Manfred Funke
Im Kampf gegen Hitler standen sie auf einsamen
Posten
Neuere Literatur zum 20. Juli 1944
Es war nicht nur "ein langer Weg zum 20. Juli"
(Joachim Fest); er war zudem windungsreich, verschlungen und
bizarr. Davon zeugen die etwa 40 von Guido Knopp ermittelten
Putschpläne, Komplotte und Attentate. Die Vielfalt der
militärischen und zivilen System-Opposition
(Rettungswiderstand, Resistenz, Renitenz, Anpassung als
Selbstbewahrung) gegen das NS-Regime findet zudem ihren
Niederschlag in derzeit über 2.300 wissenschaftlichen
Publikationen.
Um so begrüßenswerter ist das neue
Werk des Freiburger Militärhistorikers Gerd R.
Überschär. Er bündelt handbuchartig die großen
Themenkomplexe des Widerstands und reichert Überblickswissen
mit Verweisen auf Spezialliteratur an. Kurzbiographien der
Mitverschwörer Stauffenbergs sowie klug komponiertes
Bildmaterial empfehlen den Band besonders für den
unterrichtlichen Einsatz.
Zwei Schwerpunkte seien herausgestellt:
Erstens wird die überaus spannend geschilderte, logistische
Meisterleistung der Konspiration von Informierten und zugleich
Isolierten unter dem steigenden Geheimhaltungsdruck und der
Zögerlichkeit der hohen Generalität nachgestellt.
Zweitens machen die Täterprofile deutlich, dass nicht
primär die desolate militärische Lage im Juli 1944 zum
Handeln zwang. So betonte Generaloberst Ludwig Beck, dass der
Staatsstreich nicht aus politisch-militärischen Gründen,
sondern aus ethisch-moralischen Motiven erfolgen müsse. Dabei
mag diese Entscheidung forciert worden sein durch Hitlers Ablehnung
der Rommel-Denkschrift vom 15. Juli, in der dieser das Ende des
"ungleichen Kampfs" vorgeschlagen hatte. Nach dem 20. Juli forderte
der Krieg bis zum Mai 1945 pro Tag durchschnittlich 16.000
Todesopfer, wie Joachim Fest errechnete. Eine Kapitulation
hätte zumindest den Luftterror beendet.
Wie sehr sich die Fortsetzung des Krieges
immer heftiger nach innen verlagerte, dokumentiert
Überschär im Kapitel über den Widerstand der Frauen.
Von 12.000 aus politischen Gründen Hingerichteten waren zehn
Prozent Frauen, die sich vornehmlich im Widerstand von links
betätigt hatten. Familienangehörige der
Militäropposition kamen in Sippenhaft. Himmler drohte mit
Ausmerzung, da "schlechtes Blut" in den Adern
fließe.
Während der deutsche Wehrmachtsbericht
am 20. Juli 1944 allenthalben "schwere Abwehrkämpfe" meldete,
brach die innere Front der Verschwörer nicht nur wegen Hitlers
Überleben ein. Große Teile der Bevölkerung
verurteilten das Attentat; die geheimen Stimmungsberichte des SD
belegen die erfolgreiche Indoktrination der Goebbels-Propaganda. In
der Wahrnehmung vom Ereignis und Vermächtnis strukturiert
Überschär detailkundig, warum der Widerstand eine
Koalition von Einsamen war.
Die Kreisauer
Der "Kreisauer Kreis" war wohl die
bedeutendste Organisation der Opposition, benannt nach dem
Moltkeschen Familiengut Kreisau in Schlesien. Er war Kontaktzentrum
für den militärischen, kirchlichen wie gewerkschaftlichen
Widerstand. Ohne feste Organisation bildeten etwa 20 Personen die
wichtigsten Pfeiler der Opposition, unter ihnen besonders Helmuth
James Graf von Moltke, Peter Yorck von Wartenburg, Carlo
Mierendorff und Theodor Haubach.
Ihnen waren auf den wissenschaftlichen
Tagungen der "Forschungsgemeinschaft 20. Juli" Vorträge und
Diskussionen zwischen Wissenschaftlern und Verwandten der
"Kreisauer" bei mehrfacher Teilnahme Freya von Moltkes gewidmet.
Aus den Workshops entstand ein Buch bewegender Eindringlichkeit. Es
bezeugt das Ringen um die Entschlusskraft des Gewissens, das Suchen
nach Auswegen, die Sorge vor Gefährdung der Mitstreiter, den
Kampf um die Würde des eigenen Tuns in seiner
Vergeblichkeit.
"Wo immer Deutschland in Not stand",
heißt es im letzten Brief Haubachs vor seiner Hinrichtung
(gemeinsam mit Moltke, Erwin Planck und Eugen Bolz am 25. Januar
1945 in Plötzensee), "stand auch immer ich. Einen
kleinmütigen und verzagten Angeklagten werden die Herren in
mir nicht kennen lernen."
