Rede der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Anke Fuchs zur Preisverleihung "Frauen Europas Deutschland 2001" an Philomena Franz in der Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt
Es gilt das gesprochene
Wort:
"Nach einem Fernsehinterview im Jahre 1985 mit der
diesjährigen Preisträgerin Philomena Franz erreichte die
Redaktion folgende empörte und gleichzeitig empörende
Zuschrift:
"...Zum Sonntagmittag, zur besten Sendezeit, einer Zeit, da der
arbeitende deutsche Mensch sich auch geistig-seelisch erholen
möchte, bietet das lizensierte ZDF uns eine "gepflegte
Zigeunerin", geschminkt, das KZ (wie so viele, die heute zu Worte
kommen) quicklebendig überlebt habend, Märchen
erzählend!...Wer befreit uns bloß von diesem
Lügengespinst!..."
Heute - 16 Jahre später - steigt die Anzahl der Gewalttaten
dramatisch an, die aus Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass
begangen werden. Es gibt sie also immer noch, die Menschen, die
nichts, aber auch wirklich nichts aus der Geschichte gelernt haben
und nicht einmal zu lernen bereit sind. Und solange es sie gibt,
ist die Gefahr eines Rückfalls nicht gebannt.
Welch' ein Unterschied, wenn eine Überlebende, ein Opfer der
deutschen Nationalsozialisten ihr Wirken so beschreibt: "Ich
möchte nicht anklagen, ich möchte erinnern".
Wer ihr autobiographisches Buch "Zwischen Liebe und Hass - Ein
Zigeunerleben" liest, taucht ein in das Leben der Sinti Philomena
Franz - in die Höhen und Abgründe, von der
Unbeschwertheit des musikalisch talentierten Kindes bis hin zum
dramatischen Überlebenskampf zwischen Auschwitz, Birkenau und
Ravensbrück. Die Bilder des vierspännigen Zigeunerwagens,
der fröhlichen Feste, der Naturverbundenheit der Sinti auf der
einen Seite, die einen Einblick in ihre Lebensfreude vermitteln,
und die Beschreibung der Deportation, des unvorstellbaren
Leidensweges einer Sinti-Familie unter einem menschenverachtenden
Regime, in dessen Augen nur die sog. Herrenrasse zählte, auf
der anderen Seite. Gegensätzlicher, dramatischer, ja
unbegreiflicher kann ein Leben kaum verlaufen.
Sinti und Roma galten nach dem absurden Weltbild der
Nationalsozialisten als rassisch minderwertige "asoziale" und
"kriminelle" Zigeuner. Mit dem Vorsatz, diese europäische
Minderheit vollständig zu vernichten, wurden sie systematisch
und familienweise erfasst und deportiert. Hunderttausende von ihnen
sind zwangssterilisiert oder in Konzentrationslagern ermordet
worden - in Auschwitz-Birkenau ebenso wie in Treblinka, Majdanek,
Sachsenhausen, Ravensbrück, Buchenwald, Bergen-Belsen, Dachau,
Mauthausen und an weiteren Orten.
Die leidvolle Geschichte der Sinti und Roma begann allerdings schon
weitaus früher. Vorurteile gegen "Zigeuner" waren leider schon
immer ein bedrückendes Phänomen in der europäischen
Geschichte und bestehen auch heute noch.
Als der Freiburger Reichstag im 15. Jahrhundert die bis dahin in
die mittelalterliche Gesellschaft integrierte Minderheit als
angebliche Spione der Türken für vogelfrei erklärte,
entstand jenes Bild, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst
zum eisernen Klischee der "wilden Zigeunerrasse" erstarrt war.
Selbst bedeutende Dichter und Denker machten nicht halt davor,
dieses Klischee in ihren Werken zu verwenden oder gar zu
schüren. Durch verschiedene Epochen hinweg begegnen wir in der
hohen wie in der trivialen Literatur den Stereotypen der
hässlichen, alten Wahrsagerin und Kupplerin, des
kräftigen Räuberhauptmanns mit schwarzem Schnurrbart oder
der jungen, verführerischen Tänzerin mit verheissungsvoll
blickenden Augen.
In den "Zigeunermythen" des späten Mittelalters, bei Luther
wie in den Sammlungen der romantischen Literatur werden die
"fahrenden Zigeuner" als Bettler, Diebe und Betrüger
verurteilt, dämonisiert und kriminalisiert. Diese eben auch
durch die Kunst manifestierten Vorurteile gehören zur
Vorgeschichte des von den Nationalsozialisten programmierten
Völkermordes an den Zigeunern, den Sinti und Roma.
Und auch heute noch - wage ich zu behaupten - wissen wir viel zu
wenig über Sinti und Roma und ersetzen Kenntnis durch
Vorurteile. Was kennen wir wirklich vom "anderen" Leben dieser
Volksgruppe?
