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Johannes Wendland
Mit dem Feldstecher bei der Beerdigung der
Oma
Bis heute hat die Berliner Mauer Spuren in der
Stadt und im Leben der Menschen hinterlassen
Wenn die Bäume im Winter kahl sind, kann
die Berliner Krankenschwester Elke Kielberg von ihrem
Wohnzimmerfenster aus auf dem gegenüber liegenden Friedhof die
Grabstelle ihrer Familie sehen. Dort wurde im Oktober 1963 auch
ihre Großmutter bestattet. Elke Kielberg war damals 15, an der
Beerdigung konnte sie aber nicht teilnehmen. Wofür nichts
geringeres als die Weltgeschichte verantwortlich ist. Zwei Jahre
zuvor war die Berliner Mauer gebaut worden. Noch heute sieht man
den Todesstreifen als Brachland. Am 13. August jährt sich der
Jahrestag der Erbauung zum 43. Mal.
Die Oma, so erzählt sie, hatte vor ihrem
Tod die Bestattung in der Familiengruft angeordnet. Eine eigentlich
nahe liegende Idee - genauso wie von ihrer Wohnung beträgt
auch der Weg vom Lazarus-Krankenhaus, in dem sie gestorben war, bis
zum Grab keine 100 Meter Luftlinie. Doch wie die Wohnung lag auch
das kirchliche Hospital im Westberliner Bezirk Wedding, der
Friedhof aber im östlichen Bezirk Mitte. Zwischen beiden Orten
längs der Bernauer Straße verlief nun die
Mauer.
Also hatten die Nachkommen ein Problem. Sie
mussten eine Ausnahmegenehmigung organisieren, dazu eine
Bescheinigung, dass die Leiche "seuchenfrei" sei. Nach einer
Trauerfeier im Wedding wurde der Sarg zum Übergang
Heinrich-Heine-Straße gebracht, dort samt Kränzen in
einen Leichenwagen der Ostberliner Stadtverwaltung umgeladen und
schließlich auf dem Friedhof in das Grab versenkt. "Mit einem
Feldstecher haben wir die Beerdigung über die Mauer von einem
Hochstand aus beobachtet", erinnert sich Elke Kielberg. Erst zu
Weihnachten, als den Westberlinern das erste Passierscheinabkommen
wieder Besuche im Ostteil der Stadt ermöglichte, konnte sie
mit ihrer Mutter das Grab besuchen.
Solche Geschichten erzählen hier an der
Bernauer Straße alle Alteingesessenen - absurde Geschichten
von einem absurden Alltag, den die Geschichte diktiert hat. Abrupt
hatte der Mauerbau die täglichen Wege der Menschen im Kiez
unterbrochen. Auch die von Elke Kielberg, die an der Ecke
Hussitenstraße/Bernauer aufgewachsen ist und dort immer noch
lebt. Einkäufe im Osten, der nachmittägliche Besuch der
Rollschuhbahn in der Gartenstraße oder der Sonntagsausflug zum
Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain - alles
plötzlich vorbei. Doch am schlimmsten war, dass die Familie
getrennt wurde. Ihre Kusine, die für sie - ein Einzelkind -
wie eine Schwester war, lebte auf der anderen Seite. "Am Nachmittag
wollten wir bei meiner Tante und ihr zum Kaffeetrinken
vorbeikommen, aber wir standen am Nordbahnhof und kamen nicht mehr
rüber", erinnert sie sich, und es klingt, als wäre es
gestern gewesen. Schon morgens um acht Uhr war Elke Kielbergs
Mutter entrüstet nach Hause gekommen, nachdem sie eine Zeitung
kaufen wollte. Die Straßen, die quer zur Bernauer Straße
in Richtung Mitte verliefen, die Acker-, Garten-,
Strelitzerstraße, waren mit Stacheldraht versperrt worden. Und
kurz danach begannen die DDR-Kampfgruppen, die Straßen zu
vermauern.
