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Jens Mattern
Ein Moment der Stille
60 Jahre Warschauer Aufstand
Dass Warschau eine aufsteigende Finanzmetropole ist, dass hier
die Nachfrage nach High-Class-Büroflächen weiter steigt,
dass diese Stadt das größte Einkaufszentrum Europas zu
bieten hat, all dies wird am 1. August um 17 Uhr wieder in den
Hintergrund treten. Wenn die Sirenen heulen, halten
Straßenbahnen, Busse und Autos an, und in der Millionenstadt
herrscht ein Moment der Stille. Die Stadt gedenkt dann des
Ausbruchs der Erhebung von 1944, dieses Jahr zum 60. Mal. Der
Jahrestag soll besonders gefeiert werden, mit der Eröffnung
eines Museums und mit vielen internationalen Gästen, darunter
auch Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Vor 60 Jahren griff die polnische Untergrundarmee "Armia
Krajowa" (AK), im deutschen Sprachgebrauch "Heimatarmee" die
faschistischen Besatzer der Stadt an, um gegenüber der
heranrückenden Roten Armee nicht als passiv Befreite
dazustehen. Stalin ließ den Vormarsch seiner Truppen jedoch am
östlichen Weichselufer stoppen, so dass schnell
herangezogenene Einheiten der Wehrmacht und SS-Verbände den
Aufstand der vornehmlich antikommunistischen polnischen
Widerständler niederschlagen konnten. In den 63 Tage
währenden Kämpfen starben etwa 180.000 Polen, vornehmlich
Zivilisten. Die polnische Haupttadt wurde nach der Kapitulation der
Aufständischen fast vollständig gesprengt und
niedergebrannt. In der Volksrepublik hielt man die Mitglieder der
Heimatarmee nicht in Ehren, sie galten als reaktionär, noch
bis Ende der 40er Jahre lieferten sie sich Kämpfe mit
kommunistischen Einheiten. Nach Stalins Tod im März 1953, ab
der so genannten Tauwetterperiode, konnte der nationale Komplex
"Aufstand" in Filmen wie Andrzej Wajdas "Der Kanal" (1957) und in
der Literatur verarbeitet werden, solange explizite
Schuldzuweisungen an die Sowjetunion ausblieben. Doch erst die
Wende 1989 erlaubte eine offene Diskussion über den Aufstand,
der aufgrund der großen Zerstörungen in Warschau nicht
von allen Polen gutgeheißen wurde und wird. Wo Kämpfe
stattfanden, wurden Gedenktafeln errichtet. Das 50-jährige
Jubiläum 1994 war dann Gelegenheit, den Aufstand in aller
Feierlichkeit zu würdigen. Der eingeladene russische
Präsident Boris Jelzin nahm nicht an der Feier teil, Roman
Herzogs Anwesenheit und seine Bitte um Vergebung wurden dagegen in
Polen wohlwollend aufgenommen. Die Ankündigung des
Bundespräsidenten zwei Monate vorher, er fahre anlässlich
des Warschauer Ghetto-Aufstands von 1943 nach Polen,
bestätigte jedoch den Verdacht östlich der Oder,
Deutschland habe ein selektives Geschichtsverständnis. Der
Eiserne Vorhang und das Gedenken an den Holocaust versperrte lange
den Blick auf andere Verbrechen im Zweiten Weltkrieg in Polen, so
der Historiker Wolf-Dieter Dorn.
Aber auch östlich der Oder war das Interesse an der eigenen
Geschichte Ende der 90er-Jahre eher verhalten. Bei einem Treffen
ehemaliger AK-Kämpfer am 17. September, anlässlich des
Einmarsches der Sowjetunion 1939, sahen nur alte Leute bei der
Parade der Veteranen zu.
Die Debatte um das Progrom in der ostpolnischen Kleinstadt
Jedwabne, die Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen sowie
die preußische Treuhand, die einstige Grundstücke und
Häuser der Deutschen zurückklagen will, haben das
Bewusstsein für die Aktualität der jüngsten
Geschichte wieder sensibilisiert. Lech Kaczynski,
Stadtpräsident von Warschau und Mitgründer der
konservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit", wollte Deutschland
sogar eine Rechnung für die Zerstörung Warschaus
ausstellen, sollten Vertriebenenverbände gegenüber Polen
Entschädigungsforderungen stellen. Die Initiative von Erika
Steinbach, Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, im
Französischen Dom in Berlin eine Gedenkfeier zum Warschauer
Aufstand abzuhalten, kam als Geste nicht an; selbst liberale Polen
sehen darin nur eine Provokation. Gerhard Schröders Satz aus
der Normandie: "Der Zweite Weltkrieg ist endgültig
vorüber" wurde von dem auflagenstarken Nachrichtenmagazin
"Wprost" polemisch aufgegriffen. Im Gegensatz zur eher
institutionalisierten deutschen Gedenkkultur soll nun das Erinnern
an die Erhebung in Warschau regelrecht "mobilisiert" werden. In den
Straßenbahnen finden sich kleine Plakate, die auf das
Museumsprojekt hinweisen, Veteranen geben Erinnerungsstücke
für das Museum ab, unter Schülern und Studenten werden
freiwillige Helfer gesucht, und Schulklassen beteiligen sich mit
Schreibwettbewerben zum Thema "Aufstand". Ein Wettlauf mit der Zeit
sind auch die Bauarbeiten an einem alten Elektrizitätswerk im
Westen Warschaus. Das dort entstehende Museum soll mit Hilfe von
alten Fotos, Filmen, Multimedia und Zeitzeugen der jüngeren
Generation Polens mehr Vaterlandsliebe beibringen. Jens Mattern
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