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Michael Hereth
Träumerei an Tübinger Kaminen
Ottfried Höffe formuliert eine politische
Ethik der Globalisierung
Otfried Höffes Buch über politische
Ethik will das Handeln und Unterlassen der Bewohner unserer Erde
mit den Kriterien philosophischer Nachdenklichkeit untersuchen und
beurteilen. Das Buch und seine Reflexionen durcheilen in rasantem
Tempo einen Großteil der Schwierigkeiten und Konflikte, die
das Leben der Menschen auf unserem Planeten beherrschen. Die
Fülle des Materials macht es wegen der gebotenen Kürze
vollkommen unmöglich, auf all die Probleme, die Höffe in
seinem Blitzdurchgang erledigt, so einzugehen, wie es der Autor
verdiente. Die Rezension beschränkt sich deshalb auf wenige
kritische Bemerkungen und Hinweise, die vornehmlich einige immer
wieder intonierte Grundthemen und ein durchgehend beobachtbares
Manko des Buches aufgreifen.
In einem ersten Abschnitt werden Arbeit, das
Ethos des Unternehmers und soziale Gerechtigkeit behandelt. Ein
weiteres Unterkapitel fragt nach einer gerechten Entlohnung
wirtschaftlichen Handelns. Der Abschnitt "Staatsbürger"
behandelt Fragen der Bürgerbeteiligung in politischen
Gesellschaften, der Toleranz, der Ehre, der Werte für ein
demokratisches Bildungswesen sowie Fragen des Bürger- und
Gemeinsinns.
Im dritten Abschnitt "Weltbürger" werden
Probleme der internationalen Ordnung, des Zusammenlebens der
verschiedenen Zivilisationen, der Rechtfertigung von Kriegen, der
Entwicklungspolitik und der Umweltpolitik zum Gegenstand des
Nachdenkens gemacht. Am Ende plädiert Höffe für die
Geisteswissenschaften als einem weltumfassenden Bemühen, die
Welt der Menschen zu verstehen und sie zu einem friedlichen
Zusammenleben zu befähigen.
Wie schon vor ihm Hans Jonas, den er
eigenartigerweise nicht erwähnt, sieht Höffe ein
ethisches Grundproblem der Moderne in der Verantwortung
gegenüber künftigen Generationen. Was beide vornehmlich
für die Umweltpolitik betonen, ist die Verantwortlichkeit der
heute Lebenden für die Erhaltung der Lebensbedingungen auf
dieser Erde. Höffe weitet diese Dimension der Ethik - die
Suche nach dem rechten Maß der Ressourcen-Nutzung, die nicht
die Lebenschancen künftiger Generationen ruiniert - auf andere
Bereiche aus. Mehrmals betont er, dass Bildungsaufgaben und
Investitionen gegenüber anderen öffentlichen Ausgaben
Vorrang haben müssen: "Dass der konsumptive Anteil (am
Bruttoinlandsprodukt) mit den immer noch wachsenden Staatsschulden
auf dem Wege ist, jegliche Investition zu erdrosseln, ist eine
krasse Ungerechtigkeit gegen künftige
Generationen."
Ideal der Demokratie
Diese Betonung der zu recht geforderten
Rücksicht auf die Nachgeborenen steht in eigenartigem
Gegensatz zum Glauben des Autors an die Leistungsfähigkeit des
"Ideals der Demokratie", die ja doch tatsächlich eine
Veranstaltung der stimmberechtigten Vollbürger zum eigenen
Nutzen ist. Das demokratische Element freier Gesellschaften will
Höffe durch plebiszitäre Elemente noch verstärken.
Die repräsentative Demokratie genüge nicht; eine
Verknüpfung mit der direkten Demokratie helfe "dem Ideal der
Demokratie, einer realen Herrschaft des Volkes, näher zu
kommen".
Ob diese Mechanismen tatsächlich mehr
Rücksicht auf künftige Generationen bewirken, diskutiert
Höffe nicht. Wenn er meint, Abgeordnete hätten "kein
Recht, gegen die Überzeugungen des von ihnen vertretenen
Volkes zu entscheiden", gibt es allerdings gar keinen Gegensatz
zwischen repräsentativer und direkter oder plebiszitärer
Demokratie. Dies ist natürlich falsch; Adenauer war nicht im
Unrecht, als er in den 50er-Jahren gegen die Meinungsmehrheit der
Deutschen die Aufstellung militärischer Verbände
durchsetzte; und Schröder muss, zusammen mit Merkel und
Stoiber, Sozialausgaben auch gegen Mehrheitsmeinungen kürzen,
wenn er erhöhte Bildungsausgaben finanzierbar machen
will.
