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Das Parlament
Nr. 29-30 / 12.07.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Bernd Jürgen Wendt

In den Fesseln überlebter Traditionen erstarrt

Stephan Malinowskis wegweisende Studie über den deutschen Adel

Zwar herrscht Einigkeit darin, dem "ostelbischen Junkertum" im "Bündnis der Eliten" (Fritz Fischer) eine erhebliche Mitschuld am Untergang der Weimarer Republik und an der Wegbereitung für den Nationalsozialismus zuzuweisen. Aber der Adel im 20. Jahrhundert gehörte bisher nicht gerade zu den bevorzugten Themen der Geschichtswissenschaft. Dies dürfte sich mit der eindrucksvollen Pionierstudie von Malinowski gründlich ändern.

In einer gelungenen Synthese von Kultur-, Sozial-, Politik- und Organisationsgeschichte und anhand typischer Adelsbiographien verfolgt der Autor in seiner Dissertation den komplexen Entwicklungsprozess unterschiedlicher Adelsgruppen von traditionellen konservativen Leitbildern im 19. Jahrhundert über den Anschluss an die Neue Rechte schon im Kaiserreich mit ihrem ideologischen Gebräu aus aggressivem Nationalismus, völkischem Antisemitismus und radikalem Antiliberalismus, über den Schock von 1918 und die allgemeine Orientierungslosigkeit nach dem ruhmlosen Fall der Kronen, allen voran die Hohenzollern-Krone, bis hin zu Hitlers Machteroberung.

Den Autor interessieren Voraussetzungen und Verlauf dieses Prozesses, seine konkreten Ausformungen und Motive und seine politischen und sozialen Auswirkungen. Breit und umfassend sind Materialbasis und Belegstruktur der Untersuchung: Etwa 400 Adelsautobiographien, zahlreiche Adels- und Organisationsarchive, Nachlässe, Personalakten und Adelsperiodika wurden zum erstenmal gründlich ausgewertet.

"Den Adel" hat es nie gegeben. So ist es auch folgerichtig, dass Malinowski die einzelnen Gruppen des alten Adels (unter Verzicht auf den im 19. Jahrhundert nobilitierten Adel) sorgfältig sozial, wirtschaftlich, kulturell, konfessionell, lebensgeschichtlich, regional und auch generationsspezifisch differenziert. Groß war zum Beispiel der Abstand zwischen dem Adelsproletariat, einem verarmten und infolgedessen frühzeitig schon politisch radikalisierten preußisch-protestantischen Kleinadel und wohlhabenden, großgrundbesitzenden süddeutsch-katholischen Grandseigneurs und Standesherren aus bayerischem Uradel. Dessen ungeachtet verbanden sie über alle gesellschaftlichen Gräben hinweg doch ein relativ homogener adliger "Habitus" und eine homogene adlige Mentalität.

Adliger "Habitus"" ist methodisch und analytisch ein durchgängig tragfähiger und aussagekräftiger Leitbegriff des Buches. Seine Elemente: Stolz auf die Familie, Landbindung und Großstadtferne, Charakterbildung statt bürgerlicher Bildung, Kult der Kargheit und das Bewusstsein von Herrschaft und "Führertum".

Im Mittelpunkt der Analyse steht das ambivalente, zwischen wachsender Affinität und konstanter Abstoßung oszillierende Verhältnis zwischen den einzelnen Adelsgruppen und dem Nationalsozialismus. Welche adligen Leitbilder und Denkmuster waren anschlussfähig an die NS-Ideologie? In einer fatalen Unterschätzung der braunen Dynamik hofften adlige Kreise auf ein starkes "Führertum" in der Hoffnung, hier selbst die führende Rolle zu spielen.

Gemeinsam war den allermeisten die Ablehnung von Republik und Demokratie. Verbindend waren hingegen Antibürgerlichkeit, Antisemitismus, Aussichten auf eine neue "Landnahme im Osten" und vor allem Chancen auf eine "standesgemäße" Karriere in den traditionell adligen Berufsfeldern in Armee, in Bürokratie und Diplomatie.

Doch sollten auch die Barrieren nicht übersehen werden, die viele Adlige zögern ließen, sich dem braunen Sog rückhaltlos auszuliefern: christliche Tradition, Herrendünkel gegenüber der geforderten Einschmelzung in eine plebejische "Volksgemeinschaft", Sozialisierungsängste und die nicht unbegründete Furcht, von dem nur noch rassisch definierten "Neuadel aus Blut und Boden" (Walther Darré) an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

Es blieb als Identitätsmerkmal, wie es Alf Lüdtke einmal treffend formuliert hat, ein gewisser adliger "Eigen-Sinn". Der lange und verschlungene Weg "vom König zum Führer", den ein Großteil des preußischen Adels schon im späten Kaiserreich geistig und politisch eingeschlagen hatte und den der Autor so kompetent und fesselnd verfolgt, endete mit der "deutschen Katastrophe" (Friedrich Meinecke) zugleich in der Selbstzerstörung eben dieses Adels. Daran änderte auch nichts die irreführende postume Stilisierung des 20. Juli 1944 als letzte Erhebung "des Adels".

Eine verständliche Sorge vor generalisierenden Aussagen über den Adel mag den Verfasser zu einer voluminösen Detailverliebtheit verführt haben. Sie wird jedoch durch eine straffe und übersichtliche Gliederung und leserfreundliche fortlaufende Rückbezüge auf die Leitfragen aufgewogen. Bernd Jürgen Wendt

Stephan Malinowski

Vom König zum Führer.

Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat.

Akademie Verlag, Berlin 2003; 660S., 59,80 Euro

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