1 Einleitung
Warum beschäftigen wir uns mit
der Globalisierung?
Was bringt den Deutschen Bundestag zur
Beschäftigung mit der Globalisierung? Nun, die Globalisierung
ist zu einem der wichtigsten politischen Themen geworden. Sehr
viele politische Streitfragen unserer Tage haben einen direkten
oder indirekten Bezug zur Globalisierung. Der Streit um die beste
Strategie zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, über die
Verschuldung von Entwicklungsländern, über die optimale
Steuerpolitik oder über Klimaschutz und Atomausstieg, fast
alles wird heute im Zusammenhang der Globalisierung gesehen und
diskutiert. Selbst die rein ethisch erscheinende Frage über
den Import embryonaler Stammzellen ist zu einem erheblichen Teil
über die Frage des Standorts Deutschland in einer
globalisierten Forschungslandschaft abgehandelt worden.
Kein Wunder, dass die Globalisierung zu einem
Schlagwort mit höchster Medienwirksamkeit geworden ist. Und
das Schlagwort ist ziemlich neu, wie aus der Abbildung1-1 hervor
geht.
Mit der
Globalisierung verbinden sich bei den Menschen in allen Erdteilen
Hoffnungen und Ängste. Auffällig ist Folgendes: Wer
Einfluss auf das globale Geschehen hat, spricht typischerweise
positiv bis enthusiastisch über die Globalisierung. Wer sich
machtlos und ausgeliefert fühlt, und das ist wohl die
Mehrheit, bei dem überwiegen eher die Ängste. Ist das ein
Wunder? Nein, es ist selbstverständlich.
Wenn aber die
Globalisierung mehr Menschen in den Zustand oder die Stimmung
versetzt, sich machtlos zu fühlen, dann muss in einer
Demokratie reagiert werden. Das Tatsachenfeld sowie die
realistischen Möglichkeiten der Mitgestaltung müssen
zunächst durchschaut und beschrieben werden.
Am Anfang der
politischen Erörterung der Globalisierung soll daher eine
Verständigung darüber stattfinden, wo die historischen
Wurzeln der Globalisierung liegen. Und wir sollten uns darüber
einigen, was wir heute unter dem Wort verstehen.
Zum
historischen Hintergrund
Der
europazentrierte Welthandel war eine Vorläuferstufe der
Globalisierung. Er hatte seinen Ursprung in den Jahrhunderten der
(europäischen) Seefahrer seit den großen Entdeckungen,
der Eroberung der „neuen Welt“ und der Bildung von
Kolonien und erlebte im 17. Jahrhundert eine erste Blüte. Er
war zunächst sehr einseitig und bestand in der Hauptsache aus
einer Ausbeutung der Kolonien durch europäische Mächte.
Auch der Sklavenhandel war zeitweise ein quantitativ wichtiger
„Handelssektor“.
Erst im Zuge der
Entstehung von Manufakturen und Industriebetrieben in Europa
intensivierte sich der Austausch über die nationalen Grenzen,
ja über die Ozeane hinweg und führte zu jener vertieften
Arbeitsteilung, durch die die Spezialisierung und daher die
Effizienz der Produktion aller Handelspartner gesteigert werden
konnte. Im späten 19. Jahrhundert dominierten den Welthandel
der Export von Industrieprodukten aus Europa und etwas später
aus den USA sowie der Import von „Kolonialwaren“ und
Rohstoffen nach Europa (und die USA). Damit wurde die
bezüglich der Vorteilsverteilung sehr asymmetrische
internationale Arbeitsteilung zwischen Nord und Süd
bestätigt. Zugleich entwickelte sich aber ein blühender
Handel innerhalb Europas und über den Nordatlantik.
Einen Einbruch
des internationalen Handels bedeutete die Zeit der Weltkriege
zwischen 1914 und 1945. Während der Weltwirtschaftkrise von
1929 bis etwa 1933 versuchten fast alle Länder vergeblich,
ihre interne Krise durch Autarkiepolitik, also durch die Abwehr von
Importen sowie durch Währungsabwertungen zu meistern. Die
Abschottungskrise hat sicherlich einen Teil zu den
anschlie-ßenden politischen Katastrophen in Deutschland und
Europa beigetragen.
Nach den Schrecken des 2. Weltkrieges bestand
ein breiter Konsens in den Industrieländern, dass der
kriegerische Nationalismus überwunden und die
Völkerverständigung durch aktive wirtschaftliche
Verflechtung abgesichert werden müsste. Allerdings fand dies
vor dem Hintergrund der zunehmenden Blockkonfrontation statt, die
als politischer Kitt für die Westintegration diente.
Seit dieser Zeit kann man weltweit
beobachten, dass die wirtschaftliche Verflechtung und der Ausbau
des Außenhandels zu einem vorrangigen politischen Ziel
wurden. Die weltweit treibende Kraft für eine zunächst
atlantische, dann aber globale Weltordnung war dabei zweifellos die
USA. Hier wurden noch vor Ende des 2. Weltkriegs bei der Konferenz
von Bretton Woods 1944 die institutionellen Grundlagen für die
künftige internationale Wirtschaftszusammenarbeit gelegt. Die
Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF)
wurden gegründet. 1946, bei der Konferenz von Havanna, wurde
eine Internationale Handelsorganisation (ITO) als Motor für
den Freihandel konzipiert und die Charta von Havanna
beschlossen, mit ihrer Zielsetzung für die künftige
Weltwirtschaftsordnung: Wohlstand, Frieden, Beschäftigung.
Artikel 7 der Charta forderte ausdrücklich faire
Sozialstandards! Sowohl die ITO wie die Charta scheiterten jedoch
am Ratifizierungsverfahren im US-amerikanischen Kongress. Anstelle
der ITO wurde dann das „schwächere“ Allgemeine
Zoll- und Handelsabkommen GATT gegründet.
Das GATT wurde zwar zunächst als
Provisorium betrachtet, übernahm aber immer mehr die Funktion
eines multilateralen Rahmens für den internationalen Handel.
In insgesamt acht „Runden“ des GATT wurden unter den
Mitgliedsstaaten die Zölle in fast allen Marktsegmenten
entscheidend gesenkt und nicht-tarifäre Handelshemmnisse
abgebaut.
Abbildung 1-2 zeigt den Erfolg der GATT-Runden bezüglich
der Industriezölle.
