*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

 zurück weiter  Kapiteldownload  Übersicht 


5             Globale Wissensgesellschaft

   5.1          Merkmale und Auswirkungen der Wissensgesellschaft

5.1.1       Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft

Eine neue These beherrscht seit einiger Zeit die Gesellschaftstheorien, wonach unsere Gesellschaft sich in einem Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft befinde, der in seinen Wirkungen häufig mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert verglichen wird. Als Auslöser des sich in den Industriestaaten vollziehenden grundlegenden Wandels wird die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechniken (IKT)1 angesehen.

Die Debatte reiht sich nahtlos in die langjährigen Aus­ einandersetzungen hinsichtlich eines permanenten Strukturwandels westlicher Industrienationen ein, der über­ wiegend als Entwicklung und Durchsetzung der Dienstleistungs- oder Informationsgesellschaft beschrieben wird (Tauss, Kollbeck und Mönikes 1996: 17f.). Der Deutsche Bundestag hat in seiner 13. Legislaturperiode die Enquete-Kommission „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ eingesetzt, um Hinweise auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der neuen IKT zu erhalten und in entsprechende politische Handlungsempfehlungen umzusetzen (Enquete-Kommission 1998). Der zunehmend tiefgreifende und dynamische Globalisierungsprozess erfordert es nun, den überwiegend nationalstaatlichen Horizont dieser Betrachtungen zu überwinden und die neuen Merkmale einer zunehmenden inter- und transnationalen Vernetzung und enormen Innovationsdynamik insbesondere der IKT zu berücksichtigen. Die Informations- oder Wissensgesellschaft beschleunigt und inten­ siviert den wirtschaftlichen, sozialen und politischen – kurz: gesellschaftlichen – Übergang zu einer globalen Weltgesellschaft. Es ist eine der zentralen Herausforderung für die Politik, diesen Übergang und die Rahmenbedingungen der sich entfaltenden Gesellschaftsformation angemessen zu gestalten. Zunächst sollen jedoch der Begriff „Wissensgesellschaft“ näher beleuchtet und die Merkmale und Indikatoren herausgearbeitet werden, die den möglicherweise stattfindenden Übergang zur Wissensgesellschaft charakterisieren. Vollzieht sich tatsächlich ein derartiger Transformationsprozess innerhalb der Gesellschaft? Wenn ja, wodurch wird er gekennzeichnet und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus?

Begriff „Wissen“

Bei genauerer Betrachtung des Begriffs Wissensgesellschaft fällt schnell auf, dass häufig mit einem sehr unbestimmten Wissensbegriff gearbeitet wird. Im Unterschied zur reinen Information setzt der Erwerb von Wissen individuelle Erfahrung und reflexive Aneignung voraus. Vereinfacht gesagt ist Wissen verarbeitete Information oder mit anderen Worten: Wissen ist die Veredlung von Informationen.

Es spricht vieles dafür, Wissen in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der neuen IKT zu stellen und damit die bereits traditionellen Begriffe der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft zu ersetzen. So einig man sich in der zunehmenden Bedeutung des Wissens und der neuen IKT in allen gesellschaftlichen Bereichen auch ist, wird dennoch weiterhin sehr kontrovers diskutiert, ob die Wissensgesellschaft zu einem grundlegenden Strukturwandel westlicher Industrienationen führen wird, oder ob ihre Auswirkungen unterhalb eines Paradigmenwechsels eher als additive Momente bzw. als Bedeutungsverlagerungen innerhalb bekannter Rahmenbedingungen der modernen Lebens- und Wirtschaftsweise aufgefasst werden müssen.

Ein Befürworter des Strukturwandels, der Soziologe Daniel Bell, hat bereits im Jahr 1975 das Konzept einer „nachindustriellen Gesellschaft“ entworfen. Seine These lautet, die zentralen Strukturen der Industriegesellschaft würden sich durch den gesellschaftlichen Wandel grundlegend verändern. Während es in der Industriegesellschaft primär um die massenhafte Produktion und Verteilung von Gütern, um die Beherrschung der Natur durch die Erkenntnis von Naturgesetzen und die Entfaltung von Transport und Verkehr ginge, werde in der entstehenden Gesellschaft der Dienstleistungssektor gegenüber der Güterproduktion erheblich an Bedeutung gewinnen und diese überholen (Bell 1975: 353). Auslöser für diesen Übergang seien vor allem technische Innovationen sowie die zunehmende Wertschöpfung aus immateriellen Produktionsfaktoren, wie Know-Hows. In der weiteren Diskussion hat sich zunächst der Begriff „Informationsgesellschaft“ durchgesetzt. Schnell wurde jedoch bezweifelt, dass der Begriff der Information die Vielfalt gesellschaftlich relevanten Wissens und vor allem die gesellschaftlichen Bedingungen für den Erwerb, die Vermittlung und die Anwendung komplexen Wissens aufzunehmen vermag. Jede Gesellschaft ist immer auch eine Informationsgesellschaft gewesen. Der Begriff der „Wissensgesellschaft“ befreit sich von der technologischen Verengung des Informationsbegriffes und verweist darüber hinaus auf die komplexen sozialen Kontexte allen Wissens. Er markiert daher einen qualitativen Bedeutungszuwachs des Wissens in allen Gesellschaftsbereichen. Wissen werde insgesamt zum Organisations- und Integrationsprinzip und damit zur zentralen    Problemquelle der modernen Gesellschaft (Stehr 2001: 10). Andere Befürworter des sich vollziehenden Strukturwandels gehen davon aus, dass die Grundrichtung der gesellschaftlichen Veränderung durch den direkten Zugang auf Netzwerke der Information weg vom kollektiven Organisationszwang hin zur individuellen Verantwortung und damit auch zur Individualisierung der Arbeit gehe (Paqué 2001).

