstanzer Privatbank schreiben und stößt bei seinen Recherchen darauf, dass sein Großvater das jüdische Ehepaar während des Krieges im Billardzimmer seines Hauses versteckt hatte. Nicht nur das: Der alte von Nohlen hatte gleichzeitig mit den Nazis kooperiert, er ist durch den günstigen Kauf von Häusern ausgewanderter Juden ein reicher Immobilienspekulant geworden. Nach dem Krieg war er ein hoch geachteter Bürger, ein Baum in der Allee der Gerechten in Yad Vashem trägt seinen Namen.

Von Nohlen junior will mehr wissen: Was ist aus den Spieglers geworden? Er gibt "Eva Spiegler" bei Google ein und stößt auf deren Enkelin in Phoenix, USA. Als er aber auch das Schicksal Helmut Spieglers in Erfahrung bringt, ist der Großvater für ihn kein Held mehr.

Buhl schreibt lebendig und lässt keine Längen aufkommen. Das Buch ist dramaturgisch gut durchkomponiert, auch John Grisham kann es nicht besser. Störend wirkt die zum Teil klischeehafte Darstellung der Figuren: Der Protagonist ist ein Konstanzer Oskar Schindler. Seine beiden Enkel verkörpern das Gegensatzpaar Lebenskünstler und Karrierist. Helmut Spiegler ist ein introvertierter, sensibler Künstler.

Der stärkste Eindruck, den der Roman hinterlässt, sind seine Bilder. Etwa als Eva aus dem Billardzimmer ausbricht und zur Fasnachtszeit in einem Wirtshaus-keller auf maskierte Narren trifft, die zu verbotener amerikanischer Swingmusik tanzen. Oder als der alte Nohlen in den letzten Tagen vor der französischen Besetzung vor Zeugen mit der Pistole auf den Gauleiter Wagner anlegt.

"Das Billardzimmer" eignet sich für die Verfilmung, und man könnte es dem Autor nicht verübeln, wenn er das Drehbuch beim Schreiben gleich mitbedacht hat. Johannes Mario Simmel hat vor 30, 40 Jahren mit großem Erfolg unterhaltsame Bücher über schwere Themen geschrieben. Für dieses Buch hätte er sicherlich doppelt so viele Seiten gebraucht. "Das Billardzimmer" ist ein unterhaltsames Buch über ein schweres Thema, geschrieben für die Leser der E-Mail-Generation. Vielleicht ist Marc Buhl der Simmel für unsere Zeit.

 

Marc Buhl: Das Billardzimmer. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt a. Main 2006; 320 S., 19,90 Euro.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
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