Die politische Unterstützung für
den Außenhandel sowie der technische Fortschritt beim Verkehr
und der Kommunikation haben die wirtschaftliche Verflechtung der
Staaten, Regionen und Erdteile immer enger werden lassen. Dabei ist
allerdings nicht zu übersehen, dass –
wertmäßig – über 80 Prozent des
internationalen Handels zwischen den Industrieländern
getätigt wird. Und davon ist wiederum der größte
Teil Handel innerhalb der regionalen Wirtschaftszonen, insbesondere
der EU. Die stark zunehmen-de Binnen-Verflechtung der
Wirtschaftsregionen Europa, Nord-amerika und Japan/pazifischer Raum
sowie deren geografische Erweiterung war vielleicht die
stärkste Trieb-kraft bei der Zunahme des Handels.
Ins Gewicht fällt noch der Handel der
Industrieländer mit den Schwellenländern
einschließlich der ölexportierenden Staaten. Nur 15
Prozent des Welthandels spielt sich jedoch zwischen
unterschiedlichen Erdteilen ab, und weniger als 3 Prozent des
Welthandels berührt Afrika! Die hier sichtbar werdende
Asymmetrie vergrößert sich dadurch, dass ein großer
Teil der Exporterlöse der Entwicklungsländer für den
Schuldendienst aufgezehrt wird.
Zollabbau,
technischer Fortschritt und Handels-Deregulierung haben den Handel
zunehmend rascher wachsen lassen als die Produktion, wie
Abbildung 1-3 zeigt.
Den
größten Sprung machte der Handel im Vergleich zum
Wirtschaftswachstum in den 90er-Jahren, also dem Jahrzehnt, in dem
man angefangen hat, über die Globalisierung zu sprechen. Zu
dieser sprunghaften Entwicklung haben mehrere längerfristige
Trends und zwei unvermittelt eingetretene Entwicklungen
beigetragen.
Die
Entwicklungsstränge, die zu dem neuen, als Globalisierung
bezeichneten Phänomen geführt haben, sind:
– der bereits in 1-2 dargestellte Abbau
von Zöllen sowie von anderen Handelsbarrieren über
die acht GATT-Runden; dabei hat die letzte Runde, die
Uruguay-Runde von 1986–1994 mit der Einbeziehung von
Dienstleistungen und geistigen Eigentumsrechten (Patente,
Urheberrechte u.a.) – Stichworte GATS und TRIPs – eine gegenüber
früheren Runden deutlich größere Auswirkung;
die anschließende Gründung der Welthandelsorganisation
WTO mit einer größeren Verbindlichkeit als GATT
symbolisierte die Bedeutung der Uruguay-Runde;
– der starke Anstieg der ausländischen
Direktinvestitionen insbesondere in den 80er-Jahren;
– die vornehmlich durch die USA und die EU
voran getriebene Politik der Liberalisierung der Märkte
einschließlich der Kapitalmärkte sowie der Trend zur
Zurückdrängung des öffentlichen Sektors;
– die Bildung regionaler
Wirtschaftsblöcke, wobei die EWG – EG – EU den
Anfang machte und anderen Weltregionen als Vorbild diente;
– laufend abnehmende
Transportkosten, vielfach durch die öffentliche Hand
subventioniert.
Hinzu kamen mehr
oder weniger plötzlich, aber für die immense
Beschleunigung entscheidend,
– der Zusammenbruch der Sowjetunion und des
Comecon 1989/90 und damit das Ende des Systemwettbewerbs
zwischen Ost und West;
– die rasante Entwicklung und galoppierende
Verbilligung der Kommunikation und die fast schlagartig einsetzende
kommerzielle Nutzung des Internet (vgl.
Abbildung 1-4).
Die
Intensivierung des Welthandels hatte zwei Folgen, die die
Globalisierungstendenzen entlang der Wertschöpfungsketten
nochmals verstärkten.
Zum einen wurde
auch die Produktion zunehmend globalisiert. Die
Welthandelskonferenz (UNCTAD) zählt mittlerweile mehr als
63000 transnationale Konzerne und folglich einen breiten Strom von
grenzüberschreitenden Direktinvestitionen. Die
große Masse der Direktinvestitionen konzentriert sich auf die
Industrieländer. Doch auch für Entwicklungsländer
können Direktinvestitionen transnationaler Unternehmen ein
wichtiger Teil für ihre Entwicklung sein. Generell hat die
Globalisierung der Produktion jedoch ganz zweifellos zu einer
Verschärfung des Anpassungsdrucks an globale Standards
(„benchmarks“) an den jeweiligen
„Standorten“ geführt.
Zum anderen folgte der Intensivierung der
Handelsbeziehungen die Herausbildung globaler
Finanzmärkte. Zu-nächst entstanden diese im
„Schlepptau“ der transnationalen Konzerne zur
Finanzierung von Direktinvestitionen. Mit der Deregulierung und
Liberalisierung der Finanzmärkte seit den 70er-Jahren aber
konnten sich diese mehr und mehr verselbständigen, sodass
die globalen Finanztransaktionen noch um ein Vielfaches
schneller expandieren als Weltproduktion und Welthandel. In den
späten 90er-Jahren wurden auf den Weltdevisenbörsen
täglich bereits an die 1200 Milliarden US-Dollar
gehandelt, wovon allenfalls 5 Prozent der Finanzierung von
Handelsgeschäften und Direktinvestitionen dienten. Der
große Rest ist Interbankenhandel.
Die Liquidität der globalen
Finanzmärkte ist enorm gestiegen. Über die Wirkung gibt
es unterschiedliche Auffassungen. Einerseits, so sagen manche, ist
die hohe Liquidität ein Faktor der Stabilität, da
Liquiditätsengpässe nicht zu Krisen führen
müssen. Andererseits, so andere Stimmen, ist das liquide,
zumeist höchst kurzfristige Kapital immer „auf dem
Sprung“, dorthin transferiert zu werden, wo die kurzfristigen
Renditen am höchsten sind. Diese so genannte
„Volatilität“ macht langfristige
Entwicklungsplanung in Entwicklungsländern schwierig, und auch
für kleine und mittlere Unternehmen in den
Industrieländern entstehen Probleme, da für sie die
Liquiditätsbeschaffung zu langfristig kalkulierbaren
Konditionen schwieriger geworden ist.
Finanzmärkte sind schon deshalb
prinzipiell instabil, weil Anlageentscheidungen immer mit dem
Risiko verbunden sind, dass die in der Zukunft unterstellten
Erträge nicht zustande kommen. Schuldner geraten dann in
Schwierigkeiten, zunächst in eine Liquiditätskrise, dann
aber auch nicht selten in eine Insolvenzkrise. Die
„Schuldenkrise der Dritten Welt“ in den 80er-Jahren hat
vielen verschuldeten Ländern ein „verlorenes
Jahrzehnt“ beschert; so charakterisiert die
Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika und die
Karibik die Schuldenkrise lateinamerikanischer Länder. Die
Finanzkrisen der 90er-Jahre haben nicht so viele Länder wie
die Schuldenkrise ein Jahrzehnt zuvor betroffen. Dafür haben
sie heftiger gewütet: in Mexiko 1994/95, in Asien 1997, in
Russland 1998, in Brasilien 1999, in der Türkei 2000 und in
Argentinien 2001/ü 2002. Die Weltbank schätzt, dass die
Kosten der Krisen mehr als 20 Prozent des jeweiligen Sozialprodukts
betragen haben.
