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Claudia Heine
"Bis dass der Tod uns scheidet"
40 Millionen Menschen sind weltweit mit HIV
infiziert
Seit 1988 wird jährlich am 1. Dezember der
Welt-AIDS-Tag begangen. In jedem Jahr nutzen viele Organisationen
weltweit, aber auch in der Bundesrepublik den Tag für
große Kampagnen, um für Solidarität mit den
Betroffenen zu werben, Spenden zu sammeln und über Vorbeugung,
Aufklärung und Behandlung der Immunschwächekrankheit zu
informieren. Die Zahlen des neuen Welt-AIDS-Berichtes zeigen, dass
auch künftig große Anstrengungen nötig sein werden,
um der Krankheit zu begegnen - auch in Deutschland.
Nur elf Prozent der Frauen in dem
südafrikanischen Land Sambia glauben, dass sie das Recht
haben, ihre Ehemänner zu fragen, ob sie ein Kondom benutzen
würden, selbst wenn diese HIV-positiv sind. "Bis dass der Tod
uns scheidet" heißt deshalb die bittere Überschrift eines
Kapitels des neuesten Welt-AIDS-Berichts, der Ende November der
Öffentlichkeit präsentiert wurde, und in dem weitere
ähnliche Beispiele genannt werden. UNAIDS, das
AIDS-Bekämpfungsprogramm der Vereinten Nationen,
veröffentlicht darin erschreckende Zahlen: Drei Millionen
Menschen werden demnach im Jahr 2004 an der Immunschwäche AIDS
sterben - mehr als jemals zuvor. Weltweit haben sich in den
vergangenen zwölf Monaten rund fünf Millionen Menschen
mit HIV infiziert. Zum Jahresende werden fast 40 Millionen Menschen
mit dem Virus leben. Trotz großer regionaler Unterschiede gab
der Direktor von UNAIDS, Peter Piot, bei der Vorstellung des
Berichtes für kein Gebiet Entwarnung: "Auf allen Kontinenten
steigt die Zahl der Neuinfektionen."
Die Zeiten, in denen AIDS allein eine
Krankheit der Homosexuellen zu sein schien, sind längst
vorbei. In diesem Jahr standen deshalb andere im Zentrum des
Welt-AIDS-Tages, an dem UNAIDS unter dem Motto "Frauen,
Mädchen, HIV und AIDS" einen neuen Schwerpunkt formulierte.
Global betrachtet sind rund die Hälfte aller HIV-Infizierten
Frauen. Deren Anteil wächst sehr viel schneller als der der
Männer. Studien belegen zwar, dass rein biologisch das
Infektionsrisiko für Frauen beim ungeschützten
Geschlechtsverkehr doppelt so hoch ist wie für Männer.
Als alleinige Erklärung reicht das natürlich nicht aus:
"Weltweit geht das Ausmaß, in dem Frauen von HIV bedroht oder
schon betroffen sind, mit großen geschlechtlichen, sozialen
und anderen Ungleichheiten einher", heißt es deshalb in dem
Bericht. Frauen haben oft nicht den gleichen Zugang zu
medizinischer Versorgung und aufklärenden Hilfsprogrammen wie
Männer. Das ist vor allem, aber nicht nur ein Problem der
Entwicklungsländer: Auch Frauen am Rand der westlichen
Industriegesellschaften gehören laut UNAIDS dazu: Migrantinnen
zum Beispiel. 80 Prozent der infizierten Frauen in den USA sind
afrikanische und lateinamerikanische Einwanderinnen; diese
repräsentieren jedoch lediglich ein Viertel der in den USA
lebenden Frauen.
AIDS hat aber nach wie vor ein Zentrum, in
dem der Anteil betroffener Frauen sogar die 50-Prozent-Marke weit
überschreitet: Von den 25 Millionen Menschen, die im
südlichen Afrika mit HIV leben, sind fast 60 Prozent Frauen.
In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen sind sogar es 76
Prozent. Das bedeutet, dass rund drei Viertel aller weltweit
HIV-infizierten Frauen dort leben.
