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Volker Kronenberg
Die quälende "Warum"-Frage
Rafael Seligmanns lesenswerte
Hitler-Biographie
Rafael Seligmann zählt ohne Zweifel zu den profiliertesten
Analysten deutscher Befindlichkeiten. Als Essayist, Roman- und
Sachbuchautor, als studierter Politologe und Zeithistoriker hat er
in zahlreichen Beiträgen zur politischen Kultur der
Bundesrepublik ebenso scharfsinnige wie auch scharfzüngige
Interpretationen vorgelegt, die eines gewiss nicht sein wollten:
"politisch korrekt".
Seligmann zieht es vor, gedanklich gegen den Strom zu schwimmen.
So auch in seinem neuesten Werk, einer vom Verlag als "innovative
Hitler-Biographie" apostrophierten Monographie über das
Verhältnis der Deutschen zu "ihrem Führer". Mit seinem
Werk, so der Klappentext, sei Seligmann eine "fesselnd geschriebene
Studie voller neuer, anregender und provozierender Erkenntnisse"
gelungen.
Bei allem Respekt vor Autor und Werk: um eine innovative
Biographie Adolf Hitlers handelt es sich bei der tatsächlich
fesselnd geschriebenen, anregenden und durchaus auch provozierenden
Studie nicht - sie könnte es mit ihren 330 Seiten in
Anbetracht der voluminösen, teils gar mehrbändigen
Detailstudien von Leben und Wirken des deutschen Diktators, die in
den vergangenen Jahren vorgelegt worden sind, auch kaum sein. Was
Seligmann vorgelegt hat, ist weniger eine Biographie, denn ein wohl
gelungenes Psychogramm der deutschen Diktatur, konkret: des
Wechselspiels von Führer und Volk im Zeichen des durch
Verführung und Gewalt charakterisierten
nationalsozialistischen Herrschaftssystems.
Es sind drei einleitend formulierte Fragen - "Warum machten die
Deutschen Adolf Hitler zu ihrem Führer und verbanden ihr
Schicksal bedingungslos mit seiner Person? Weshalb zogen sie
für ihn in einen ungewollten Krieg und kämpften bis zur
vollständigen Niederlage an seiner Seite? Aus welchem Grund
wurden manche im Namen Deutschlands und Hitlers sogar zu
Mördern?" -, die das Interesse des Autors durch 28 Kapitel
lenken und dabei stets auf die von "Liebe und Furcht bestimmte
Beziehung zwischen dem Führer und seinem Volk" fokussiert
sind.
Obwohl keine wirklich neuen historischen Erkenntnisse
präsentiert werden, kann die Lektüre des Buches vor allem
aus zwei Gründen nachdrücklich empfohlen werden: Zum
einen kompiliert es in überschaubarem Rahmen den aktuellen
Stand der zeithistorischen Forschung zu einem Thema, das bereits
Bibliotheken füllt. Zum anderen zeichnet sich die Studie -
verfasst von einem biographisch selbst unmittelbar betroffenen
Autor - durch ein hohes Maß an Differenziertheit und
argumentativer Abgewogenheit aus, die gerade in thematisch
einschlägigen Publikationen der letzten Jahre nicht immer im
gebotenen Maße gegeben war.
Beispiel: Weder stellen für Seligmann die Deutschen Hitlers
willige Vollstrecker dar, noch gibt es für ihn einen
historisch determinierten deutschen "Sonderweg" nach Auschwitz.
Dass es, den historischen Tatsachen entsprechend, manche Deutsche
waren, die zu Mördern wurden, führt bei Seligmann
keineswegs zu einer Relativierung der Mitverantwortung eines
Großteils der deutschen Bevölkerung für die
Radikalisierung des Antisemitismus hin zu der historisch
singulären "Endlösung der Judenfrage". Im Gegenteil: "Die
Deutschen waren keine mörderischen Antisemiten. Sie sahen
jedoch weg, tolerierten oder profitierten gar vom
Völkermord."
Seligmanns Buch ist der Versuch des historischen Verstehens,
mithin auch der Versuch einer Antwort auf die bis heute bohrende
Frage nach dem "Warum" des Hitlerschen Triumphs, der dann in der
"deutschen Katastrophe" (Friedrich Meinecke) endete. Und dies im
Sinne des Falsifikations-Prinzips Karl Poppers, das Joachim Fest -
dessen Hitler-Biographie von 1973 bis heute im Grunde
unübertroffen ist - einmal in die Worte kleidete: "Als ob die
Wissenschaft, genauso wie das Denken überhaupt, nicht entweder
dauernde Revision oder gar nicht ist." Eben dieses Ethos aller
Wissenschaften fordert Seligmann für die Historiographie und
speziell für die NS-Forschung ein. Politisch heute vielleicht
nicht ganz korrekt, gewinnbringend dafür um so mehr. Volker
Kronenberg
Rafael Seligmann
Hitler. Die Deutschen und ihr Führer.
Ullstein Verlag, Berlin 2004; 336 S., 22,- Euro
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