Dies verweist schon darauf, dass finanzielle
Stabilität ein „hohes öffentliches
Gut“ ist, das durch geeignete Regeln zu bewahren ist.
Denn seine Abwesenheit ist extrem teuer und die Kosten der
finanziellen Stabilisierung sind höchst ungleich verteilt.
Darauf kommen wir unten noch zurück.
Das Wort „Globalisierung“
hat viele Bedeutungen
Allzu überraschend ist es nicht, dass
die genannten Faktoren zusammen genommen eine dramatische
Veränderung der Weltlage mit sich gebracht haben. Was zeichnet
die Weltlage aber aus? Was ist der Gehalt und was ist die Funktion
des Wortes „Globalisierung“?
Die neue Lage hat einen äußerst
tief greifenden Einfluss auf die Art des Wirtschaftens. Die
elektronische und die stark verbilligte telefonische Kommunikation
haben den Preisvergleich und die globale Disposition
außerordentlich erleichtert. Hieraus ist zugleich eine
erhebliche Verschärfung
des Wettbewerbs entstanden. Da in vielen industriellen
Gütermärkten die Produktionskapazität mittlerweile
weit oberhalb der realen Nachfrage liegt, gestaltet sich der
Wettbewerb mehr und mehr als Kostenwettbewerb. In diesem
geben die international operierenden Unternehmen den Kostendruck
oft noch verschärft an die zumeist kleinen, lokalen Zulieferer
weiter.
Rücksichten auf Kultur, Umwelt und
soziale Ausgewogenheit drohen unter dem Druck des Kostenwettbewerbs
in den Hintergrund gedrängt zu werden. Und die internationale
Arbeitsteilung geschieht streckenweise nach dem Gesichtspunkt, an
welcher Stelle der Welt diese Rücksichten die geringste Rolle
spielen! Die Verhandlungsposition der schwächsten Glieder der
Weltgesellschaft und ihrer politischen Vertretungen ist bedrohlich
unter Druck geraten. Auffallend und besorgniserregend ist die
Tatsache, dass vielfach insbesondere Frauen zunehmend in neue, oft
bedrohliche und entwürdigende Abhängigkeiten geraten.
Globalisierung wirkt zum Teil sehr ungleich
auf die konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Frauen
und Männern, wodurch insbesondere viele arme Frauen in
Entwicklungsländern Gefahr laufen, sowohl kurz- als auch
langfristig eher zu den Verliererinnen der Globalisierung zu
zählen.
Gestärkt wurde dem gegenüber die
Position der Kapitaleigner und des Managements. Die
verstärkte Verhandlungsposition zeigt sich sowohl
gegenüber Staaten und Parlamenten wie gegenüber den
Gewerkschaften, der organisierten „Zivilgesellschaft“
und den Medien.
Aus der neuen Sachlage ergeben sich denn auch
recht unterschiedliche Funktionen, ja Instrumentalisierungen
des Wortes Globalisierung. Jenseits der zusammenfassenden
Beschreibung der oben genannten neuen Phänomene dient das Wort
auch für allerlei weitere Zwecke:
– Führende
Vertreter von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden verwenden
das Wort seit etwa 1993, um auf den verschärften
internationalen Wettbewerb hinzuweisen, der den Spielraum für
Abgaben, Lohnsteigerungen, Bürokratiekosten, Sponsoring oder
den Erhalt der Belegschaft ihrer Auffassung nach begrenzt. Das war
der Kern der Anfang der 90er-Jahre anfänglich noch ohne das
Wort Globalisierung gestarteten
„Standort-Deutschland“-Kampagne.
– Verbunden mit
dieser Gedankenführung wird das Wort als Ansporn zu
erhöhter Leistung angesichts verschärften Wettbewerbs
eingesetzt. Insbesondere leistungsbezogene Auslese- und
Anreizstrukturen im Bildungswesen und Arbeitsmarkt rechtfertigen
sich gerne durch den Verweis auf die Globalisierung.
– Die neoklassische
Ökonomie stellt die verschärfte „Spreizung“
bei Arbeitsentgelten und Vermögenserträgen als eine Art
wirtschaftsgesetzliche Folgeerscheinung der Globalisierung dar: die
„Prämien“ für Pionierleistungen auf dem
globalen Markt sind riesig, besonders wenn es zu zeitweiligen
Monopolsituationen kommt („The winner takes all“);
umgekehrt schwächt die Ersetzbarkeit einfacher und weniger
stark nachgefragter Leistungen die Verhandlungsmacht ihrer
Anbieter.
–
Globalisierungskritische Akteure fassen mit dem Wort die Gesamtheit
dessen zusammen, was sie an der skiz-zierten Entwicklung als
bedrohlich empfinden. Für sie ist die
„Gesetzlichkeit“ der „Spreizung“ eine
interessengesteuerte Behauptung, welcher man politisch begegnen
muss, und sei es zu Lasten gewisser Gewinne an
„Effizienz“.
– Vertreterinnen und
Vertreter von Entwicklungsländern weisen auf die scharfe Kluft
zwischen Süd und Nord hin, die sich im Zuge der Globalisierung
eher noch vertieft hat.
– Die weltweite
Vermehrung der Bevölkerung, die Zunahme des Konsums und die
Globalisierung des Verkehrs sowie der Wirtschaftskreisläufe
haben den Druck auf die globale Umwelt (z.B. Klima, Weltmeere) und
auf eine Vielzahl von lokalen und regionalen Öko-systemen
derart vergrößert, dass heute vielfach von einer
globalen Umweltkrise gesprochen wird.
Für die Enquete-Kommission oder
zumindest für die Mehr-heit ihrer Mitglieder dient das Wort
mit allen seinen Facetten als Herausforderung für die
soziale und ökologische Gestaltung des neuen Prozesses,
nicht zuletzt auch für die Stärkung demokratischer
Kräfte, die als Gegengewicht zu den Spreizungstendenzen
wirksam werden können.
In der Arbeit der Kommission hat immer wieder
die Frage eine Rolle gespielt, ob sich die verschiedenen Akteure
unter den neuen Bedingungen verantwortlich verhalten. Von den
Staaten wird immer wieder eine gute Regierung (good governance)
eingefordert. Recht analog wird von den erstarkten international
tätigen Unternehmen eine „good corporate
governance“ erwartet. Die OECD hat hierzu Richtlinien
erarbeitet, die nun in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden
müssen.
