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Susanne Kailitz
Von Verdruss und Partizipation
Wahlforscher: Parteien genießen das
Vertrauen der Bürger nicht mehr
Ein Volk, das sich an einem Ufer eines reißenden Flusses
befindet und sich auf den Weg machen muss, den vertrauten Ort zu
verlassen und den Fluss zu überqueren, ohne zu wissen, was es
am anderen, fremden Ufer erwartet - und sich dabei einem
Fährmann anvertrauten muss, zu dem es kein rechtes Vertrauen
hat: So beschrieb Heinrich Oberreuter, Direktor der Akademie
für Politische Bildung Tutzing, die derzeitige Situation der
Deutschen. Ein plastisches Bild, das eine Einstimmung auf den
Vortrag des Wahlforschers Dieter Roth zum Thema "Vertrauen und
Vertrauensverlust: Zur aktuellen Demokratiediskussion" vor der
Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen geben sollte. Doch
fühlen sich die Deutschen wirklich so ausgeliefert?
Wenn Politiker und Medienvertreter über politische
Partizipation nachdenken und sprechen, ist es nur eine Frage der
Zeit, bis der vielzitierte Begriff der Politikverdrossenheit
fällt. Die Untersuchungen der Forschungsgruppe Wahlen, die
Dieter Roth präsentierte, scheinen dies zunächst zu
bestätigen: 43 Prozent der Befragten im Westen und 65 Prozent
im Osten sind mit der Demokratie in Deutschland eher unzufrieden.
"Ein Negativrekord", bestätigt Roth, "aber gleichzeitig
bekundet zurzeit gut die Hälfte der Bundesbürger starkes
Interesse für Politik. Das sind deutlich mehr als in den
90er-Jahren." Und auch die Einschätzung des politischen
Systems insgesamt erfreut den Wissenschaftler, halten doch 77
Prozent der Deutschen die Demokratie für die beste Staatsform.
Nur 14 Prozent glauben, es gäbe bessere Alternativen.
Doch bei aller Systemzufriedenheit: Die Frustration über
den output der Demokratie ist groß. Auf einer Skala von +5 bis
-5 liegen Politiker und Parteien deutlich im Minus. Das Vertrauen
der Bürger in ihre Kompetenz ist gering, ebenso wie die in die
Fähigkeiten der Gewerkschaften. "Sämtliche
Spitzenpolitiker haben klar negative Imagewerte", bestätigt
Roth, "die Bürger sind gegenüber den politischen Akteuren
generell missgestimmt." Auffallend sei, dass davon Regierung wie
Opposition gleichermaßen betroffen seien. "Die Werte liegen
für beide recht nah beieinander. Das heißt, dass die
Bürger bei aller Unzufriedenheit mit Rot-Grün die Union
nicht für eine viel bessere Alternative halten." 68 Prozent
der Befragten beklagen, dass die Politiker sich nicht viel darum
kümmerten, "was Leute wie ich denken", über die
Hälfte kritisiert, dass Politik manchmal so kompliziert sei,
"das jemand wie ich gar nicht versteht, was vor sich geht".
Doch wer daraus vorschnell ableitet, die Bürger zögen
sich zunehmend aus der politischen Diskussion zurück, der
irrt. "Auf Bundesebene hatten wir in den 90er-Jahren einen Anstieg
der Wahlbeteiligung, nur von 1998 auf 2004 gab es einen kleinen
Rückgang zu verzeichnen", so Roth. 85 Prozent der Befragten
bezeichneten die Entscheidungen des Deutschen Bundestags als
persönlich relevant. Die geringere Beteiligung an Landtags-
und Europawahlen sei ebenfalls kein Ausdruck von
Politikverdrossenheit, sondern liege darin begründet, dass nur
wenige Bürger Entscheidungen, die etwa in Brüssel oder
Straßburg fielen, persönlich für wichtig hielten.
Interessant sei, das das "flexible Wählen" oder die gezielte
Option der Wahlenthaltung mehr und mehr an Bedeutung gewinne. "Fast
die Hälfte der Deutschen hält es zukünftig für
möglich, etwa aus Protest gezielt eine Partei zu wählen,
die für sie normalerweise nicht in Frage käme, 36 Prozent
ziehen generell auch eine protestmotivierte Wahlenthaltung in
Betracht."
Unzufrieden mit den Eliten
Ergebnisse, die Politikern und Parteien Unbehagen bereiten -
denen sie sich aber künftig in weit größerem
Maße stellen müssen als bisher. Bislang bemühen sie
gern die These, die Unzufriedenheit mit den politischen Eliten
könne abgebaut werden, wenn die Politik nur wieder besser
vermittelt werden könne. Ein Irrtum, so Roth. "Das ist eine
beliebte Argumentation der Parteien, die jedoch vergisst, dass sie
es mit einem ganz anderen Politikverständnis der Wähler
zu tun haben. Die Bürger nutzen einen klassischen
Politikbegriff, der die gesamte Gemeinschaft betrifft, während
die Parteien ihn auf Regierungs- oder Oppositionspolitik einengen.
Sie beharren auf diesem Verständnis, auch wenn die
Mitgliederverluste beweisen, dass das nicht ausreicht." Die
Parteien hätten in den vergangenen Jahren einen gravierenden
Wandel vollzogen: Von Vertretungsorganen großer Gruppen der
Gesellschaft über Mitgliederparteien hin zu kurzfristig
orientierten Serviceorganisationen für Wähler. Daraus
leite sich aber keine grundlegende Neuorientierung ab, bilanziert
Roth. "Nur wenn der Versuch, Wähler zu gewinnen, scheitert,
ist das Bekümmernis groß. Sonst allerdings scheint die
Tagesarbeit das nötige Nachdenken über sich selbst in den
Hintergrund zu rücken."
Die Bürger hingegen orientieren sich zunehmend anderweitig.
Ihr Eindruck, individuell auf den politischen Prozess einwirken zu
können, ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen: 36
Prozent der Deutschen glauben heute, über starke und sehr
starke Möglichkeiten zu verfügen, politischen Einfluss zu
nehmen. Unkonventionelle Formen der politischen Beteiligung haben
dabei Konjunktur. Mehr als 60 Prozent sehen die Mitarbeit in
Bürgerinitiativen oder die Beteiligung an Demonstrationen als
Möglichkeit der Partizipation, mehr als ein Drittel der
Deutschen übernehmen ehrenamtliche Aufgaben in Verbänden
und Vereinen.
Die Ergebnisse, die Dieter Roth präsentierte, beweisen
schnell, wie falsch der Begriff der Politikverdrossenheit ist. Die
Bürger wollen mitreden und mitgestalten - aber nicht nach den
Regeln der etablierten Parteien, denen sie nicht vertrauen. So muss
auch das Bild Heinrich Oberreuters korrigiert werden: Die Deutschen
sind kein Volk, das sich ergeben auf die andere Seite des Flusses
navigieren lassen wird. Wenn der Fährmann und seine Besatzung
nicht umdenken, dann kann es auch passieren, dass die Passagiere
sich selbst ein Floß bauen und die Reise auf eigene Faust
antreten.
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