Auf der anderen Seite gibt es in der wissenschaftlichen Diskussion auch Stimmen, die den Strukturwandel kritischer beleuchten und nicht als paradigmatisch qualifizieren. So ist z. B. Jeanette Hofmann der Auffassung, der Begriff der Wissensgesellschaft sei nebulös, weil er gegenüber dem Begriff Industriegesellschaft etwas Neues suggeriere, ohne den Unterschied zu erklären. Die Gegenüberstellung beider Begriffe führe in die Irre, weil nicht die Wissensgesellschaft die Industriegesellschaft ablöse, sondern nur das Verhältnis zwischen beiden immer schon eine Einheit bildenden Modellen verschoben werde. Entscheidendes Merkmal der zweifellos vorhandenen gesellschaftlichen Veränderungen sei die Digitalisierung des Wissens, weil sich durch sie die Bedingungen für die Erzeugung und Konservierung, die Verbreitung und Nutzung von Wissen in grundlegender Weise änderten. Wissen werde mit den gleichen Methoden erzeugt, mit denen es auch verbreitet und manipuliert werde (Hofmann 2001: 4). Auch bei der Zirkulation von Wissen, der Voraussetzung gesellschaftlichen Erkenntnis­ gewinns, bewirke die Digitalisierung weitreichende Veränderungen, so z. B. die erhebliche Senkung der Trans­ ak­ tions­ ­ kosten.

Elmar Altvater stuft die entstehende Wissensgesellschaft ebenso wie Jeanette Hofmann nicht als völlig neue Gesellschaftsform ein und begründet dies mit der historischen Rolle von Wissen in der Ökonomie. Wissen, Wissenschaft und Qualifikation hätten schon immer für die ökonomische Entwicklung, für Wohlstand und Wachstum Bedeutung gehabt. In der modernen ökonomischen Theorie seien (in den Produktionsmitteln inkorporiertes) Wissen und Qualifikation der Arbeitskräfte als „Wachstumsfaktoren“ fest verankert. Die „New Economy“ habe der Debatte um die Bedeutung von Bildung und Wis­ sen(schaft) Auftrieb gegeben. Es habe sich aber nicht bestätigt, dass gebündeltes Wissen als solches in Unternehmen ein Wachstumsfaktor sei. Wachstum sei abhängig von Investitionsentscheidungen der Unternehmen, durch die Wissens- und Qualifikationspotenziale mobilisiert würden.

Fazit

Die unterschiedlichen Auffassungen zum Strukturwandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft haben unabhängig davon, ob sie die gesellschaftlichen Veränderungen als paradigmatisch qualifizieren oder nicht, eines gemeinsam: Die Erzeugung und Verteilung von Wissen werden künftig eine vorrangige Bedeutung in der Wertschöpfung und im gesellschaftlichen Bewusstsein einnehmen. Die Zukunft gehört der Wissensverarbeitung, den hochqualifizierten Tätigkeiten. „Ob wir auf dem Weg in eine Wissensgesellschaft sind, d. h. in eine Gesellschaft, die sich in der genannten Weise über den Begriff des Wissens definiert, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist jedoch, dass die Generierung von Wissen, die Verfügung von Wissen, die Anwendung von Wissen und ein umfassendes Wissensmanagement zunehmend die Lebens-  und Arbeitsformen und damit auch die Strukturen der modernen Gesellschaft bestimmen werden. In diesem Sinn ist die Wissensgesellschaft auch die Zukunft der modernen Gesellschaft“ (Mittelstraß 1998: 15). Die Globalisierung wirkt dabei als mächtigste Triebkraft der ökonomischen und politischen Veränderungen.



1 Der Begriff Informations- und Kommunikationstechniken (IKT) wird derzeit zur Bezeichnung einer breiten Palette von Diensten, Anwendungen und Techniken unter Einsatz unterschiedlicher Geräte und Softwareprogramme verwendet, die häufig über Telekommunikationsnetze laufen (Europäische Kommission 2001e).

zurück zum Text



 zurück weiter  Top  Übersicht 


Volltextsuche