Eine UNICEF-Studie ergab, dass in einigen
besonders gefährdeten Gebieten die Hälfte der Frauen
grundlegende Dinge über AIDS gar nicht wissen. "Das lässt
sich nicht einfach mit Ignoranz erklären, sondern hat ganz
wesentlich mit ihrer machtlosen Position in Ehe und Gesellschaft zu
tun", schreibt UNAIDS in dem neusten Welt-AIDS-Bericht. Und weiter:
"Die meisten Frauen werden durch das riskante Verhalten ihrer
Partner angesteckt, auf das sie nur wenig Einfluss haben." Nicht
nur in Afrika, auch in Asien gibt es genügend Beispiele
für diese Tendenz: Während vor zwölf Jahren in
Thailand 90 Prozent der HIV-Infektionen in Bordellen stattfand,
sind es heute 50 Prozent Ehefrauen, die sich bei ihren Männern
anstecken.
Frauen spielen jedoch aufgrund ihrer Rolle in
der Kinderbetreuung eine zentrale Rolle im Kampf gegen AIDS. Sie
sind es, die die Kinder aufklären und deshalb auch über
Vorbeugung informieren können. Hier könnten die
Hilfsprogramme ansetzen, die aber mehr als nur medizinische
Betreuungsangebote sein sollten, fordert UNAIDS. Der Kampf gegen
AIDS sei zuerst auch ein Kampf für die Rechte der Frauen,
für ihre ökonomische, aber auch emotionale
Unabhängigkeit. Um diesen zu unterstützen, gründete
die UN-Organisation in diesem Jahr die "Globale Koalition Frauen
und AIDS", ein Netzwerk aus gesellschaftlichen Organisationen,
politischen Institutionen und Bürgern, das sich für eine
bessere Information von Frauen, ihren besseren Zugang zu
medizinischen Versorgung, aber auch für eine Intensivierung
der medizinischen Forschung einsetzt. So genannte Mikrobizide,
Cremes oder Zäpfchen für Frauen, werden seit Jahren von
der Wissenschaft, bisher allerdings erfolglos, getestet. Es kann
noch fünf bis zehn Jahre dauern, ehe diese wirklich auf den
Markt kommen - und damit eine Möglichkeit für Frauen
bieten, sich unabhängig vom Kondomgebrauch ihrer Männer
vor AIDS zu schützen.
Während weltweit immer mehr Frauen von
AIDS betroffen sind liegen die Zahlen für die Bundesrepublik
in den letzten Jahren konstant bei rund 400 Erstdiagnosen pro Jahr.
Mit rund 20 Prozent an den insgesamt 2.000 Neuinfektionen stellen
Frauen in Deutschland im weltweiten Maßstab also immer noch
eine verhältnismäßig kleine Gruppe. Homosexuelle
Männer dagegen bilden mit 55 Prozent nach wie vor die Mehrheit
der Neuinfizierten im Jahr 2004, gefolgt von Menschen, die aus so
genannten Hochprävalenzländern zu uns kommen, also
Ländern, in denen HIV unter der Allgemeinbevölkerung sehr
verbreitet ist. Deren Anteil unter den 44.000 in Deutschland
lebenden HIV-Infizierten ist in den letzten Jahren stark gestiegen.
Entsprechend verändern auch die in Deutschland tätigen
Hilfsorganisationen ihre Angebote: "Wir bieten seit einiger Zeit
verstärkt Materialien auch in russischer und polnischer
Sprache an", sagt Joyce Dreezens-Fohrke von der
Deutschen-AIDS-Hilfe. Solche Bemühungen können aber nicht
darüber hinwegtäuschen, dass hier Lücken in der
Angebotsstruktur bestehen. Hinzu kommt ein anderer Aspekt: "Viele
der von HIV betroffenen Migranten vertrauen den staatlichen
Institutionen nicht, weil sie diese aufgrund ihrer Erfahrungen in
den Heimatländern mit Repressalien verbinden", begründet
Keikawus Arastéh, Direktor der Infektiologie am
Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin, die Schwierigkeiten einer
Kontaktaufnahme. "Es müsste dringend mehr niedrigschwelligere
Angebote geben", so der Arzt weiter. Er weiß, wovon er
spricht: Immerhin betreut diese Klinik die meisten der Berliner
AIDS-Patienten, unter ihnen eine steigende Zahl aus Osteuropa. Als
Infektionsquelle spielen Migranten jedoch so gut wie keine Rolle:
"Sie sind aufgrund ihres Status meist relativ stark in
Bedrängnis und ziehen sich in Gruppen zurück, so dass der
Austausch mit der übrigen Bevölkerung kaum da ist",
erläutert Arastéh.