Nicht nur moralische Integrität, sondern
auch intellektuelle Souveränität kennzeichnen die
führenden Kreisauer. So schreibt Moltke an Yorck am 17. Juni
1940, als ganz Deutschland über Frankreichs Niederlage jubelt:
"Nun, da wir damit rechnen müssen, einen Triumph des
Bösen zu erleben, und während wir gerüstet waren,
alles Leid und Unglück auf uns zu nehmen, stattdessen im
Begriffe sind, einem viel schlimmeren Sumpf von äußerem
Glück, Wohlbehagen und Wohlstand durchwaten zu müssen,
ist es wichtiger denn je, sich über die Grundlagen einer
positiven Staatslehre klar zu werden."
In der Widerstandsrezeption der 60er-Jahre
wurden die Neuordnungspläne der Kreisauer als konservativ
kritisiert. Sie atmen in der Tat den Geist einer primär
staatsbezogenen ordnungspolitischen Gesittung, resultierend aus der
Weimarer Erfahrung des krassen Parteiengezänks,
selbstsüchtiger Freiheit und mangelnder Staatsverantwortung,
die durch reformierte ständestaatliche Elemente aufgefangen
werden sollten.
Widerstand im Südwesten
Eingebunden in den geistigen Widerstand
gewann das "Freiburger Konzil" wirtschaftspolitischer
Sachverständiger für die Nachkriegsplanung große
Bedeutung. Seit 1941/1942 wurden die Professoren bei den
richtungspolitischen Gegensätzen innerhalb der
Verschwörung als Berater herangezogen. Sie bildeten teilweise
unter dem Dach der Akademie für Deutsches Recht
(Arbeitsgemeinschaft Preispolitik) und des Reichspreiskommissariats
(bis 1935 von Goerdeler geleitet), ein Sammelbecken der
Wirtschaftsopposition, allen voran Günter Schmölders. Sie
arbeitete nicht nach Regeln konspirativen Verhaltens. Denn die
Theorien einer neuen Wettbewerbsordnung waren trans-ideologisch
insofern, als sie ihren Ausgang nahmen bei der Weltwirtschaftskrise
von 1929. Gesucht wurde als Gegenstück zur Plan- und
Befehlswirtschaft eine unternehmerische Dynamik der Besten und
Tüchtigsten, die zugleich Verantwortung für soziale
Stabilität übernahmen und Marktwirtschaft nicht als
Piratentum für Profiteure verstanden.
In einer Denkschrift für Bonhoeffer zur
künftigen politischen "Gemeinschaftsordnung" (verfasst von
Constantin von Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe) sah Gerhard
Ritter ein Dokument "christlicher Sittlichkeit". Im Ringen solcher
Auffassungen mit den teilweise sozialdarwinistischen Konnotationen
Goerdelers oder des "preußischen Sozialismus" bei Johannes
Popitz fügten sich die Elemente des Ordo-Liberalismus der
Freiburger erst nach 1948 zur "sozialen Marktwirtschaft". Ihre
Erfolge hatten die gänzlich veränderten Rahmenbedingungen
zur Voraussetzung und sollten eine gewisse Marginalisierung der
Gewerkschaften und die Skepsis gegen den Parlamentarismus in den
Vorstellungen der Freiburger nicht verschleiern.
Dazu ermahnt Hans Mommsen im Geleitwort zur
magistralen Studie Daniela Rüthers über einen "dritten
Weg" des deutschen Widerstands. Er hegte Wirtschaftsgedanken, die
"gerade nicht auf eine parlamentarische Demokratie nach westlichem
Vorbild hinausliefen". Statt Rückkehr zum bilateralen Monopol
von Unternehmern und Gewerkschaften vor 1933 wurde die
Konzentration der Arbeitsbeziehungen in eine nebulöse
"ständische Zusammenfassung" (Seite 242)
favorisiert.
Vielleicht hier und da die lebensweltliche
Prägung der Widerständigen innerlich zuwenig begreifend,
bietet die Bochumer Dissertation auf wissenschaftlich höchstem
Niveau faszinierende Zugänge zur politischen Lebenskultur von
Intellektuellen im Herrschaftsalltag der Diktatur.
Solche Mikrokosmen geistigen Widerstands
formten sich nicht von ungefähr im deutschen Südwesten
aus, der Heimat des Liberalismus. Wie sehr seine Traditionen die
Kraft zum Widerstehen auffüllten, beschreibt Joachim
Scholtyseck für den Stuttgarter Kreis. Hugo Oft widmet sich
den Freiburgern, Michael Kißener der Karlsruher
Widerstandsgruppe. Klaus Eisele porträtiert
Mitverschwörer Carl Goerdelers. Rolf-Ulrich Kunze berichtet
über die Widerstandsforschung seit 1994. Katja Schrecke, Anja
Borgstedt, Jochen Meyer stellen die Literatur zum 20. Juli seit
1984 auf knapp 100 Seiten vor (Akteure, Attentate, Personenkreise,
Strukturen des Widerstands).
