Luise Wagner
Entführt, verhaftet und liquidiert
Buch der Toten: 1.000 Opfer stalinistischer
Repression bekommen Namen
Der Grenzpolizist Werner Wendt mochte die Elbe, die trübe
und gemächlich an ihm vorbei floss. Nur im Stillen dachte er
daran, einmal hinüber zu schwimmen. In das kleine
mecklenburgische Flussdorf Kietz an der Zonengrenze zum Westen war
der Oberwachtmeister nur versetzt worden, weil es nach dem Krieg
kaum noch Männer im Land gab. Es war eine Begnadigung,
vielleicht aber auch eine Falle. Hinter ihm lagen drei Hungerjahre
in der Kriegsgefangenschaft im russischen Charkow. Nur weil sich
Wendt zum unbeliebten Dienst in der neu gegründeten
Grenzpolizei verpflichtete, wurde er früher entlassen und
durfte nach Deutschland ausreisen. An einem Septembermorgen 1950
wurde er per Telegramm aus dem Urlaub auf seinen Stützpunkt
gerufen. Noch auf dem Weg nahm ihn ein Greiftrupp gefangen.
Seiner Nichte, Monika Bunk, ist das Rätsel um das
Verschwinden ihres Onkels zur Lebensaufgabe geworden. Mühselig
hat die Greifswalderin das Schicksal wie ein Mosaik
zusammengesetzt: Die Männer waren von der Staatssicherheit und
hatten den Grenzwächter ins Gefängnis nach Schwerin
gebracht, von dort ging es nach Berlin-Lichtenberg und mit dem Zug
nach Moskau. Am 18. April 1951 wurde Werner Wendt im
Butyrka-Gefängnis erschossen. Der Vorwurf lautete: Verrat am
Vaterland und Mitgliedschaft in einer antisowjetischen
terroristischen Untergrundorganisation. Vom Tod ihres Onkels hatte
Monika Bunk erst 40 Jahre später 1997 vom Roten Kreuz
erfahren. In der DDR waren Nachfragen stets abgeschmettert worden.
Dass ihr Onkel Mitglied Spion gewesen sein soll, wie ihr
erklärt wurde, hatte Monika Bunk nie geglaubt. "Das war
Verleumdung. Er hätte längst flüchten können,
wenn er das gewollt hätte." Später erfuhr sie: nicht nur
Werner Wendt war abgeholt worden. Die ganze Wachstube aus Kietz war
verhaftet worden als Bande von Terroristen. Sechs junge Männer
wurden zum Tode verurteilt, und die anderen sollten für 25
Jahre in den Gulag zum Arbeitsdienst, den nur zwei von ihnen
überlebten.
Heute decken Historiker immer mehr Details über die
stalinistische Repression aus der Frostphase des Kalten Krieges
auf. Bis 1990 war die Verfolgung Deutscher durch sowjetische
Besatzungsorgane kein Forschungsgegenstand. Das Berliner
Historische Forschungsinstitut Facts & Files hat in
Zusammenarbeit mit der internationalen Gesellschaft Memorial in
Russland und der Stiftung Aufarbeitung die Schicksale von 1.000
deutschen Opfern der Repression namentlich erfasst. Alles Menschen,
die zwischen 1950 und 1953 in der DDR verhaftet und von
sowjetischen Militärtribunalen zum Tod verurteilt wurden.
Dabei agierte die Staatssicherheit bei den Nacht- und
Nebel-Aktionen an vorderster Front. Sie lieferte die
Verdächtigen an die sowjetischen Geheimpolizei (NKWD) aus. In
Schnellverfahren wurden die Opfer von so genannten Sowjetischen
Militärtribunalen (SMT) verurteilt.
Die Todgeweihten durften ein Gnadengesuch stellen, was nur in
Einzelfällen positiv entschieden wurde. Dann gab es statt des
Genickschusses den Verweis für 25 Jahre in ein Arbeitslager.
Über das Gnadengesuch entschied offiziell der oberste Sowjet,
tatsächlich aber Stalin und der interne Kreis seines
Politbüros.