Eine Ausnahme ist die Prostitution. Nicht nur
in Berlin bieten viele osteuropäische Frauen ihre Dienste an.
Der kleine Grenzverkehr an der deutsch-tschechischen Grenze
bereitet Mitarbeitern von AIDS-Hilfsprojekten schon lange
Kopfschmerzen. Nur ein kleiner Teil der Frauen in Bordellen oder
auf den Straßen wenige Kilometer hinter der Grenze kommt aus
Tschechien, viele dagegen aus der Ukraine oder Weißrussland -
Länder, in denen die HIV-Raten seit einiger Zeit geradezu
explodieren. Für ein paar Euro mehr lassen sie sich auch ohne
Kondom auf ihre deutschen Kunden ein; mehrere tausend sind es pro
Tag. Und die Zahl derer, die es ohne Kondom machen wollen, steigt.
Die Gefahr, die sich hier auch für ahnungslose Ehefrauen und
Freundinnen versteckt, darf nicht unterschätzt werden: "Es
gibt heute ungefähr 500.00 HIV-Infizierte in der Ukraine -
eine ähnlich dramatische Situation wie in Südafrika kurz
vor der Explosion vor zehn Jahren", sagt Arastéh und fordert
deshalb entschiedene Maßnahmen auch von deutscher Seite: "Da
müsste die Bundesregierung viel mehr tun, um die
Aufklärungsarbeit dort vor Ort zu
unterstützen."
In den meisten Ländern Osteuropas und
Zentralasiens ist AIDS immer noch ein Tabuthema. Steigenden
Infektionszahlen, besonders unter Frauen, steht ein völlig
unterentwickeltes Gesundheits- und Aufklärungssystem
gegenüber. Über 80 Prozent der jungen Frauen in der
Ukraine und Usbekistan wissen zum Beispiel nicht, wie sie sich vor
AIDS schützen können. Von einem "dramatischen" Anstieg
auf 1,4 Millionen Infizierte in dieser Region spricht UNAIDS im
aktuellen Welt-AIDS-Bericht; allein im Jahr 2004 kamen 210.000 neu
registrierte Fälle hinzu. Die Ukraine und Russland stehen
dabei an der traurigen Spitze.
Trotz der insgesamt großen regionalen
Unterschiede der Verbreitung weisen die Experten auf einige
Gemeinsamkeiten hin:
1. Meistens befinden sich die Epidemien in
einem frühen Stadium, was bedeutet, dass effektive
Gegenmaßnahmen diese eindämmen oder sogar stoppen
können.
2. Die meisten der von HIV Betroffenen sind
sehr jung: 80 Prozent sind unter 30 Jahre. Im Vergleich: In
Westeuropa sind es nur 30 Prozent.
3. Die Übertragung von AIDS durch Sex
stieg in jedem der Länder stark an, für UNAIDS ein
Hinweis, dass es in der breiten Bevölkerung Fuß gefasst
hat. (In der Ukraine stieg der Anteil jener, die sich über
heterosexuelle Kontakte infiziert haben, von 11 Prozent im Jahr
1997 auf nun 30 Prozent; davon sind über 40 Prozent
Frauen.)
4. Der mühsame und lang andauernde
sozial-ökonomische Übergang nach 1990 bildet den Kontext,
in dem außergewöhnlich viele Jugendliche Drogen
konsumieren.
Die Bekämpfung von AIDS in Osteuropa und
Zentralasien müsste, so UNAIDS, in erster Linie über eine
Drogenpolitik erfolgen, die die Abhängigen nicht mehr an den
Rand und in die Illegalität treibt. Folgende Zahlen
unterstreichen die Dringlichkeit eines solchen Appells: Über
80 Prozent der seit Beginn der AIDS-Epidemie in Russland
registrierten Fälle finden sich unter jenen, die
intravenös Drogen konsumierten und es immer noch tun. Momentan
wird die Zahl der drogenabhängigen Russen auf 1,5 bis drei
Millionen geschätzt, von denen 40 Prozent keine sterile Nadeln
oder Spritzen benutzen. Doch nur das Angebot von sauberen Spritzen
würde das Problem nicht lösen. Auffallend groß sind
nämlich die Überschneidungen zweier Risikogruppen: Sehr
viele, die intravenös Drogen konsumieren prostituieren sich,
um ihre Sucht zu finanzieren. Umgekehrt sind viele Prostituierte
von der Nadel abhängig. Mit Nachdruck fordert UNAIDS deshalb
von den Verantwortlichen Aufklärungsprogramme darüber zu
starten, wie man sich und andere vor AIDS schützen
kann.