Als nicht untypisch gerade für Liberale
erwies sich die Heterogenität der Zukunftskonzepte, oft nur
situativ verklammert durch den Verschwörer-Kurier Carl
Goerdeler. Oberbürgermeister Strölin versuchte in
Stuttgart vergeblich, Rommel für den aktiven Widerstand zu
gewinnen. Eugen Bolz wurde hingerichtet. So mancher sah erst im
endgültigen Zusammenbruch die Chance zum Neubeginn. Dieser war
künftig, das war Grundkonsens, dem Weltbild zu verpflichten,
das Moltke vorgab. Danach sollte die letzte Bestimmung des Staats
darin bestehen, Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein.
"Dann ist es ein gerechter Staat."
Die Entfaltung dieser Rechtsauffassung des
Verschwörerkreises stellt Peter Steinbach ins Zentrum seiner
Galerie des Widerstands. Steinbach lockert und läutert
zugleich die aufmüpfige Verkrampfung einer
Historikergeneration, die sich gegen die solitäre
Herausstellung der Konspirationen des Adels wandte.
Ein Exponent dieses Milieus war Hans Hasso
von Veltheim. Im ersten Weltkrieg führte Veltheim Ballons und
Luftschiffe, damals die modernste Technik der Feindaufklärung.
Danach tummelte sich der bildungshungrige und kunstsinnige
Ex-Offizier in der Münchener und Berliner Bohème. 1927
übernahm Veltheim das väterliche Gut und Schloss im
Saalekreis nahe Bitterfeld. Seine Kontakte zu den Spitzen der
gebildeten Welt machten das Schloss zu einem Begegnungszentrum, das
nach 1933 das Misstrauen der Nazis vor Ort ständig
steigerte.
Auf Anraten seiner Verbindungsleute im
Auswärtigen Amt trat Veltheim 1937 in die NSDAP ein, um seine
Auslandsreisen und Devisenzuteilungen zu sichern. Unterwegs
leistete Veltheim Botendienste für die Opposition, dies
ebenfalls für den bedrohten Rabbiner und Dozenten an der
Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, Leo
Baeck.
Der Totentanz beginnt
Vier Tage vor Stauffenbergs Attentat notierte
er: "Man hat den Eindruck, dass die Panik und der Totentanz
beginnen". Vor ihm suchte Veltheim möglichst viele zu retten.
Sein Besitz wurde zum riesigen Notzelt. Kurz vor Kriegsende schrieb
ihm Marie-Elisabeth Lüders, nach dem Krieg prominente
FDP-Politikerin: "Man atmet kaum noch vor Angst um die
Lieben."
In sensibler Regie gestaltet Veltheims
Biograph Walther den Zusammenprall von Weltoffenheit und
Hassdoktrin, von Tapferkeit und Beharren im Dickicht des Verrats,
der Denunziation, der Lethargie und Rückversicherungskniffe.
Zu Kriegsbeginn 1939 hatte Veltheim sarkastisch notiert: "Der
Nationalsozialismus ist die Lösung der sozialen Frage durch
den Krieg." Schon das macht neugierig auf einen Zeitzeugen, der die
meisten aus dem Widerstand kannte.
Im gemeinsamen Nein zur Diktatur gingen viele
eigene Wege. "Man würde", so der Bonner Zeithistoriker Joachim
Scholtyseck, "den durchaus disparaten Interessen der
Mitverschworenen nicht gerecht, wenn man annähme, es habe in
den Grundfragen einer politischen Neuordnung für die Zeit nach
dem Attentat Einigkeit geherrscht". Aber haben nicht gerade diese
couragierte Pluralität und die Würde des Kompromisses im
Bekenntnis zum Rechtsstaat als streitbarer Demokratie die
Fundamente gelegt für das moderne Deutschland? Und war nicht
der erfolgreiche Kampf gegen Okkupation und totalitäre
Anmaßung Voraussetzung für die Zusammenschlüsse
Europas?
Ob der Preis der Rebellion der Einsamen zu
hoch war, ist mehr denn je eine Frage an uns selbst.
Günter Brakelmann
Die Kreisauer - Folgenreiche
Begegnungen.
Biographische Skizzen zu Helmut James Graf
von Moltke, Peter Yorck von Wartenburg, Carlo Mierendorff und
Theodor Haubach.
LIT Verlag Münster 2003, 412 S., 24,90
Euro
Peter Steinbach
Der 20. Juli 1944. Gesichter des
Widerstands.
Siedler Verlag, München 2004; 354 S.,
24,- Euro
Gerd R. Überschär
Stauffenberg. Der 20. Juli 1944.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M.
2004;
271 S., 19,90 Euro
Daniela Rüther
Der Widerstand des 20. Juli auf dem Weg in
die soziale Marktwirtschaft.
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der
bürgerlichen Opposiion gegen Hitler.
Schöningh Verlag, Paderborn 2003; 491
S., 68,- Euro
Klaus Eisele, Rolf-Ulrich Kunze
(Hrsg.)
Mitverschwörer -
Mitgestalter.
Der 20. Juli im deutschen
Südwesten.
UVK Verlag, Konstanz 2004; 270 S., 14,90
Euro
Karl Klaus Walther
Hans Hasso von Veltheim. Eine
Biographie.
Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale
2004,
308 S., 25,- Euro
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