Wer dem System zu unbequem war, wurde denunziert und
ausgeliefert. Dabei galt jede Kritik schnell als
konterrevolutionäre Handlung. In ihrer Rechtsprechung
ließ sich die Militärjustiz wesentlich von den
"Bestimmungen über Staatsverbrechen" leiten, die das
Zentralkomitee 1927 verabschiedet hatte. Man bediente sich der
vielen Varianten des berüchtigten Artikels 58 des sowjetischen
Strafgesetzbuches. So waren denn die Urteile überwiegend
politisch motiviert: Staatsverleumdung, Beihilfe zu Spionage oder
Verbindung zu feindlichen Agenten.
Willkür der Militärtribunale
Deportiert wurden auch Deutsche, die als Kriegsgefangene zuvor
entlassen worden waren. Allein aus Westberlin und Westdeutschland
ließ die sowjetische Militärgeheimpolizei 131 Menschen
entführen oder im Osten verhaften. Zu den Opfern zählten
einfache Landarbeiter, Handwerker oder Lehrlinge. Doch meist traf
es Intellektuelle: Studenten, Professoren und Politiker wurden
entführt. Betroffen waren viele politisch Aktive der
Ostbüros der FDP, CDU und SPD, aber auch zahlreiche Vertreter
ostdeutscher Parteien. Prominentes Beispiel für die
Willkür der sowjetischen Militärtribunale ist das
Bürgermeisterehepaar Köhler (CDU) aus Potsdam, das 1950
in Sippenhaft genommen und wegen "konterrevolutionärer
Agitation" zum Tode verurteilt wurde. Erwin und Charlotte
Köhler wurden drei Monate nach Urteilsverkündung am 20.
Februar 1951 in Moskau erschossen.
Dabei hatte Josef Stalin kurz nach dem Krieg eine gewisse
Lockerung des Strafgesetzbuches zugelassen. Erst 1950 wurde die
Todesstrafe in der UdSSR wieder eingeführt, nachdem sie
zwischen 1947 und 1949 unterbrochen war. Schluss mit dem Gemetzel
politisch Missliebiger war erst weit nach dem Tode Stalins. Der
letzte von den sowjetischen Besatzern zum Tode verurteilte Deutsche
war der Westberliner Rechtsanwalt Walter Linse, der im Dezember
1953 im Erschießungsturm des Moskauer Butyrka-Gefängnis
hingerichtet wurde.
Die Forscher von Facts & Files durchforsten Hunderte von
Akten, des Bundesarchivs, des Suchdienstes des Deutschen Roten
Kreuzes und Stasiunterlagen, um Namen und Lebensgeschichten der
Todeskandidaten in die Gegenwart zurück zu holen. Im Herbst
kommenden Jahres soll das rund 300 Seiten starke "Totenbuch" mit
Fotografien und Biografien der Opfer veröffentlicht werden.
Probleme bei der Aufarbeitung gab es vor allem durch fehlende
Angaben zum Todesdatum oder Übersetzungsfehler der kyrillisch
aufgeführten deutschen Namen.
Noch in diesem Jahr wollen die deutschen Angehörigen auf
dem Donskoje Friedhof im Zentrum Mos-kaus, an der so genannten
"Grabstätte für nicht-abgeholte Asche" einen Gedenkstein
für die 1.000 Toten aufstellen. Zwei Plätze sind schon
besetzt: Steine polnischer und japanischer Opfer erinnern an die
Repression. Viele Angehörige hoffen heute auf eine formelle
Rehabilitation der Opfer, die seit Anfang der 90-er Jahre per
Gesetz geregelt wurde. Das Verfahren wird vor der Russischen
Militärstrafanwaltschaft geführt und zieht sich sehr in
die Länge. Bisher sind erst 606 der etwa 1.000 deutschen Opfer
rehabilitiert worden.
Luise Wagner
Das Institut Facts & Files sucht noch Angehörige,
die Auskunft über die Schicksale der Verschleppten
geben können. Telefon: 0 30/48 09 86 20,
www.factsandfiles.com.
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