Viele weitere Phänomene können der
Globalisierung zugerechnet werden. Dazu gehören die
Internationalisierung der Medien und der Internet-Kommunikation,
des Tourismus sowie von Kultur und Wissenschaft ebenso wie die
grenzüberschreitende Ausbreitung ökologischer
Krisenerscheinungen und ansteckender Krankheiten. Die Etablierung
des Englischen als globales Verständigungsmittel, die
Vereinheitlichung der Konsumgewohnheiten und die Marginalisierung
kultureller Minderheiten sowie die zunehmende Dominanz des
US-amerikanischen Denk- und Rechtsstils in der Wirtschaft sind
weitere Aspekte der Globalisierung. Nicht alle diese Aspekte
ließen sich in den zwei Jahren seit der ersten Arbeitssitzung
der Kommission analysieren. Manches hat gemäß dem Mandat
der Kommission eine untergeordnete Rolle in der Kommissionsarbeit
gespielt, anderes ist am Ende der jeweiligen Kapitel
alskünftige Aufgabe vorgemerkt.
Es gibt Gewinner und Verlierer
Der Grund für die unterschiedliche
Sichtweise der Globalisierung liegt hauptsächlich darin, dass
es sowohl Gewinner als auch Verlierer gibt, und zwar sowohl
innerhalb nationaler Volkswirtschaften als auch zwischen
diesen.
Die Enquete-Kommission musste sich mit dieser
Situation auseinander setzen. Dabei ergibt sich ein unvermeidlicher
Intensitätsunterschied der Behandlung: Bei den Verlierern ist
der politisch kompensatorische Handlungsbedarf
naturgemäß größer als bei den Gewinnern der
Globalisierung.
Was macht Firmen, Staaten, Kulturen oder
Einzelpersonen zu Verlierern oder Gewinnern? Stark vereinfacht
gesagt sind es Unterschiede bezüglich der Macht, des
verfügbaren Kapitals sowie der Anpassungsfähigkeit. Die
Globalisierung geht mit einer starken Beschleunigung des
Strukturwandels einher. Länder, Unternehmen, Kulturen und
Sozialschichten, die beim beschleunigten Strukturwandel nicht
mithalten können und die weder über Macht noch Reichtum
noch weltweit benötigte Ressourcen verfügen, sind in
Gefahr, abgehängt zu werden und dann als definitive Verlierer
da zu stehen. Gewinner sind umgekehrt diejenigen, die sich nicht
nur rasch anpassen können, sondern womöglich die Richtung
des Strukturwandels – zu ihren Gunsten – bestimmen oder
mitbestimmen können.
Die Globalisierung ist natürlich kein
„Nullsummenspiel“. Es ist zumindest nach der
herrschenden Lehre anzunehmen, dass vermehrter Wettbewerb und
zwischenstaatlicher Freihandel zur Vermehrung des Wohlstands
führen. Dieser steht theoretisch für die Verteilung in
aller Welt zur Verfügung.
Die Frage ist allerdings, wer von der
Vergrößerung des Kuchens profitiert. Die Schwächung
der Verhandlungsposition
derer, die ohnehin die Schwächeren gewesen sind, führt
dazu, dass die Verteilungsungleichheit zunimmt. Auch die
Anpassungsfähigkeit ist zu einem erheblichen Teil eine
Machtfrage. Wer muss sich an wen anpassen? Diese Frage wird
von den Stärkeren meist gar nicht erst gestellt. Sie haben
eine Tendenz, den Strukturwandel für naturgegeben bzw. rein
technologiebedingt zu halten, obschon sie ihn durch ihre
Prioritäten bei Forschung und Entwicklung wesentlich
mitgestalten.
Ein weiterer Anlass zur Besorgnis und zu
politischem Handeln resultiert daraus, dass in diesem Prozess auch
allgemeine Werte und Prinzipien geschwächt oder unterminiert
zu werden drohen. So etwa das demokratische Prinzip in
Wirtschaft und Gesellschaft, die ökologische
Nachhaltigkeit, die Menschenrechte, die soziale und
Verteilungsgerechtigkeit, die kulturelle Vielfalt oder
die Geschlechtergerechtigkeit. Sicher scheint zu sein, dass
die Beschleunigung des Strukturwandels die mit Langsamkeit und
Langfristigkeit einhergehenden menschlichen und sozialkulturellen
Tugenden sowie der ökologischen Regeneration der
Ökosysteme in Gefahr bringt.
Immer wenn es um Machtfragen und die
Charakterisierung von Gewinnern und Verlierern geht, tun sich
politische Kontroversen auf. Sie sind auch in der
Enquete-Kommission nicht ausgeblieben. Die im vorliegenden Bericht
in Kapitel 11 wiedergegebenen
Minderheitenvoten legen hiervon Zeugnis ab.
Wir kommen auf diese Fragen alsbald
zurück, wollen uns aber zuvor mit der spezifisch deutschen
Situation befassen.
Deutschland ist seit den sechziger Jahren
in kontinuierlich wachsendem Maße in die Weltwirtschaft
– mit Schwerpunkt westliches und südliches Europa
– eingebunden. Der seit den sechziger Jahren beobachtete
Außenhandelsüberschuss ist ein zentrales Element der
deutschen Erfolgsgeschichte. Er hat sich auch nach der deutschen
Einheit nach einer kurzzeitigen Abschwächung fortgesetzt, wie
Abbildung 1-5 zeigt.
Selbst in Zeiten weltwirtschaftlicher
Schwäche (z.B. 2001) blieb der
Außenhandelsüberschuss erhalten, wobei die sich
abzeichnende Osterweiterung als ein neuer Motor diente. Die
deutsche Wirtschaft kann, so lässt sich dieses Bild
lesen, insgesamt als Gewinner der Globalisierung angesehen
werden.
Das darf aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass es auch in Deutschland zahlreiche
Verlierer gegeben hat.
Aus Globalisierung und beschleunigtem
Strukturwandel ergeben sich besondere Herausforderungen für
kleine und mittlere Unternehmen. Dass sich die Politik um ihren
Schutz und um Anpassungserleichterungen kümmern muss, hat die
Enquete-Kommission ausführlich und weitestgehend unkontrovers
diskutiert und in Empfehlungen zum Ausdruck gebracht.
Auch in Deutschland sind die Probleme der
Firmen und die Wirkungen der Beschäftigungslage nicht die
einzige Sorge. Die oben erwähnte Verschiebung von Macht und
von Werten und Prinzipien ist auch in Deutschland ein politisches
Thema von hoher Aktualität.