Ganz Berlin traf der Mauerbau ins Mark, doch
was die Teilung der Stadt mit der Bernauer Straße machte,
wirkt besonders bizarr. Entlang der knapp anderthalb Kilometer
langen Straße zwischen Jahnstadion und dem Nordbahnhof ist der
Verlauf der Mauer noch heute klar zu erkennen. Immer noch ist der
rund 75 Meter breite ehemalige Todesstreifen überwiegend
unbebaut, eine Brache parallel zur Straße, die in ihrer ganzen
Länge zweigeteilt war: die nördliche Straßenseite,
die beiden Bürgersteige und der Fahrdamm waren Westen, die
südliche Straßenseite Osten - genau ab der
Häuserfassade.
Dahinter wurde die Grenze nach und nach
hermetisch: Zunächst vermauerten die DDR-Grenzer die
Häuser, später rissen sie sie ab - bis auf die
Erdgeschossmauern, die in die Mauer integriert wurden. Erst Ende
der 70er-Jahre ersetzte die mehr als drei Meter hohe Mauer aus
Betonelementen die letzten Fassadenreste, an denen immer noch die
Aufschriften der alten Geschäfte standen.
Spurensuche im Kiez
Hartmut Richter, ein alter Kiezbewohner mit
höchst bewegtem Leben, führt Schul- und Besuchergruppen
durch die Bernauer Straße, im Auftrag der Gedenkstätte
Deutsche Einheit, die am unteren Ende der Straße liegt. Er
schärft den Blick der Besucher für die Spuren, die noch
auf die frühere Bebauung verweisen - Treppenabsätze,
Gullys, Gitterroste, die über Kellerfenstern angebracht waren.
Im Boden befinden sich noch die Fundamente und Keller, erklärt
er, und an manchen Stellen auch noch die Überreste der
Tunnels, durch die noch bis 1973 immer wieder Menschen die Flucht
in den Westen versuchten - bis es Stasi, Volkspolizei und
DDR-Grenztruppen durch ihre immer massivere Präsenz in den
mauernahen Stadtteilen unmöglich machten, dass noch jemand
unbemerkt einen Tunnel grub.
Hartmut Richter war im August 1961 gerade 13
Jahre alt, und als mitten in Berlin der Eiserne Vorhang
herunterkrachte, fand er sich auf der falschen Seite wieder. Wie
oft zuvor hatte er, der im brandenburgischen Werder aufwuchs, seine
Schulferien bei seiner Cousine im Wedding verbracht. Nun konnte er
zunächst nicht zurück. Erst nach einigen Tagen holte ihn
ein offizielles Fahrzeug ab und brachte ihn zu seinen Eltern in die
DDR zurück. Was er in der Bernauer Straße miterlebt
hatte, ließ ihn aber nie mehr los. Viele Bewohner der
Häuser, die zum Osten Berlins zählten, hatten noch
versucht, auf den Bürgersteig und damit in den freien Westen
zu springen. Einige wie die 78-jährige Ida Siekmann verletzten
sich dabei tödlich. Westberliner Feuerwehr und Polizei
versuchten auf der Bernauer Straße, den Flüchtenden zu
helfen, oft vergeblich.
Richter zog seine ganz eigenen Konsequenzen.
Nach einem ersten gescheiterten Fluchtversuch, der ihm eine
Bewährungsstrafe eingebracht hatte, durchschwamm er im August
1966 im Süden Berlins den Teltow-Kanal. Vier Stunden brauchte
er dafür. "Ich bin mehr getaucht als geschwommen, um nicht
aufzufallen", schildert er.
So waghalsig die Flucht, so abenteuerlich
verlief sein weiteres Leben. Nach einigen Jahren zur See zog er
1970 in den Wedding. Aus Hass auf die DDR schleuste er mehr als 30
Mal über die Transitstrecken Flüchtlinge in den Westen,
bis er geschnappt und abgeurteilt wurde. Knapp sechs Jahre saß
er in DDR-Haft, unter anderem im gefürchteten Gefängnis
in Bautzen, bis er von der Bundesrepublik freigekauft
wurde.
Das Skandalon der Teilung blieb auch im
Westen sein Lebensthema. Mit Protestaktionen machte er
Schlagzeilen. So warf er einmal, "bei günstigem Westwind", von
der Aussichtsplattform am Ende der Bernauer Straße
Flugblätter in den Osten. Von dieser Aktion existieren
gestochen scharfe Fotos, auf denen Richter mit wehender Haarpracht
gut zu erkennen ist. Diese Bilder entdeckte Richter aber erst nach
der Wiedervereinigung - als er Einblick in seine Stasiakten
nahm.