Philomena Franz hat sich Austausch und das gegenseitige
Verständnis zur Aufgabe gemacht. Sie sind Gegenstand ihrer
Bücher und Gedichte. Aber das reicht ihr nicht. Sie geht in
die Schulen, Volkshochschulen, Universitäten,
Jugendeinrichtungen und Gemeinden, trägt aus ihren Werken vor,
berichtet über ihre Erfahrungen, diskutiert mit den Menschen
und setzt sich mit deren Erfahrungen, Klischees, Vorurteilen,
herablassender Toleranz und ihrem guten Willen zur
Verständigung - den gibt es sicher auch - auseinander.
Sie pflegt damit eine Kultur des Erinnerns, die 50 Jahre nach
Kriegsende eine neue Dimension erreicht. Wir stehen vor einem
Generationenwechsel: Die Generationen, die selbst noch den
Nationalsozialismus erlebt haben oder deren Eltern noch unmittelbar
darüber berichten konnten, treten zurück. Für die
jungen liegt dieser Abschnitt der deutschen und europäischen
Geschichte so weit zurück, dass sie keine persönlichen
Bezüge dazu mehr haben. Die Schrecken des Nationalsozialismus
sind kein sinnlich erfahrener Hintergrund, kein unmittelbares
Motiv, Freiheit, Menschenwürde und Toleranz zu behaupten. Im
Gegenteil: Die jungen Menschen von heute halten ihre Freiheiten und
Rechte schon für selbstverständlich, was ja im Grunde ein
gutes Zeichen ist. Gerade deshalb müssen wir ihnen die
Erfahrungen der Vergangenheit vermitteln. Freiheit und
Menschenwürde sind prekäre Güter, sehr
schutzbedürftig; sie erhalten sich nicht von selbst, sondern
müssen "gelebt", genutzt, immer wieder neu gestiftet
werden.
Die Menschenwürde und die Menschenrechte sind heute in
Deutschland noch nicht gefährdet. Könnte man das nicht
mehr gelassen feststellen, wäre es allerdings zu spät.
Deshalb müssen wir uns mit moralischer Beliebigkeit, mit
modischer Indifferenz und offenbarer Verantwortungslosigkeit
gegenüber wachsender Ausländerfeindlichkeit,
rechtsextremer Gewalt und Antisemitismus auseinandersetzen.
Über Ausschreitungen rechtsextremer Gewalttäter bis hin
zu Mordtaten ist die Empörung - wenn auch nicht immer die
Hilfsbereitschaft und der Mut, die Polizei zu rufen - noch
allgemein. Kaum jemand billigt Gewalt, egal aus welchem Motiv sie
geübt wird. Anders verhält es sich schon bei
offensichtlich rechtsextremen und ausländerfeindlichen Reden
und Provokationen, die unterhalb der Gewaltschwelle bleiben. Das
aber bedeutet, dass Ausländerfeindlichkeit bis in die Mitte
der Gesellschaft hineinreicht oder: dass die Gewalt bloß die
Spitze des Eisberges ist. Dagegen müssen wir uns - um der
Zivilisation willen wie auch im Interesse der Opfer, der
Diskriminierten - wappnen und sensibilisieren. Die Erinnerung an
die Verbrechen des Nationalsozialismus hilft dabei ebenso wie die
Information über den Reichtum, den wir anderen Kulturen
erdanken.
Seit 1975 engagiert sich Philomena Franz für Versöhnung
und gegen Rassismus. Sie hat es geschafft, ihre Alpträume
umzuwandeln. Nicht Hass, Rache und Verbitterung sind ihre Antworten
auf die entsetzliche Vergangenheit, sondern Verzeihung, Toleranz
und Liebe. Vor dem Hintergrund ihrer Biografie ist das keine
Selbstverständlichkeit, sondern eine Besonderheit, die Respekt
und Bewunderung hervorruft. Und die preiswürdig ist.
Der Europarat hat mit der 1998 in Kraft getretenen Rahmenkonvention
zum Schutz nationaler Minderheiten das erste rechtsverbindliche
Vertragswerk auf diesem Gebiet geschaffen, ebenso wie mit der
Charta der Regional- und Minderheitssprachen. Mit der Ratifizierung
hat Deutschland auch die in unserem Land seit Jahrhunderten
beheimateten Sinti und Roma als nationale Minderheit
anerkannt.
Das sind wichtige politische Vertragswerke. Allerdings geben sie
noch keine Garantie für das friedliche Zusammenleben.
Offenheit für andere Mentalitäten und Lebensweisen,
Bereitschaft zu kulturellem Austausch, Einübung von
friedlichen Lösungen kulturell bedingter Probleme und
Konflikte und die Bereitschaft, aus Unterschieden entstehende
Spannung auszuhalten, sind nötig, können aber nicht
politisch verordnet werden.