Wenden wir uns wieder der allgemeineren Frage
der Verlierer und Gewinner zu. Plausibelerweise stehen die
Kapitaleigner insgesamt eher auf der Gewinnerseite. Das
Kapital ist strukturell besonders anpassungsfähig und gewinnt
in der Globalisierung an Macht. Es ist äußerst mobil,
insbesondere seit dem politisch herbei geführten Wegfall der
meisten Kapitalverkehrskontrollen. Es kann sich die Orte und die
Staaten weitgehend aussuchen, in denen es die höchsten
Renditen erzielt. Die hohe Mobilität des Kapitals und
korrespondierend dazu die eingeschränkte Mobilität der
Arbeitnehmerschaft wirkt sich entsprechend negativ auf die
Verhandlungsmacht der Gewerkschaften aus. Die Globalisierung
trägt also dazu bei, dass sich die Beziehungen der
Tarifpartner zu Lasten der Arbeitnehmer verändern. Ihre
Bindung an den jeweiligen Standort ist naturgemäß sehr
unterschiedlich. Dass der Globalisierung ein beträchtliches
Bedrohungspotenzial inne wohnt, zeigt sich an der auch in
Deutschland gang und gäbe gewordenen Praxis seitens der
Unternehmerleitungen, ihren Belegschaften und Betriebsräten
mit einer Verlagerung des Standortes ins Ausland zu drohen.
Aus der hohen Kapitalmobilität
resultiert auch ein starker Druck auf die Staaten in ihrem Werben,
in ihrer „Standortkonkurrenz“ um internationale
Investoren. Als Ergebnis der gestärkten Verhandlungsposition
des Kapitals gegenüber den Staaten beobachten wir eine
systematische Senkung der Besteuerung des mobilen Kapitals.
Das ist das Hauptmerkmal des Steuerwettbewerbs. Er kann als
charakteristische Begleiterscheinung der Globalisierung angesehen
werden.
Hoch kontrovers bleiben die Tatsachen der
Steuerverlagerung und der Begünstigung des Produktionsfaktors
Kapital und deren Bewertung. Daher wird mehrheitlich eine
Harmonisierung der Gewinnsteuer, zunächst im Rahmen der
Europäischen Union für dringlich gehalten.
Im Übrigen ist die Effizienz des
Kapitaleinsatzes ohnehin nicht der einzige Maßstab für
Vor- und Nachteile des Geschehens. Die Verteilung von
Lebenschancen und die ökologische Situation sind
nicht weniger wichtig. Und wir beobachten, dass sich weltweit der
Abstand zwischen Arm und Reich laufend weiter
vergrößert. Auf die Welt als Ganzes gesehen, hat sich der
Abstand zwischen dem wohlhabendsten Fünftel und dem
ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung in den letzten
Jahrzehnten verdoppelt (vgl. 1-6).
Ein weiterer Aspekt der wachsenden
Ungleichheit betrifft das Geschlechterverhältnis. Unter den
Armen befindet sich weltweit
ein weit überproportionaler Anteil von Frauen, nämlich 70
Prozent (UNIFEM 2000). Dem Gender Development Index (GDI)
zufolge, der die Lebenserwartung und Bildungschancen sowie das
preisbereinigte Pro-Kopf-Einkommen berücksichtigt, haben in
keiner Gesellschaft der Welt Frauen die gleichen Chancen auf ein
„gutes Leben“ wie Männer. Trotz der
Selbstverpflichtung der Staatengemeinschaft auf zahlreiche
Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen in
der Aktionsplattform von Peking (1995) ist eine Stagnation
bzw. ein leichter Rückgang der Werte festzustellen (vgl.
Abbildung 1-7).
Armut und Elend, zumal wenn sie (über
die Globalisierung der Medien) mit unermesslichem Reichtum an
anderer Stelle konfrontiert sind, können den Nährboden
für ein gewaltsames Auflehnen bilden,
bis hin zu einer Mentalität, die den Terrorismus
akzeptiert.
Allerdings hat die Vergrößerung
des Abstands in den drei zurückliegenden Jahrzehnten recht
unterschiedliche Grün-de gehabt. Manche lokale
Verelendung hatte rein hausgemachte oder aber (in der Sahelzone)
klimatische Gründe. Gerade in den afrikanischen Ländern
wirken die Spät-Folgen der Kolonialisierung (willkürliche
Grenzziehungen, Bürgerkriege, etc.). Daneben hat in den
siebziger Jahren der sprunghafte Anstieg der Ölpreise in
vielen Entwicklungsländern ohne eigene Ölvorkommen zu
Wirtschaftseinbrüchen geführt.
Die insbesondere von der Weltbank und dem
internationalen Währungsfonds als Rezept empfohlene oder
durchgesetzte Exportorientierung von Entwicklungsländern hat,
da sie in einer großen Zahl von Ländern gleichzeitig
erfolgte, seit Anfang der achtziger Jahre zu einem Preisverfall
insbesondere bei Rohstoffen geführt, was die Handelsrelationen
(terms of trade) zu Ungunsten der meisten Entwicklungsländer
deutlich verschlechterte. Dieser Effekt hat in den achtziger Jahren
die Schere zusätzlich aufgerissen. Für viele Länder,
besonders in Lateinamerika, die ihre Rohstofferschließung mit
Krediten finanzierten, kam als verheerende Zuspitzung der
Dollar-„Zinsschock“ von 1979 hinzu. Es trat eine
Situation ein, in welcher die finanziellen Transfers aus dem
„Süden“ in den „Norden“ zeitweise
wesentlich höher waren als die gesamten Transfers durch
Entwicklungshilfe!
Erst in den neunziger Jahren kann man die
Zunahme des Abstands mit der Globalisierung in einen direkten
Zusammenhang stellen. Das zusätzliche Aufklaffen der Schere
steht zwar in einem ursächlichen Zusammenhang mit der in den
vorstehenden Abschnitten skizzierten Machtverschiebung. Aber das
bedeutet keineswegs, dass die Abkoppelung eines Landes aus der
Internationalisierung dessen Lage verbessern würde. Wichtiger
als die Frage der Weltmarktintegration scheint allerdings in allen
Ländern die Frage der „good governance“, der
für das Volk und für interne und externe Investoren guten
Regierungsführung zu sein.
Mit diesen eher beschreibenden Worten ist
natürlich noch wenig darüber gesagt, ob und welche
Strategien es gibt, trotz der einseitig gewachsenen Macht des
Kapitals im Rahmen der Globalisierung die Zahl der Gewinner
wesentlich zu vermehren und die der Verlierer radikal zu
verringern. Allerdings ist es nach aller historischen Erfahrung
höchst unplausibel, dass dieses ohne eine politisch gewollte
und durchgesetzte Kompensation der Machtverschiebung gelingen
kann.
