Enrico Syring
Leiden eines "Stereotyps"
Hanns-Martin Schleyer
Der "deutsche Herbst" des Jahres 1977 wird allen, die ihn noch
bewusst miterlebt haben, wohl immer im Gedächtnis bleiben. Es
waren hochdramatische Wochen. Die Kaperung der mit Urlaubern
besetzen Lufthansamaschine "Landshut", die Ermordung ihres
Flugkapitäns Jürgen Schuhmann, ihre gewaltsame Befreiung
sowie die Entführung und schließliche Ermordung des
damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer
markieren die bis dahin tiefste Krise der Bundesrepublik. Kein
Wunder, dass sich auch die Medien des Themas in vielfältiger
Weise angenommen haben; erinnert sei nur an den erschütternden
Dokumentarspielfilm "Das Todesspiel".
Genau in diesem vergleichsweise großen Medieninteresse
liegt einer der Anknüpfungspunkte des Dortmunder
Journalistikwissenschaftlers, Publizisten und Zeithistorikers Lutz
Hachmeister. Zu Recht betont er, die Person wie die
Lebensgeschichte Hanns-Martin Schleyers bleibe in all diesen
Produktionen blass und eindimensional. Schleyers gesamte Biografie
werde nur noch auf seinen gewaltsamen Tod reduziert. Über
alles, was in den mehr als sechs Jahrzehnten vor diesem Mord liege,
seien noch immer die wildesten Gerüchte im Umlauf.
Hanns Martin Schleyer wurde am 1. Mai 1915 als Sohn eines
Richters in Offenburg geboren. Seine Vorfahren waren Theologen,
Juristen und vor allem Lehrer. Im Frühjahr 1933 legte er in
Rastatt das Abitur ab. Schon in den Jahren davor war er einer
ortsansässigen Schülerverbindung beigetreten und bereits
im März 1931 schloss sich der damals 15-jährige der
Hitlerjugend an. Offenbar haben ihn die von den Nationalsozialisten
propagierten Ideen einer patriarchalisch geführten
"Volksgemeinschaft" angesprochen. Und wie es scheint, blieb
Schleyer bis zu seiner Ermordung - privat und beruflich - zutiefst
von ihnen durchdrungen und geprägt.
Im Wintersemester 1933/34 nahm er ein freilich weitgehend wohl
nur auf dem Papier stattfindendes Jurastudium in Heidelberg auf.
Neben seiner schlagenden Verbindung verbrachte er seine Zeit vor
allem damit, als NS-Studentenführer die
"nationalsozialistische Hochschulrevolution" zu betreiben. Seinen
Mitstreitern aus dieser Zeit hielt er zeitlebens die Treue.
Zudem unterhielt die SS, zumal der SD, besonders guten Kontakt
zur Heidelberger Dozenten- und Studentenschaft. Schleyer war
bereits im Frühsommer 1933, also noch vor Aufnahme seines
Studiums, der SS beigetreten. Er stieg innerhalb dieses schwarzen
Ordens in den Folgejahren bis zum Untersturmführer (=
Leutnant) auf. Doch ob beziehungsweise inwieweit er dem SD
Zuträgerdienste geleistet hat, lässt Hachmeister offen.
Jedenfalls aber wechselte Schleyer im Mai 1938 an die
Universität Innsbruck, um als Leiter des dortigen
NS-Studentenwerks zu wirken.
Nach nur kurzer Zugehörigkeit zu den Gebirgsjägern der
Wehrmacht landete Schleyer während der Kriegsjahre
schließlich beim "Zentralverband der Industrie für
Böhmen und Mähren" in Prag. Zwar trifft es zu, dass
dieser Verband unter anderem auch die "Arisierung" der
tschechischen Industrie betrieb, doch das seit den 60er-Jahren
hartnäckig kursierende Gerücht, Schleyer sei in Prag
gleichsam die rechte Hand Reinhard Heydrichs zumindest in
wirtschaftlichen Dingen gewesen, kann Hachmeister stichhaltig
widerlegen.
Nach 1945 kam Schleyer über Querkontakte aus dieser Zeit zu
Daimler Benz, steig dort in den Vorstand auf, scheiterte bei dem
Versuch, innerhalb dieses Unternehmens ganz an die Spitze zu
gelangen und konzentrierte sich seither auf die ihn sichtlich
überfordernde Führung von BDA und BDI in
Personalunion.
Hachmeister zeichnet in seiner nach Auffassung des Rezensenten
oft allzu weit ausufernden Biografie das Bild eines persönlich
eher unscheinbaren, aber sympathischen "Strippenziehers", dessen
Aufstieg sich innerhalb eines weiten Netzwerkes von Kontakten und
Freundschaften vollzog. Auch der schiere Zufall spielte dabei eine
nicht zu unterschätzende Rolle.
Schleyer war im heraufziehenden Medienzeitalter ein
Anachronismus. Seine Erscheinung wurde in den 60er- und 70er-Jahren
geradezu als Idealverkörperung des dickfälligen
Lobbyisten und brutalen Kapitalisten wahrgenommen. Hachmeister ist
zuzustimmen: Die RAF hatte sich mit der Entführung Schleyers
eines "Stereotyps bemächtigt, nicht einer realen Person", was
dessen gleichsam "stellvertretende" Ermordung nur noch
unerträglicher macht.
Lutz Hachmeister
Schleyer. Eine deutsche Geschichte.
Verlag C. H. Beck, München 2004; 447 S., 24,90
Euro
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