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Thomas Emons
Unser Zeitalter der Extreme
Geschichtswissenschaft angesichts der
Globalisierung
Wer die Gegenwart begreifen will, muss die Geschichte studieren.
Jedes Problem, jeder Konflikt und jede Kontroverse hat letztlich
Ursachen, die in der Vergangenheit begründet sind. Doch wie
und von wem wird unser Geschichtsbild geprägt? Diese Frage
beantwortet der Trierer Geschichtsprofessor und Experte für
die Geschichte der Geschichtswissenschaft Lutz Raphael erstaunlich
umfassend und fundiert. Er beleuchtet Theorien, Methoden und
Tendenzen seines Faches und wählt als zeitlichen Rahmen seiner
Geschichte der Geschichtswissenschaft das 20. Jahrhundert, - das
"Zeitalter der Extreme".
Raphaels Buch, das nach einer im Sommersemester 1997 gehaltenen
Vorlesung entstand, überzeugt durch eine sowohl chronologisch
als auch inhaltlich klare Gliederung. Der Autor verliert sich nicht
im Dickicht geschichtswissenschaftlicher Richtungen, sondern
konzentriert sich bewusst auf die Hauptströmungen der modernen
Geschichtswissenschaft. Deren Ursprung datiert er auf die Wende vom
19. zum 20. Jahrhundert. Hier sieht er den Übergang von einer
oft literarischen und romantisierenden Geschichtsschreibung zur
einer verwissenschaftlichten Forschung, die sich in
Lehrstühlen, Fachzeitschriften und festgelegten Standards
institutionalisiert.
Raphael beschreibt, wie sich die Geschichtswissenschaft mit
ihrem Anspruch auf kritische Quellenforschung sowie umfassende
Archiv- und Literaturkunde systematisch von volkstümlicheren
Formen der historischen Gelehrsamkeit abgrenzt. Er macht aber auch
deutlich, dass die wissenschaftliche Geschichtsschreibung im
modernen Informations- und Medienzeitalter keineswegs das Monopol
auf die Schaffung eines Geschichtsbildes besitzt, sondern mit
Schule und Massenmedien konkurrieren muss.
Die Sprache des Autors stellt für den in der
Fachterminologie nicht bewanderten Leser eine Herausforderung dar.
Diese sollte aber nicht von der Lektüre abhalten. Der
besondere Reiz dieses Buches geht von seinem international
vergleichenden Ansatz aus, der Kontinuitäten und Brüche
in der modernen Forschung aufzeigt und damit deutlich macht, dass
Geschichtswissenschaft immer auch eine hochpolitische und von
aktuellen Zeitumständen beeinflusste Angelegenheit ist, die
nicht nur unser Bild von der Vergangenheit, sondern auch den Blick
auf die Gegenwart prägt.
Das wird in der Charakterisierung der in Frankreich
begründeten sozial- und mentalitätsgeschichtlich
ausgerichteten "Annales"-Tradition ebenso sichtbar wie in der
Darstellung der vor allem durch die Sowjetunion forcierten
marxistischen Geschichtsschreibung, die Geschichte als
gesetzmäßigen und von sozio-ökonomischen
Klassenkämpfen geprägten Fortschrittsprozess begriff. Wir
erkennen, wie Geschichte, ob nationalistisch oder kommunistisch
eingefärbt, im 20. Jahrhundert auch als politisch
ideologisierte Legitimationswissenschaft herhalten musste.
Was Raphaels Buch besonders interessant macht, sind die
Entwicklungslinien, die er am Beispiel ausgewählter
Standardwerke beschreibt. Das ist zum Beispiel der Übergang
von der Institutionen- und Ereignisgeschichte zur eher
herrschaftskritischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die ganz
gezielt auch Methoden ihrer geistes- und
gesellschaftswissenschaftlichen Nachbardisziplinen integriert. Und
wenn er zeigt, wie die vom Vorbild des westlichen
Wissenschaftsbetriebes geprägte Geschichtsforschung langsam,
aber sicher aus ihrer national und europäisch orientierten
Perspektive in eine immer stärker international und
vergleichend ausgerichtete Richtung wechselt, dann wird deutlich,
dass auch unser Geschichtsbild von der Globalisierung des 21.
Jahrhunderts ebenso beeinflusst wird wie durch die Weltkriege,
Diktaturen, und internationalen Konflikte des zu Ende gegangen 20.
Jahrhunderts. Thomas Emons
Lutz Raphael
Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien,
Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart.
Verlag C.H. Beck, München 2003; 293 S., 14,90 Euro
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