Wie erfolgreich man damit sein kann beweist
die Kampagne "Gib AIDS keine Chance!" der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Seit 1987 wird auf
massenwirksame Weise über Prävention und den Umgang mit
der Krankheit informiert. Mit einem Ergebnis, das sich sehen lassen
kann: Nach der Studie "AIDS im öffentlichen Bewusstsein", die
die BZgA jährlich erhebt, wissen 99 Prozent der
Bevölkerung über Infektionsrisiken und
Schutzmöglichkeiten Bescheid. Innerhalb der
westeuropäischen Länder nimmt Deutschland mit einer
Anzahl von 0,5 Infektionen pro Tausend Einwohnern nach Finnland,
Schweden und Norwegen eine sehr günstige Position ein. Im
Vergleich: In den Niederlanden liegt dieser Wert bei 1,1, in der
Schweiz bei 2,6 und in Spanien sogar bei 3,3.
Sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen
wäre jedoch der falsche Schluss. Rainer Jarchow,
Vorstandsmitglied der Deutschen-AIDS-Hilfe, zeigte sich
anlässlich des Welt-AIDS-Tages besorgt über eine neue
Nachlässigkeit: "Wir dürfen die bisherigen großen
Erfolge nicht durch eine zurückgehende Intensität
gefährden." Genau diese scheint sich derzeit besonders unter
Jugendlichen zu verbreiten: "Jugendliche denken doch: Das ist eine
Krankheit von alten Säcken. Sie fühlen sich nicht
angesprochen, und genau deswegen stecken sie sich in letzter Zeit
wieder vermehrt an", erregt sich der Berliner Chefarzt
Arastéh. Zahlen bestätigen diesen Trend. In derselben
Studie der Bundeszentrale kann man nachlesen, dass im vergangenen
Jahr nur noch 78 Prozent der Befragten mit mehreren Sexualpartnern
Kondome benutzt haben. Im Jahr 2001 waren es noch 83 Prozent. Bei
Urlaubsbekanntschaften benutzten im Jahr 2003 nur noch 73 Prozent
der Befragten Kondome; diese Zahl sank von 79 Prozent zwei Jahre
zuvor.
Lebensgefährlicher Irrglaube
Den Grund dafür, dass AIDS seinen
Schrecken verloren hat, lieferte der medizinische Fortschritt, den
viele Menschen falsch verstehen, weil sie glauben, AIDS sei nun
keine lebensbedrohliche Krankheit mehr. Auch wenn das Leben durch
Medikamente verlängert werden kann: Der Preis, den die
Patienten dafür zahlen, ist hoch. Sie leiden nicht nur unter
der sichtbaren Veränderung ihres Fettstoffwechsels, die sie
zum Teil entstellt, da Fettpolster aus dem Gesicht,
Gesäß, Armen und Beinen verschwinden, sich gleichzeitig
aber immer mehr Fett im Bauchraum und am Nacken ablagert. Ein
Thema, das zunehmend auch von den Hilfs-organisationen aufgegriffen
wird: "Für uns ist es ganz entscheidend, auch über die
Konsequenzen einer AIDS-Therapie zu informieren. In gewissen Sinne
ist es eine Art Nebenwirkungsmanagement, das wir da
unterstützen", erläutert Dreezens-Fohrke von der
Deutschen-AIDS-Hilfe. Längst sterben mehr Menschen an den
Nebenwirkungen wie Tumorerkrankungen, Leber- oder Nierenversagen
oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, als an den "klassischen"
AIDS-Todesursachen, so genannten opportunistischen Infektionen. Man
nennt sie so, weil sie die "günstige Gelegenheit" -
nämlich die Schwäche des Immunsystems - nutzen, um sich
zu vermehren. Auf diese Weise werden selbst Lungenentzündungen
zum Lebensrisiko. Der Klinikdirektor aus Berlin warnt deshalb
eindringlich: "Jede Generation braucht immer wieder neu eine
Aufklärung über AIDS, die ihnen auch erklärt, was
eine AIDS-Therapie wirklich bedeutet. Das ist kein Zuckerschlecken,
sondern eine Therapie, die keine Fehler verzeiht. Das ist nichts
anderes als eine lebenslange Chemotherapie."
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