Eine gewisse Naivität
Höffes Bemerkungen über
Parteiendemokratie und Sachkompetenz zeugen insgesamt von einer
gewissen Naivität, Modischkeit oder Unkenntnis. Beim
Abwägen, ob beim Normalbürger oder beim Berufspolitiker
mehr Sachkompetenz vorherrsche, erklärt er: "Nun bringt aber
eine typische Parteikarriere nicht mit großer
Wahrscheinlichkeit die beim schlichten Bürger vermisste
Fachkompetenz zustande." Das ist richtig und doch irrig. Nicht die
Parteikarriere, sondern die Tätigkeit im Parlament berechtigt
Abgeordnete in den westlichen Demokratien zu Sachentscheidungen;
und es gibt wohl keine Untersuchung westlicher Parlamente, die
nicht feststellte, dass die schon nach einer kurzen
Parlamentskarriere erworbenen Sachkenntnisse der Volksvertreter
außerordentlich groß sind.
Die beim Schreiben über freiheitliche
Demokratien beobachtete Naivität Höffes findet der Leser
auch in den Bemerkungen und Beurteilungen der internationalen
Ordnung. Ein eigenartiges Konglomerat von Wünschenswertem und
einfach Postuliertem mischt sich mit vernünftig kritischen
Urteilen beispielsweise über den US-amerikanischen "Krieg
gegen den Terrorismus", der kein "Krieg" sei, oder über das
sichtbar werdende Hegemonialstreben der Nordamerikaner.
Einerseits kritisiert Höffe sehr
kenntnisreich den euro-atlantischen Zentrismus eines Teiles der
Geisteswissenschaftler; andererseits sieht der Tübinger
Philosophie-Professor nicht, dass die Trennung zwischen dem
religiösen Denken und dem weltlich-politischen Feld
menschlichen Handelns eine Besonderheit eben dieser
europäisch-atlantischen Zivilisation ist. Da nützt es
wenig, wenn er die Ablösung des Rechts vom Religiösen als
"normative Modernisierung" bezeichnet und es von der
Säkularisierung unterscheidet.
Diese Ablösung ist in der Tat in unserer
Zivilisation ein Ergebnis der geistigen Bewegung der
Säkularisierung. Andere Zivilisationen - wie der auch von
Höffe genannte Islam - sind diesen Weg nicht gegangen. Die in
unserem Kulturkreis lebenden Mohammedaner werden auch kaum, wie
Höffe meint, ihre Ursprungsländer im Sinne der
Säkularisierung missionieren. Der Glaube, durch
"interkulturelle Diskurse" könnten die vorherrschenden
Existenzinterpretationen und Lebensentwürfe ganzer Kulturen
verändert werden, ist unrealistisch.
Liebenswerter Optimismus
Diese letzte kritische Bemerkung führt
zu einem weiteren Einwand gegen den liebenswerten Optimismus des
Autors: Es ist unrealistisch, Politik und international Ordnung
zentral auf dem guten Willen der Beteiligten aufbauen zu wollen
oder diese auch nur nach diesem zu beurteilen. Diskurse beseitigen
nicht die Macht- und Habgier der Menschen; Demokratisierung ist
kein Allheilmittel gegen die Übel dieser Welt, und
außerdem: Unsere liberal-freiheitliche Ordnung basiert neben
dem Recht leider auch auf dem Gedanken, dass der besser
Organisierte und Effizientere sich auch durchsetzen
soll.
Weil dies so ist, ist die radikale und
charmante Forderung Höffes, die er gegen Ende seines Buches
formuliert, eine Träumerei: "In den Fallstricken des
Völkerrechts nicht verfangen, nimmt sich der Philosoph die
Freiheit zu einer Vermutung, auch wenn sie auf eine radikale
Forderung hinausläuft. Deren Legitimationsgrundlage ist aber
allgemein anerkannt: Nach dem Lebensrecht der Ureinwohner
einerseits, nach dem Selbstbestimmungsrecht andererseits wäre
es gerecht, wenn man die Amazonaswälder... von den in Frage
stehenden Staaten abtrennt, sie zu einem eigenen Gemeinwesen
erklärt und dieses... als territorial sakrosankt behandelt.
Nun weiß man ,,dass die Ureinwohner, sobald sie einmal mit der
?westlichen Kultur' in Berührung kommen, sich deren Sog nicht
entziehen können. Da deshalb zumindest ihre kulturelle
Identität zerstört wird, überlasse man das Land ohne
jedes Zugangsrecht für andere vollständig den hier
lebenden Stämmen."
Ich fürchte, mit diesen Bemerkungen wird
die Überschreitung der Grenzen politischer Ethik hin zum
Unrealistischen unübersehbar.
Ottfried Höffe
Wirtschaftsbürger, Staatsbürger,
Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der
Globalisierung.
Verlag C.H.Beck, München 2004; 309
S., 22,90 Euro
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