Der Staat schützt
öffentliche Güter
Aus der durchaus
kontroversen Charakterisierung von Gewinnern und Verlierern geht
unter anderem hervor, dass die Marktwirtschaft nicht von alleine
für das Wohl aller sorgt und sorgen kann. Es ist und
bleibt die Aufgabe des Staates, für ausgleichende
Gerechtigkeit zu sorgen und sich um die soziale Lage der Menschen
zu kümmern. Der Staat hat generell für die Sicherung und
Finanzierung der Rechts- und Sozialordnung
und anderer „Öffentlicher Güter“ zu sorgen.
Diese geraten teilweise durch den globalen Beschleunigungsdruck in
Gefahr. Und ihre Finanzierung gestaltet sich schwieriger.
Der Begriff der
Öffentlichen Güter ist nicht streng definiert. In der
politikwissenschaftlichen Diskussion wird darunter u.a. verstanden: der Frieden, die
Beachtung der Menschenrechte, eine intakte Umwelt (wobei das Klima
und die globale Umwelt als globales Öffentliches Gut
bezeichnet wird), soziale Gerechtigkeit, die durch den
Rechtsstaat mit einem staatlichen Monopol gewährte
persönliche Sicherheit, Teile der Infrastruktur sowie ein
fairer Zugang zu derselben, die Bildung, die Pflege der Kultur und
die Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung. Zu den
Öffentlichen Gütern gehört aber auch ein
Mindestmaß an wirtschaftlichem Wohlstand.
Die Notwendigkeit
der Pflege der Öffentlichen Güter durch den Staat nimmt
durch die Globalisierung keineswegs ab. Ihre Sicherung wird jedoch
unter dem Globalisierungsdruck schwieriger. Und der
verschärfte wirtschaftliche Wettbewerb enthält Tendenzen
der systematischen Vernachlässigung insbesondere der
globalen Öffentlichen Güter.
In den USA und in
breiten Kreisen der Wirtschaft hatte sich seit den achtziger Jahren
des letzten Jahrhunderts eine bisweilen verächtliche Haltung
gegenüber dem Staat ausgebreitet. Erst in jüngster Zeit,
unter dem Eindruck eines bedrohlich gewordenen Verfalls der
staatlichen Autorität in vielen Entwicklungsländern und
manchen ehemaligen Ostblockländern sowie unter dem Eindruck
der terroristischen Attacken vom 11. September 2001, wird
vielerorts wieder eine stärkere Präsenz des Staates
gefordert. Nicht gebessert hat sich hierbei aber die
Finanzierungsperspektive vieler öffentlicher Aufgaben, nicht
zuletzt auf kommunaler Ebene.
In der
Gefährdung bzw. Vernachlässigung öffentlicher
Aufgaben, Öffentlicher Güter liegt vielleicht die
wichtigste Gefahr einer Globalisierung, welche sich
hauptsächlich um die Mehrung der privaten Güter
durch die globale Effizienzsteigerung dreht. Bei den
Bemühungen um die Gestaltung der Globalisierung wird man in
jedem Fall der Sicherung der Öffentlichen Güter hohe
Priorität einräumen.
Um
Fehlinterpretationen vorzubeugen, halten wir jedoch fest, dass eben
auch ein breit verteilter privat verfügbarer Wohlstand
im öffentlichen Interesse liegt. Ferner sei darauf
hingewiesen, dass die Globalisierung einzelne Öffentliche
Güter geradezu schützt und mehrt. Zum Beispiel scheinen
Transparenz gegenüber Menschenrechtsverletzungen, die
Verfügbarkeit moderner Umwelttechniken sowie demokratische
Grundstrukturen durch die wirtschaftliche Verflechtung
gestärkt zu werden.
Die Rolle des Staates erschöpft sich
nicht in einer Pflege- und Schutzfunktion für Öffentliche
Güter. Die politische Gestaltung und die internationale
Politikkoordination gehö-ren weiterhin dazu. Im Kontext der
Globalisierung ist hier zweierlei zu beachten:
– Der globalisierungsbedingten Erosion des
auf demokratischer Willensbildung fußenden Staates muss
Einhalt geboten werden. Hierbei sind insbesondere Transparenz und
neue gesellschaftliche Möglichkeiten zur Teilhabe
erforderlich.
– Die staatlichen
Funktionen, insbesondere die Sicherung der Öffentlichen
Güter müssen heute international begriffen und gestaltet
werden. Die internationale Finanzmarktstabilisierung, die Sicherung
oder Herstellung fairer Bedingungen auf Waren-, Dienstleistungs-
und Arbeitsmärkten sowie der Umweltschutz sind unwiderruflich
Aufgaben, die den geographischen Rahmen des Nationalstaates
sprengen.
Auch und gerade der Gestaltungsauftrag des
Staates muss vermehrt im internationalen Raum gesucht werden. Alle
Kapitel diesesBerichts handeln von diesem Auftrag in den
unterschiedlichen Gegenstandsbereichen. Die gesellschaftspolitisch
brisante Verschärfung des Ausleseprozesses ruft nach zumindest
mildernden Eingriffen. Die Marginalisierung von Personengruppen
– nicht zuletzt Frauen – mit unzureichendem Zugang zu
Qualifikation, Bildung und modernen Geräten muss bildungs- und
sozialpolitisch beantwortet werden. Der Raubbau an natürlichen
Ressourcen muss eingedämmt werden.
Global Governance
Mit der Problembeschreibung konnte und wollte
sich die Kommission nicht begnügen. Gesucht waren
Lösungsansätze, die die wirtschaftlichen und politischen
Vorteile der Globalisierung nicht in Frage stellen und geeignet
sind, die aufgetretenen Ungerechtigkeiten und Gefahren zu
überwinden oder zu mildern. Solche Lösungsansätze
systematisch auszubauen und neue Lösungswege für globale
Probleme zu finden, wird eine der größten
Herausforderungen der Politik unter den Bedingungen der
Globalisierung sein. Diese Aufgabe wird inzwischen mit dem Namen
„Global
Governance“ bezeichnet.
Global Governance weist in ihrer allgemeinen Form auf die
Notwendigkeit zur politischen Gestaltung der Globalisierung
hin. Deshalb wird
Global Governance gelegentlich auch mit Globalpolitik
oder Weltinnenpolitik übersetzt. Die Entwicklung
solcher Ansätze ist zunächst einmal Aufgabe der
Regierungen. Diese müssen sich durch vertragliche
Vereinbarungen auf gemeinsame Rechtsnormen und Maßnahmen
einigen. In vielen Fällen ist es erforderlich, auch
internationale Sekretariate und Institutionen für die
Verhandlungsbegleitung, und später für die
Überwachung der Verträge einzurichten.