Die Europäische Integration und die Globalisierung
schüren die Diskussion um Minderheiten, um den Umgang mit
Fremden und Fremdem. Das scheint paradox, denn wir sind auf das
selbstverständliche Zusammenleben geradezu angewiesen. Aber es
ist noch ein weiter Weg, von einer tradierten Abgrenzung, ja vom
Gegeneinander zum Miteinander, zur Aufnahme fremder Einflüsse,
in die eigene Kultur und Tradition zu gelangen. Dabei ist
Deutschland darin durchaus geübt. In den glücklicheren
Zeiten unserer Entwicklung haben wir Einflüsse aus allen
Himmelsrichtungen aufgegriffen und unserer eigenen Kultur
anverwandt und einverleibt. Deswegen finde ich die Hoffnung nicht
unberechtigt, dass wir unsere Kultur gelassener und selbstbewusster
gestalten, ohne uns ständig von Anderem und Anderen
abzugrenzen.
Aber wann ist eine Gesellschaft bereit, möglichst viel
Verschiedenes, möglichst viel Verschiedenheit zu leben und
auszuhalten?
Was sind die Bindekräfte einer Gesellschaft, die - schon um
der eigenen ökonomisch-sozialen Vitalität willen - der
Zuwanderung bedarf, die also mit mehr ethnischen, religiösen,
kulturellen Differenzen wird rechnen und leben müssen?
In einigen Punkten gibt es einen Konsens: Wir erwarten die
Beherrschung der deutschen Sprache, den Respekt vor Recht und
Gesetz und die Anerkennung unserer Verfassung und der in ihr
kodifizierten Grundwerte unserer Gesellschaft, der Menschenrechte
und Bürgerpflichten in einem demokratischen Staat. Es
wäre fatal, diesen normativen Konsens nun zu ethnisieren. Es
wäre der Rückschritt in den Grundfehler des deutschen
Sonderweges, den die europäischen Juden, die Sinti und Roma,
den unsere Nachbarn und den wir Deutsche selber im 20. Jahrhundert
blutig bezahlt haben.
Es ist gut, dass zur inhaltlichen Füllung des Wortes
"Leitkultur" niemandem etwas anderes einfällt, als das, was
auch z.B. deutschen Verfassungspatriotismus ausmacht. Nichts davon
ist eigentlich deutsch. Alles ist westlich, nur dass Deutschland
viel länger gebraucht hat, sich diese westlichen
Grundüberzeugungen anzueignen.
Zur Zeit laufen wir Gefahr, eine Kultur- und Identitätsdebatte
zu führen, die mit Ängsten, Ausgrenzung und Abwehr
spekuliert, statt auf die Geschichte und Tradition der kulturellen
Integration aufzubaut.
Diese Ausgrenzungsmechanismen tauchen auch in den Diskussionen um
die europäische Integration auf. Da wird spekuliert, was uns
die Ost-Erweiterung bringt - rein wirtschaftlich. Es werden
Ängste geschürt mit der Vorstellung von offenen Grenzen.
Und manch einer stellt sich die Frage, ob die Europäische
Union in ihrer bisherigen Dimension nicht so bleiben sollte.
Subventionen und wirtschaftliche EU-Programme machen weder aus
einem Ostdeutschen, noch aus einem Norweger, Polen oder Letten
einen Europäer. Wer nichts aus seinen Traditionen einbringt
oder einbringen darf, fühlt sich nicht dazugehörig. Und
wer diese Traditionen nicht zuläßt, der hat nichts von
einer europäischen Werte- und Kulturgemeinschaft
verstanden.
Kulturelle Integration braucht Interesse, Verständnis, Wissen
und Offenheit um fremde Kulturen. Das ist um so schwieriger, wenn
seit Jahrhunderten tradierte Vorurteile bestehen.
Die diesjährige Preisträgerin, Philomena Franz, geht
einen sehr persönlichen Weg gegen diese Vorurteile, für
Toleranz, Versöhnung und Verständigung. Sie erzählt
von ihren Erfahrungen, nicht um anzuklagen, sondern um
wachzurütteln. Sie liest aus dem Märchenschatz der Sinti,
damit ihre Zuhörer Fremdes kennen- und verstehen lernen.
Nirgendwo wird das Leid und der Lebensmut, die Kultur ihres Volkes
so greifbar und begreifbar wie in diesen Geschichten. Und in
Märchen werden schicksalhafte Festlegungen umkehrbar; das Gute
siegt meistens, aber nicht von selbst, sondern nur dann, wenn darum
gekämpft wird.
Erinnern um der Zukunft willen, Verstehen um der Gefahren willen,
Aufklären um des Verständnisses anderer Kulturen willen,
Kämpfen um des friedlichen Miteinanders willen - all das macht
das Engagement der diesjährigen Preisträgerin aus.
Wir haben großen Respekt vor dieser Überzeugung und
danken Ihnen, sehr verehrte Frau Franz für Ihre Arbeit."