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Christoph Oellers
Zivilcourage als Unterrichtsfach fürs
Leben
Schülerinnen kämpfen um Stolpersteine
des Gedenkens
Das war voll der Schock." Lucia Hundt kann ihre Heimatstadt
nicht verstehen. Die 17-jährige Schülerin des
Luisengymnasiums hat gemeinsam mit ihrer Freundin und
Klassenkameradin Anya Deubel dafür gesorgt, dass im Stadtteil
Bogenhausen der Kölner Künstler Gunter Demnig seine
ersten beiden Stolpersteine in München verlegen konnte. Doch
der Stadtrat hatte etwas dagegen und ließ die Steine wieder
entfernen.
Dabei stößt Demnig mit seinen Gedenksteinen, die er in
Bürgersteige einlässt, um an letzte Wohnorte deportierter
Juden und Widerstandskämpfer zu erinnern, normalerweise bei
den Gemeinden auf großes Interesse. Inzwischen hat er
bundesweit über 3.500 Betonwürfel mit beschrifteten
Messingplatten verlegt. Doch in München soll anders der Opfer
des Nationalsozialismus gedacht werden. Münchens
Oberbürgermeister Christian Ude spricht von einer
"Münchner Linie" und verweist vornehmlich auf Charlotte
Knobloch, Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in
München, die den Gedanken unerträglich findet, dass mit
Schuhen auf Namen von Opfern getreten wird.
"Hier wohnte Fritz Jordan. Ermordet am 25.11.
1941 in Kaunas", stand auf einem der zehn mal zehn Zentimeter
kleinen Steine. Daneben lag der Stein für Paula Jordan. Auf
Anregung ihres früheren Sozialkunde- und Geschichtslehrers
Wunibald Heigl machten die Schülerinnen die Stolpersteine zu
ihrem Thema, an dem im Rahmen der jährlich stattfindenden
Projekttage gegen Rassismus bis zu 15 Schüler mitarbeiteten.
Sie erforschten das Leben der Jordans, sammelten Geld und
Unterschriften für die Steine. Die Schülerinnen trafen
sich mit der Nichte, der in London lebende Sohn gab sein
Einverständnis für diese Form des Erinnerns.
Lucia und Anya sind nicht erst seit den Stolpersteinen politisch
aktiv. Das über 180 Jahre alte städtische Luisengymnasium
in der Nähe des Hauptbahnhofs, einst als Schule für
höhere Töchter gegründet, hat den Ruf,
gesellschaftliches Engagement zu fördern. Und das bedeutet,
dass man von einem linken Gymnasium spricht. Es gehört zu
einem europaweiten Netzwerk von Schulen, die sich den Kampf gegen
Diskriminierung auf ihre Fahnen geschrieben haben. "Schule ohne
Rassismus. Schule mit Courage", steht auf einem Schild neben dem
Haupteingang. Lucia und Anya, die als Einzelkinder bei ihren allein
erziehenden Müttern wohnen, schulen bereits
Sechstklässler in der Wahrnehmung ausgrenzenden Verhaltens.
"Wir versuchen, Vorurteilen vorzubeugen oder sie abzuschaffen",
sagt Anya.
Letztes Jahr ist ihre Klasse mit Lehrer Heigl nach Wien gefahren
und hat dort nach rechtsradikalen Graffiti Ausschau gehalten. Mit
einer anderen Klasse fuhr Heigl nach Rostock. Für seinen
Unterricht ist praktizierte Zivilcourage zentral.
So ist er mit seiner zehnten Klasse zur Verlegung der Steine
gekommen, die an einem Dienstagvormittag Ende Mai stattfand.
"Unterrichtsgang", nennt er das. Es sei darum gegangen, eine Form
gewaltlosen zivilen Ungehorsams kennen zu lernen. "Die Schüler
haben mitbekommen, wie es ist, wenn man was illegal macht."
Illegal. Demnig hat die beiden Steine für das Ehepaar Jordan
in der Mauerkircher Straße ohne Rechtsgrundlage in den Gehweg
gefügt. Er hat das schon öfter gemacht, so in Berlin und
Freiburg. Es ging jeweils gut, weil die Stadträte im
Nachhinein die Aktionen absegneten. "So was hätten wir eben
auch erwartet", sagt Anya. Sie hatte mit Lucia als Patinnen der
Steine von der Schulleitung für zwei Stunden frei bekommen.
Der Sohn Jordans, der 1938 als zwölfjähriger nach England
geschickt worden war, reiste eigens aus London an, legte Flieder
auf die Steine seiner Eltern und fand ein paar Worte: "Es wird nie
wieder so sein, dass ich München als meine Heimat empfinden
kann. Aber durch die Steine fühle ich mich zum ersten Mal
wieder ein wenig daheim." Das Gefühl währte drei
Wochen.
"Dass die Stadt so reagiert, war schon heftig", sagt Anya. "In
würdevoller Form", heißt es aus der Pressestelle des
Oberbürgermeisters, seien die Steine auf dem jüdischen
Friedhof unter zwei Bäumen nun verlegt worden. "Was ist da
würdevoll, wenn auf dem Stein steht `hier wohnte´, und es
ist auf dem Friedhof."
Anya versteht vor allem nicht, dass es die Stadt nicht für
nötig hielt, sie und Lucia oder Herrn Jordan zu informieren.
"Das ist sehr ungewöhnlich. Normalerweise wird das bei jedem
falsch abgestellten Auto gemacht." Anya und Lucia geht es nicht
darum, Verbotenes zu tun. Sie sind beeindruckt vom Konkreten und
Privaten, die diese Art des Gedenkens besitzt. "Das ist mal was
vollkommen anderes", sagt Lucia. Dass aus den anonymen, nicht
vorstellbaren sechs Millionen Ermordeten der Shoah, die im
Geschichtsunterricht Lernstoff waren, Einzelne sichtbar werden,
indem der kleine Stein mit Messingplatte nun vor dem letzten
Wohnort liegt. Andererseits ist beiden wichtig, dass die Steine
kein Gedenken verordnen, wie das zentrale Feiern und Mahnmale tun,
sondern dass es Sache jedes Fußgängers bleibt, wenn er
einem solchen Stein begegnet, sich Gedanken zu machen.
Nun ist es für die Schülerinnen eine Frage der
Zivilcourage, nicht klein beizugeben, das städtische Nein
nicht zu akzeptieren, Unterschriften zu sammeln, in der Innenstadt
Mahnwachen abzuhalten. Was sie sehr ärgert, ist die Art und
Weise, wie sie die Stadt behandelt: von oben herab und leicht
despektierlich, als ob sie kleine Mädchen wären, die sich
im blinden Aktionismus üben und von nichts eine Ahnung haben.
Sie beschleicht ständig das Gefühl, belehrt werden zu
sollen, nicht aber angehört zu werden. So auch jüngst,
als die SPD-Ratsfraktion sie zum Gespräch einlud. "Das hat
wenig gebracht. Von Gespräch konnte da nicht die Rede sein",
meint Anya. Und Lucia bilanziert: "Wir hätten erwartet, dass
sich Ude mehr Mühe gibt." Beide wollen nun versuchen, mit Frau
Knobloch, der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde, in
Kontakt zu treten. "Man kann auf jeden Fall von der Haltung der
Kultusgemeinde nicht auf die der jüdischen Bürger
schließen." Der Unterstützung des Initiativkreises
Stolpersteine um den Künstler Wolfram Kastner und den
Schriftsteller Uwe Timm sind sich die beiden gewiss. Christoph
Oellers
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