|
|
Konrad Ege
Fragiler Boden der Demokratie
George W. Bushs Amerika im
Terrorismuskrieg
Abonnenten des Magazins "New Yorker" können sich alle paar
Wochen auf einen neuen Aufsatz des seit seiner Enthüllung des
My Lai Massakers in Vietnam legendären Journalisten Seymour
Hersh freuen. Wie kaum ein anderer Reporter hat Hersh seit dem 11.
September 2001 den "Krieg gegen den Terrorismus" unter die Lupe
genommen und seziert. Hersh war einer der ersten, der die
Folterbilder von Abu Ghraib an die Öffentlichkeit brachte und
nachwies, dass Abu-Ghraib keine "Verirrung" einiger weniger
Soldaten und Soldatinnen war, sondern ein "konzertierter Versuch
von Regierung und Militärführung, die Genfer Konvention
zu umgehen".
Hershs Aufsätze (nachzulesen auf Englisch bei
www.newyorker.com) über den neuartigen Krieg sind nun
ergänzt und vertieft als Buch erschienen. Es leidet allerdings
an der Krankheit aller in Buchform veröffentlichten
Artikelsammlungen, vor allem wenn der Verleger die Leser nicht
immer wissen lässt, wann die einzelnen Beiträge
ursprünglich erschienen sind. Es fehlt der Kontext; der Leser
weiss nicht, ob neue Erkenntnisse vor Jahren Verfasstes
überholt haben. Und wenn die Einzelaufsätze auch noch so
gut redigiert und "zusammengeklebt" sind: An den Schnittstellen
holpert es.
Trotz dieser "Recycling"-Probleme muss "Die Befehlskette" als
unerlässlicher Beitrag zur Diskussion über die
Ursprünge und den Weg der amerikanischen Außen- und
Militärpolitik im "Krieg gegen den Terrorismus" gelten. Durch
die Auswertung öffentlich zugänglicher Dokumente und an
Hand von Interviews mit kritischen, aber oft nicht namentlich
genanntenMilitärs und Geheimdienstlern zeichnet Hersh im
Detail einen außerordentlichen Werdegang nach, bei dem streng
ideologische Politiker über Krieg und Frieden entschieden
haben, beflügelt von ihrem Glauben und ohne Rücksicht auf
Tatsachen - etwa ob Saddam Hussein wirklich über
Massenvernichtungswaffen verfügte oder nicht. Kein Wunder,
dass besonders mittelrangige Militärs und Geheimdienstbeamte
entsetzt waren und anscheinend bei Hersh ausgepackt haben.
Die einzelnen Kapitel befassen sich mit dem Entscheidungsprozess
vor dem Irak-Krieg, dem Versagen der Geheimdienste vor dem 11.
September 2001, der Korruption in Saudi Arabien , der Schaffung
einer geheimen US-Spezialeinheit zum "außergerichtlichen"
weltweiten Aufgreifen mutmaßlicher islamischer Terroristen,
und der Tolerierung repressiver Warlords in Afghanistan. Immer
wieder kommt Hersh auf das zu sprechen, was ihn anscheinend
besonders empört: Hohe Regierungsvertreter missachteten
internationales und amerikanisches Recht, bewegten sich an
demokratischen Sicherheitsmechanismen vorbei und schafften sich
eine eigene Version der Realität.
Ganz ist Hersh offenbar nicht zufrieden mit seinen
Erklärungen für den Irak-Krieg, und dafür, wie
einige wenige Ideologen die "Befehlskette" vom Pentagon und dem
Weißen Haus hin nach Abu Ghraib spannen konnten. "Es gibt so
vieles an dieser Präsidentschaft, was wir nicht wissen... Wie
konnten sich acht oder neun neokonservative Ideologen, die in einem
Krieg gegen den Irak die Antwort auf den internationalen
Terrorismus sahen, auf der ganzen Linien durchsetzen? Wie gelang es
ihnen, die Bürokratie auszuspielen, die Presse
einzuschüchtern, den Kongress hinters Licht zu führen und
sich das Militär unterzuordnen?" Hersh bietet keine Antwort,
sondern stellt die Frage: "Ist unsere Demokratie wirklich so
fragil?"
Die Macht der Ideologen
Bleibt zu hoffen, dass Hersh in Zukunft diese Frage
gründlich untersucht. Hat sich die amerikanische
Gesellschaftsstruktur verschoben, so dass die Kriegstreiber viel
mehr repräsentieren als "acht oder neun neokonservative
Ideologen"? Seit Erscheinen des Buches ist George W. Bush
wiedergewählt worden. Und die Ideologen haben anscheinend noch
mehr Macht bekommen. Außenminister Powell ist weg. In der CIA
sind hochrangige Beamte zurückgetreten, die nicht mitspielen
wollten und sich dem Befehl des neuen Direktors widersetzten, alle
Analysten müssten die Maßnahmen der Regierung
unterstützen. Und der Präsident hat Alberto Gonzales, den
bisherigen Rechtsberater im Weißen Haus, zum Justizminister
nominiert.
Das ist der Gonzales, der laut Hersh ein Memorandum in Empfang
nahm, in dem der Begriff Folter neu definiert wird. "Bestimmte
Handlungen mögen grausam...sein, erzeugen jedoch nicht
Schmerzen oder Leiden in der erforderlichen Intensität, um
unter ein (rechtliches) Verbot der Folter zu fallen." Und weiter:
Als Folter gälten nur Schmerzen, die "in ihrer Intensität
vergleichbar (sind) mit Schmerzen, die durch eine schwere
Verletzung hervorgerufen werden, wie etwa Organversagen, die
Beeinträchtigung von Körperfunktionen oder auch der Tod".
Im Januar 2002 befand der Justizminister in spe, Gefangene im Krieg
gegen den Terrorismus müsssten nicht entsprechend der Genfer
Konvention behandelt werden. Konrad Ege
Seymour M. Hersh
Die Befehlskette: Vom 11. September bis Abu Ghraib.
Deutsch von Hans Freundl, Norbert Juraschitz, Reiner
Pfleiderer und Thomas Pfeiffer.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2004; 399 S., 14,90 Euro
Zurück zur
Übersicht
|