Alles, was wirklich globale Bedeutung hat,
sollte im System der Vereinten Nationen untergebracht
werden. Aber die Organisation der Vereinten Nationen, die UNO, ist
bislang mit zu schwachen Mitteln ausgestattet, um ihrem Anspruch
gerecht werden zu können. Allerdings muss das System der UNO
auch strukturell reformiert werden, wenn es den in die Vereinten
Nationen gesetzten Erwartungen gerecht werden soll.
Die Zahl der international anzupackenden
Probleme hat ständig zugenommen. Folgerichtig nimmt die Zahl
der internationalen Verträge und Organisationen laufend
zu.
Abbildung 1-8 zeigt an einem für den Schutz
Öffentlicher Güter wichtigen Beispiel die Zunahme von
internationalen Umweltverträgen.
Allerdings kann man aus heutiger Sicht noch
nicht von bedeutenden Erfolgen all dieser Verträge sprechen.
Es sind ausgerechnet die Nationalstaaten, die sich nach
Vertragsabschluss oft nur noch ungern an die eingegangenen
Verpflichtungen erinnern lassen. Die Mühsal mit der
Ratifizierung und Umsetzung des Kioto-Protokolls und der Konvention
zum Schutz der biologischen Vielfalt sind vielleicht die
bekanntesten Beispiele dafür. Das Thema globaler Umweltschutz
zeigt auch eine institutionelle Schwäche im System der
Vereinten Nationen. Längst hätte ein starker
institutioneller Rahmen für den globalen Umweltschutz
geschaffen werden müssen, wie er z.B. für Landwirtschaft
(FAO), Gesundheit (WHO) oder Arbeit (ILO) seit langem existiert.
Die Enquete-Kommission fordert deshalb die Aufwertung des heutigen
Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) zu einer
Weltumweltorganisation.
Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur
Global Governance sind regionale Staatenzusammenschlüsse.
Das Vorzeigemodell hierfür ist die Europäische Union. In
ihr ist bereits ein hohes Maß an Kompetenzverlagerung vom
Nationalstaat auf die regionale Ebene erfolgt – nach dem
Subsidiaritätsprinzip unter weitgehender Wahrung der
nationalen, sub-nationalen und kommunalen Eigenheiten und
Interessen.
Die EU hat auf verschiedenen
Gebieten wichtige Schritte zur Gestaltung der Globalisierung im
Interesse der Menschen und der Öffentlichen Güter
getan:
– Das Problem der
Wechselkursinstabilität zwischen ü 12 EU-Mitgliedern
wurde durch die Schaffung der Euro-Währungsunion
gelöst.
– Durch den
Kohäsionsfonds und die Strukturfonds wurde ein Gegengewicht
zum Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich geschaffen.
– Durch
gemeinschaftliche Richtlinien und ihr Engagement bei globalen
Verhandlungen praktiziert die EU einen grenzüberschreitenden
Umweltschutz.
–
Handelspolitisch drängt sie zunehmend auf das Beachten der
Menschenrechte und sozialer Mindeststandards, so etwa im
„Cotonou-Abkommen“ von 2001 über
Entwicklungszusammenarbeit und Handel mit den afrikanischen,
karibischen und pazifischen „AKP-Staaten“ sowie dem im
Frühjahr 2002 verabschiedeten allgemeinen
Zollpräferenzsystem (GPS).
Aus Europa, speziell aus Deutschland, stammt
auch die Soziale Marktwirtschaft, die oft als Alternative zu einem
auf dem reinen „Shareholder Value“-Prinzip
fußenden Kapitalismus nach angelsächsischem Muster
angesehen wird. Dass die Soziale Marktwirtschaft prägende
Kraft für die EU – ja für ganz Europa – hat,
wurde bereits vielfach und überzeugend dokumentiert. Hier
unterscheidet sich die EU von anderen regionalen
Wirtschaftsräumen wie NAFTA oder Mercosur.
Abbildung 1-9 zeigt, dass die unterschiedliche Herangehensweise
auch zu durchaus unterschiedlichen sozialpolitischen Zuständen
geführt hat.
So vorteilhaft die EU im internationalen Raum
dastehen mag, so sehr leidet auch sie unter einem massiven und von
der kritischen Öffentlichkeit oft betonten
Demokratiedefizit. Hier zeigt sich eine zentrale
Herausforderung beim Ausbau einer
Global Governance. Denn je größer der geographische
Raum ist, auf den sich politische Entscheidungen beziehen, desto
weiter ist die Entscheidungsebene von den Menschen entfernt und
desto weniger autonom können nationale Parlamente entscheiden.
Es muss dem Bundestag und seiner Enquete-Kommission darum gehen,
Wege aufzuzeigen, wie auch in Zeiten der Globalisierung die
Demokratie erhalten und gestärkt werden kann.
Für die globale Dimension sind
praktikable Elemente demokratischer Vertretung noch nicht
entwickelt. Es gilt, ihre Formen und Institutionen den globalen
Bedingungen anzupassen. Viele Menschen fühlen sich bei den
Verhandlungsrunden von demokratisch gewählten Regierungen
über den Welthandel (etwa in Seattle), über die Zukunft
der Europäischen Union (etwa in Göteborg) oder beim
Weltwirtschaftsgipfel (etwa in Genua) nicht mehr vertreten. Auch
Parlamente haben meistens nur geringen Einfluss auf
Gegenstände und Ergebnisse der internationalen
Verhandlungen.
Ein 105-köpfiger EU-Konvent, unter
Beteiligung aller EU-Organe und der nationalen Parlamente, soll in
den kommenden zwei Jahren Schlüsselfragen zur künftigen
Entwicklung der Europäischen Union erörtern und
beantworten helfen sowie einen weit gehenden Vorschlag für
einen neuen EU-Vertrag bzw. eine mögliche Verfassung der EU
erarbeiten. Ziel ist es, die innere und äußere
Handlungsfähigkeit einer sich erweiternden Union in einer
globalisierten Welt sicherzustellen und gleichzeitig auch die
demokratische Legitimität und Transparenz der EU zu
verbessern.
Global Governance muss zur Gewährleistung demokratischer
Mitgestaltungsmöglichkeiten weit über die bis hier
skizzierte konventionelle Regierungsdiplomatie hinaus reichen. Sie
muss den konventionellen Dualismus zwischen dem Staat auf der einen
und der Privatwirtschaft auf der anderen Seite überwinden. Die
Globalisierung der Demokratie ist deshalb nicht realisierbar ohne
eine weit gehende Einbeziehung einer dritten tragenden Kraft:
der Zivilgesellschaft. Diese hat wie die Privatwirtschaft
längst die nationalen Grenzen überwunden und agiert
transnational. Ohne Kooperation mit einer organisierten
Zivilgesellschaft, zu welcher insbesondere Gewerkschaften und
Verbände, Nicht-Regierungs-Organisationen
(Non-Governmental-Organisations; NGOs), Kirchen und
Religionsgemeinschaften gehören, sind der Staat und die
Staatengemeinschaft nicht in der Lage, die gefährdeten
Öffentlichen Güter dauerhaft zu verteidigen.