Auch für Manfred Fischer überlagert
sich die Gegenwart in der Bernauer Straße immer wieder mit den
Bildern der Vergangenheit. Seit 1975 ist er Pfarrer der
Versöhnungsgemeinde. Doch die Kirche in der Bernauer
Straße, die seiner Gemeinde den Namen gab, hat er nie
betreten. Der gründerzeitliche Backsteinbau lag mitten im
Todesstreifen, auch er ein Opfer der Grenzziehung in der Bernauer
Straße. Wie die Wohnhäuser war er im August 1961
zugemauert worden, weil die Kirche im Osten, der Eingang aber in
Richtung Westen lag. Die Kirche diente später den Grenztruppen
als Abstellkammer und Verließ für die Schäferhunde,
die im Todesstreifen als Wachhunde eingesetzt wurden.
Im Januar 1985 sprengten DDR-Grenzer die
Kirche. Sie stand einfach im Weg. "Das Schiff brach nach der ersten
Sprengung zusammen", erinnert sich Fischer, "doch der Turm
widerstand. Erst sechs Tage später fiel er nach einer weiteren
Sprengung."
Mit Mahngottesdiensten und
Schweigemärschen versuchte Fischer in den folgenden Jahren, an
den Verlust der Gemeindekirche zu erinnern. Als die Mauer gefallen
war, ging er im Osten auf Spurensuche nach den Überresten der
alten Kirche. Die Glocken tauchten wieder auf, dazu Teile des
Altars und die eiserne Turmspitze, die beim Sturz beschädigt
wurde.
Diese Relikte sind heute in der Kapelle der
Versöhnung aufbewahrt, die die Gemeinde vor vier Jahren auf
den Fundamenten der alten Kirche errichtet hat - als schmuckloses
Oval in Lehmstampftechnik mit einer Hülle und einem Dach aus
Holz. Unter den Lehm sind Mauerteile der gesprengten Kirche
gemischt worden. In einer Nische ist durch eine Glasscheibe ein
Blick in den Untergrund freigegeben: Im Boden zu sehen ist die 1961
von Grenzern vermauerte Kellertür der alten Kirche und ein
Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg, der bei den Erdarbeiten
für die Kapelle gefunden wurde.
60.000 Besucher zählte die
symbolträchtige Kapelle im vergangenen Jahr, erzählt
Pfarrer Fischer stolz. Hier finden auch die offiziellen Staatsakte
zum 13. August und 9. November statt. Über den ehemaligen
Kolonnenweg und die Ackerstraße führt der Weg zur
benachbarten Gedenkstätte Deutsche Einheit, an deren
großen Bronzewand dann Kränze niedergelegt werden, die an
Bau und Fall der Mauer erinnern.
Den Tag, nachdem die Mauer fiel, hat Elke
Kielberg noch deutlich in Erinnerung. Als sie mittags zu ihrer
Arbeit in einem Krankenhaus in Moabit wollte, muss-te sie zu
Fuß gehen. Alle Busse steckten hoffnungslos im Stau. Und auch
die Bank, auf der sie Geld holen wollte, war verstopft. Die
DDR-Bürger standen nach dem Begrüßungsgeld an. Die
Einheit begann mit Beschwernissen. "Erst als ein paar Tage
später meine Kusine vor meiner Tür stand, habe ich voll
realisiert, was da passiert war", sagt sie mit einem
Lächeln.
In den kommenden Monaten rücken in der
Bernauer die Baufahrzeuge an. Die Straße wird eine neue
Oberfläche erhalten. Die Straßenbahn, die bislang wie zu
DDR-Zeiten am Jahnstadion auf der Ostseite endete, wird über
den Nordbahnhof hinaus bis zum künftigen Hauptbahnhof
verlängert. Viele Spuren, die heute im Straßenbild noch
zu entziffern sind, werden dann verschwinden. Die einstmals
geteilte Stadt wächst ein weiteres Stück zusammen - und
lässt wieder etwas von ihrer Vergangenheit
zurück.
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