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Thilo Castner
Grenzüberschreitung
Der Moralist Salman Rushdie
Der Verfasser der "Satanischen Verse" ist nicht
nur ein begnadeter Romancier, sondern auch, wie dieser Sammelband
eindrucksvoll zeigt, ein gut informierter, kritischer Kommentator
des Weltgeschehens. 27 Essays und 38 Kolumnen, vorwiegend in
britischen und amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht,
belegen das umfangreiche und vielfältige literarische Werk
Salman Rushdies aus den Jahren von 1992 bis 2002.
In den Essays beschreibt Rushdie in einigen
Glossen auch scheinbar Nebensächliches: gesäuertes Brot,
die Straußenzucht, "Lokale, die Mama's heißen". Im
Vordergrund stehen aber natürlich ernste Themen wie
Reflexionen über den Tod von Prinzessin Diana oder der 80.
Geburtstag Arthur Millers, der sich vehement für die Aufhebung
der unter Khomeini gegen Rushdie verhängten Fatwa eingesetzt
hatte. Am bewegendsten ist Rushdies Schilderung seiner "glorreichen
Heimkehr" in die indische Heimat nach zehnjähriger Verbannung
- Indien war das erste Land, das die "Satanischen Verse" verboten
hatte.
Erschütternd seine Aufzeichnungen
"Botschaften aus den Jahren der Heimsuchung". 1988 der
Gotteslästerung und Ketzerei angeklagt, war auf seine
Tötung ein Kopfgeld von mehreren Millionen Dollar ausgesetzt,
und Rushdie wusste, dass ihm seine Mörder in
Großbritannien auf der Spur waren. Obwohl er anfangs fast
täglich die Unterkunft wechseln musste, jegliche
Öffentlichkeit zu meiden hatte und ständig von Polizei
und Geheimdienst umringt war, gab er den Kampf gegen das
Ajatollah-Regime nicht auf. Er veröffentlichte
Erklärungen, hielt Reden, nahm Kontakt zu liberalen
Parlamentariern und demokratischen Regierungen auf. Deutlich wird
in diesen Dokumenten, wer ihn unterstützte und wie die Fatwa
ihr Ende fand.
In den Kolumnen wird Rushdies Philosophie,
seine Einstellung zu zentralen Gegenwartsproblemen deutlich. Die
Brennpunkte der internationalen Politik, ob in Nordirland,
Pakistan, Amerika oder im Kosovo verfolgt er gebannt; er steht
immer auf der Seite der Unterdrückten, Verfolgten und
Rechtlosen. Er klärt auf, hinterfragt soziale Ungerechtigkeit,
unterbreitet Lösungsvorschläge. Seine Gegner sind stets
die "Sturmtruppen der Bigotterie und Heuchelei", christliche,
jüdische und islamistische Fundamentalisten,
Gewaltverherrlicher, patriotische Eiferer, Kriegstreiber und
Kriegsgewinnler.
Rushdie hält mit ätzender Kritik an
George W. Bush nicht zurück, warnt aber gleichzeitig
eindringlich vor pauschalem Antiamerikanismus. Er verurteilt jede
Form des Terrorismus und distanziert sich von einer Politik, die
den Terroristen mit gleicher Münze heimzuzahlen sucht. Sein
Überzeugung ist stets ein Plädoyer für
Meinungsfreiheit, für Freiheit der Kunst, für
Gleichberechtigung der Frau, für ein Miteinander der Kulturen,
für religiöse Toleranz und uneingeschränkte Wahrung
der Menschenrechte.
Rushdies Credo wird am deutlichsten im
Schlusskapitel "Überschreiten Sie diese Grenze!" Grenzen zu
übertreten heißt für ihn, auferlegter Unfreiheit zu
trotzen, innere Ängste zu überwinden, gegen Unrecht mutig
Widerstand zu leisten, Rassendiskriminierung zu verurteilen,
religiösem Fanatismus die Stirn zu bieten. Der
größte Feind der Menschheit seien die Verkünder
alter und neuer Unfreiheiten und Lügen. Nur wenn es gelinge,
sich den Unwahrheiten und Einflüsterungen falscher Propheten
zu entziehen, "die Freiheit zu mehren und die Ungerechtigkeit
einzudämmen", bestehe Aussicht, die "schrecklichen neuen
Waffen" des Terrorismus und Fanatismus zu neutralisieren. Der
Sammelband ist allen Lesern, die diesen großen Schriftsteller
und Moralisten genauer kennen lernen wollen, sehr zu empfehlen.
Darüber hinaus können einzelne Passagen
erfolgversprechend in der politischen Bildungsarbeit eingesetzt
werden, an Schulen wie in der Erwachsenenbildung.
Salman Rushdie
Überschreiten Sie diese
Grenze!
Schriften 1992 - 2002.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2004; 576 S.,
24,90 Euro.
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