Thilo Castner
Neue Risiken - weniger Sicherheit
Dokumentation des 31. Deutschen
Soziologiekongresses
Die Welt ändert sich. Im Zuge der Globalisierung haben sich
in den letzten Jahren mehr und mehr neoliberale Ideen durchgesetzt.
Privatisierug und Deregulierung drängen die nationalen
Regierungen ins Abseits. Aufgaben, die bislang dem Staat oblagen,
werden den Individuen überlassen. Der Markt soll's richten.
Erfreulich und anerkennenswert, dass der deutsche
Soziologenkongress 2002 sich dieser Problematik unter dem
Generalthema "Entstaatlichung und Soziale Sicherheit" gestellt
hat.
Die von Jutta Allmendinger, Vorsitzende der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie (DGS), herausgegebene
Dokumentation der Leipziger Gespräche gibt einen
hervorragenden Einblick in den gegenwärtigen Stand der
soziologischen Forschung. 400 Einzelbeiträge, auf über
1.200 Seiten in 95 Fachreferate gebündelt, spiegeln Breite und
Tiefe der Themen wider, mit denen sich der Kongress auseinander
gesetzt hat.
Es ist naturgemäß unmöglich, auf die Vielzahl und
Vielfältigkeit der einzelnen Artikel detailliert einzugehen.
Zentraler Schwerpunkt in zahlreichen Beiträgen sind die
negativen Auswirkungen des Neoliberalismus. Die "Entmachtung des
Staates" bringt eine Fülle neuer Risiken, für den
Einzelnen wie für die Gesellschaft als Ganzem.
Dauerarbeitsplätze werden zur Ausnahme, die Entlohnug
stagniert, weil der Wettbewerb zu Kostensenkungen zwingt und bald
nur noch Beschäftigung findet, wer jung, permanent flexibel
und lernfähig ist. Schwarzarbeit blüht ebenso wie
illegale Unternehmertätigkeit.
Der Markt versucht Niedriglöhne durchzudrücken und
tarifliche Absprachen auszuhebeln. Anspruch auf Unterstützung
soll nur noch haben, wer zu einer Gegenleistung bereit ist.
Globalisierung, wie Georg Vobruba konstatiert, "untergräbt
nationale Wohlfahrtsstaaten". Zwischenmenschliche Beziehungen
werden belastet, Kinderlosigkeit erhöht sich, Solidarität
wird erschwert und soziale Ungleichheit gefördert.
Ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses war die
"gesellschaftliche Verarbeitung von Terror". Das staatliche
Gewaltmonopol wird einerseits durch Menschen in Frage gestellt, die
aus persönlicher Verzweiflung oder infolge religiöser
Verblendung skrupellos Gewalt ausüben. Andererseits aber gibt
der Staat teilweise bereits freiwillig seine Sonderstellung auf,
indem er private Dienstleister beauftragt, für ihn
kriegsähnliche Aufgaben zu erfüllen, wie in jüngster
Zeit im Irak zu beobachten ist. Hinzu kommt, dass die von den
Massenmedien bereitwillig weitergegebenen Katastrophenmeldungen den
Normalbürger abstumpfen und somit Terror und Gewalt zu etwas
Alltäglichem machen. "Der Krieg", so Armin Nassehi, "ist der
moderne Normalfall."
Andere Themen waren die "Entstaatlichung von
Ernährungsrisiken", dargelegt am Beispiel BSE; "Sicherheit und
grenzenlose Gefahr in der (post)modernen Stadt" trotz
Überwachung und beginnender Selbstorganisation; die
Konsequenzen des Entstaatlichungsprozesses für Wissen, Bildung
und Unterhaltung; "Konfliktlinien einer sich formierenden
gesamteuropäischen Gesellschaft" wie regionale Ungleichheiten,
ein noch nicht überwundener Nationalismus sowie ein nicht
akzeptiertes Mehrheitsverfahren.
Zu Recht fragt die Herausgeberin in ihrem Vorwort, wer denn die
über 1.200 Seiten lesen werde. Sicherlich wohl etliche der
Teilnehmer, ferner Studierende und Promovierende des Faches, kaum
aber eine breite Öffentlichkeit. Zwar werden in den zwei
Bänden eine Unmenge aktueller und lebenswichtiger Dinge
angesprochen. Den meisten Autoren und Autorinnen ist es jedoch
nicht gelungen, ihren wissenschaftlichen Jargon zu überwinden
und so zu referieren beziehungsweise zu schreiben, dass die
Aussagen ohne Vorkenntnisse verstanden werden.
Hinzu kommt: Es fehlt dem Doppelband eine Zusammenfassung, in
der die Beiträge zueinander in Beziehung gesetzt, das
Gemeinsame herausgearbeitet und unterschiedliche Standpunkte kurz
erläutert werden. Bleibt zu hoffen, dass der Kongress 2004 in
München die Vorträge publikumsfreundlicher anbietet und
das dann später herausgegebene Kompendium eine ordnende
Einleitung enthält. Thilo Castner
Jutta Allmendinger (Hrsg.)
Entstaatlichung und Soziale Sicherheit.
Verhandlungen des 31. Kongresses der Deutschen Gesellschaft
für Soziologie in Leipzig.
Leske & Budrich, Opladen 2003.
Teil I und II zusammen 1243 S., incl. CD-ROM 80,- Euro
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