Tatsächlich ist die Zivilgesellschaft längst auf der
internationalen Bühne präsent: 1-10 zeigt den rasanten
Anstieg der Anzahl der internationalen NGOs seit Ende der siebziger
Jahre.
Die Kirchen haben sich unüberhörbar
in den Diskussionen um globale Gerechtigkeit zu Wort gemeldet, etwa
mit der Erlassjahrkampagne für das Jahr 2000. Die
Gewerkschaften spielen insbesondere bei der Gestaltung eines
sozialen Europa eine konstitutive internationale Rolle. NGOs und
soziale Bewegungen haben immer wieder die Möglichkeit, ihre
Ziele zum Schutz öffentlicher Güter sowohl bei
internationalen Verhandlungen als auch – über die
öffentliche Meinungsbildung – in den Markt einzubringen.
Hier entsteht ein zunehmendes Potenzial der politischen Teilhabe
und Mitwirkung einzelner Bürgerinnen und Bürger an
globalen Fragen. Mitwirkung ist das beste Mittel gegen
Resignation.
Von Bedeutung ist ferner, dass die
Globalisierung erhöhte Anforderungen an Frauen und Männer
im Hinblick auf Mobilität, Bildung und Ausbildung stellt.
Für die Gleichberechtigung von Frauen ist das von besonderem
Belang. Gut ausgebildeten Frauen
eröffnen sich in der globalisierten
Dienstleistungsgesellschaft neue Chancen. Andererseits haben Frauen
weltweit die Hauptlast ökonomischer Wandlungsprozesse zu
ertragen, wie Arbeitslosigkeit, ungleiche Arbeitsverhältnisse
und die Schwächung staatlicher Transferleistungen (UNIFEM
2000). Zudem beschränkt die traditionelle Familienrolle
besonders die Mobilität und Ausbildung von Frauen.
Hinsichtlich der Lösung einer globalen
Gleichstellungspolitik für die Geschlechter stellten sich
viele Fragen. Deshalb hat die Enquete-Kommission in ihrem Bericht
Geschlechtergerechtigkeit („gender mainstreaming“) in
allen Kapiteln berücksichtigt und sich in einem eigenen
Kapitel mitdieser Problemstellung eingehend befasst.
Dem Staat kommt bei der Aktivierung der
Zivilgesellschaft für die Ziele der Demokratie und für
den Schutz ü der Öffentlichen Güter eine neuartige
Rolle zu. Duldung oder Steuerbegünstigung (beim Nachweis
entsprechender Zwecke nach der Abgabenordnung) reichen nicht aus.
Von besonderer Wichtigkeit ist der freie Zugang zu Informationen,
wie er in den USA Verfassungsrang hat. Für den im
Globalisierungskontext wichtigen Bereich des Umweltschutzes ist in
diesem Zusammenhang die Konvention von Aarhus 1998 bahnbrechend
gewesen, die aber noch an der Schwäche eines auch in der EU
äußerst schleppenden Ratifizierungsprozesses leidet.
Nicht weniger wichtig für eine
gedeihliche
Global Governance sind die privatwirtschaftlichen Akteure. Aus
der Privatwirtschaft stammt schließlich der größte
Teil des zur Verteilung kommenden Mehrwerts in Waren und
Dienstleistungen. Es geht darum, die Berücksichtigung und
Erhaltung der Öffentlichen Güter auch in der
Privatwirtschaft stärker zu verankern. Ansätze
hierfür gibt es bei der Entwicklung und Beachtung von
Verhaltenskodizes – etwa der OECD – insbesondere
für die global tätigen Unternehmen.
Die weltweite politische Gestaltung der
Globalisierung – Global Governance – steht noch am
Anfang. Das Abschlusskapitel dieses Berichts skizziert die
Landkarte der
Global Governance. Der Deutsche Bundestag wird sich nicht
zuletzt mit diesem Kapitel auseinandersetzenmüssen.
Empfehlungen der Kommission und
Ausblick
In den zehn Kapiteln dieses Berichts finden
sich über 200 Handlungsempfehlungen. In der Mehrzahl haben
ihnen alle Fraktionen und Mitglieder der Kommission zugestimmt.
Manche, wie etwa Vorschläge zu einer stärkeren
Regulierung der Finanzmärkte oder auch die Einführung
einer Devisenumsatzsteuer, blieben kontrovers. Manche Empfehlungen
gehen auch bewusst und deutlich über das hinaus, was heute in
Deutschland und anderen Ländern Regierungshandeln ist. Die
Kommissionsmehrheit ist von der Zuversicht getragen, dass sich in
Deutschland, in Europa und der Welt zunehmende Unterstützung
auch für die teilweise weiter gehenden Empfehlungen für
Maßnahmen der sozialen, ökologischen und demokratischen
Gestaltung einstellen wird.
Die Minderheitenpositionen zu den Texten und
den Empfehlungen finden sich geschlossen am Ende des Berichts in
Kapitel 11.
Die Arbeit am hoch aktuellen politischen
Thema der Globalisierung ist noch in keiner Weise als beendet
anzusehen. In den gut zwei Jahren, die zwischen der ersten
Arbeitssitzung der Kommission und der Verabschiedung des
Abschlussberichts lagen, konnte nur eine begrenzte Zahl der Fragen
aus dem umfassenden Mandat bearbeitet werden, und auch diese nur
mit einer gewissen Vorläufigkeit. Die Kommission hat am
Schluss der jeweiligen Kapitel einvernehmlich die wichtigsten offen
gebliebenen Fragen benannt. Dies betrifft sowohl Fragestellungen
aus dem Einsetzungsbeschluss (Drs. 14/2350), die wegen der
begrenzten Zeit nicht oder nicht ausreichend behandelt werden
konnten, als auch neue Fragestellungen, die erst während der
Arbeit der Kommission aufgeworfen wurden. Die Kommission empfiehlt
dem neuen Bundestag, erneut eine Enquete-Kommission einzusetzen,
die sich mit den hier benannten offen gebliebenen Fragestellungen
beschäftigt.
Die Enquete-Kommission wünscht und
hofft, dass die im Abschlussbericht dargelegten Ergebnisse ihrer
Arbeit im politischen Raum ebenso wie in der Öffentlichkeit,
auch im akademischen Rahmen, sowohl im Inland wie im Ausland
aufgegriffen und erörtert werden.