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Ingrid Mittenzwei
Friedrich der Große und die
"Erkenntnisinteressen" unserer Zeit
Die Friedrichbiographin Ingrid Mittenzwei zum
neuen Buch von Johannes Kunisch über den großen
Preußenkönig
Etwa 25 Jahre sind vergangen, seit die letzten
Biographien Friedrichs II. erschienen sind. Damals rollte eine
Preußenwelle über Deutschland West und Deutschland Ost.
Sie hatte mit den Auseinandersetzungen zu tun, die nach 1945
über die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und die
Hitlerbarbarei in beiden deutschen Staaten geführt wurden.
Politiker und Historiker, Schriftsteller und Publizisten fragten
damals nach der Schuld des deutschen Volkes. Dabei richtete sich
ihr Blick zurück in die Geschichte, vor allem die
preußische. Das geschah mehr oder weniger mit der Absicht
einer historischen Standortgewinnung. Die Preußenwelle
beendete diesen Prozess.
Die meisten Bücher, die damals
entstanden, widerspiegeln die Trendwende. So gesehen haben es
heutige Historiker leichter. Sie können ohne Rücksicht
auf die Aufgeregtheiten der Zeit Ihrem Metier nachgehen und wie
Kunisch zu einem weitgehend ausgewogenen Urteil kommen.
Johannes Kunisch war vor seiner Emeritierung
Professor für Neuere Geschichte an der Universität
Köln. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Arbeiten über
den europäischen Absolutismus und die Kriege dieser Epoche.
Die Welt, in die Friedrich II. eingeordnet werden muss, ist ihm
wohlvertraut. Das schärft seine Urteilsfähigkeit. Hinzu
kommt, dass es über kaum eine andere Persönlichkeit so
viel Literatur und so viele Quelleneditionen gibt.
Nicht die Suche nach neuem Material
betrachtet Kunisch daher als seine Aufgabe. Er will den
"Wissensvorrat" über den König zusammentragen und ihn
nach heutigen "Erkenntnisinteressen" bewerten. Den Leitfaden
dafür liefern ihm weniger die Fakten, sondern Funktion und
Bedeutung, die ihnen heute im Prozess des Erinnerns zugemessen
werden.
Kunisch folgt anfangs der Chronologie, bricht
aber schon am Ende des ersten Kapitels mit dem für eine
Biographie klassischen Prinzip. Zwischen Kronprinzenzeit und
Inthronisation 1740 fügt er den Exkurs "Land und Leute" ein,
der den Leser mit den politischen und sozialen Bedingungen in
Preußen vertraut machen soll.
Ein berechtigtes Anliegen, wären damit
nicht Vorgriffe auf die Regierungszeit verbunden. Dabei
schwört Kunisch auf das "Kontinuum der Lebensabläufe". So
beginnt er denn mit der bittersten Phase im Leben des Monarchen,
die vom Vater-Sohn-Konflikt dominiert wurde. Nicht deren Ursachen
interessieren den Autor in erster Linie, sondern die Folgen der
Misshandlungen und Demütigungen, weshalb Kunisch auch neuere
psychoanalytische Literatur heranzieht.
Glück in Rheinsberg
Auf die schlimmsten Jahre des Kronprinzen
folgten die schönsten, die Zeit in Rheinsberg. Hier konnte er,
ohne Eingriffe des Vaters befürchten zu müssen, seinen
Neigungen nachgehen. Hier begann er auch, sich ernsthaft mit
Philosophie zu befassen und Beziehungen zu französischen
Aufklärern zu knüpfen. All das ist nicht neu, wurde
jedoch bisher selten in einer solchen Fülle beschrieben.
Dadurch kommt der Leser zwangsläufig zu dem Schluss, dass hier
ein Monarch heranwächst, dem die geistige Entwicklung seiner
Epoche nicht fremd ist.
Welchen Platz er in ihr einzunehmen gedachte,
lässt sich der Analyse von zwei Schriften entnehmen, den
"Considérations sur l'état présent du corps
politique de l'Europe" und dem "Antimachiavell". Schon damals
setzte Friedrich II. auf Krieg, während er gleichzeitig
Herrscher anprangerte, die ihr Volk bedrücken. Kunisch hegt
völlig zu Recht keinen Zweifel daran, dass Friedrich II. die
Fackel des Krieges ergreifen wird, sobald sich die Gelegenheit dazu
bietet. Und er konstatiert die Widersprüchlichkeit seines
Charakters, die vor einiger Zeit noch von deutschen Historikern in
Abrede gestellt wurde.
Ein Manko des Buches
Kunisch wendet sich im zweiten Kapitel gleich
den Schlesischen Kriegen zu, ohne die ersten
Regierungsmaßnahmen zu benennen. Überhaupt entsteht schon
hier der Eindruck, dass er der Außenpolitik mit ihren drei
Kriegen und der Teilung Polens mehr Aufmerksamkeit schenkt als der
inneren Entwicklung Preußens. Eine grobe Schätzung der
quantitativen Proportionen von Außen- und Innenpolitik,
allerdings unter Nichtbeachtung persönlicher Beziehungen und
künstlerischer Neigungen, ergibt ein Verhältnis von etwa
240 zu 85 Seiten. Das hängt sicher damit zusammen, dass
Kunisch ein erstklassiger Kenner der europäischen und der
Kriegsgeschichte ist, bleibt aber trotzdem ein Manko.
Der Grundtenor des Verfassers bei der
Schilderung der Kriege ist ein kritischer. Auch das war in der
deutschen Geschichsschreibung nicht immer so. Kunisch negiert die
erbrechtlichen Ansprüche Preußens auf Schlesien und
spricht von Aggression und Raubgier, von Machtkalkül und
Ruhmsucht. Auf Friedrichs Haupt komme das Blut, das in den beiden
Schlesischen Kriegen vergossen wurde. Schon hier, aber in noch viel
stärkerem Maße beim Siebenjährigen Krieg, schreibt
Kunisch keine bloße Kriegsgeschichte.
Obwohl er die Kriegsziele des Monarchen
analysiert, dem Ablauf der militärischen Auseinandersetzungen
folgt und die Schlachten mit ihren ungeheuren Opfern schildert,
dominiert der biographische Aspekt. So beschreibt er die
persönlichen Empfindungen des Feldherrn, der Phasen tiefer
Depressionen durchlebte und sogar an Selbstmord dachte. Auch die
Finanzierung des Krieges auf Kosten seiner Gegner sowie die
fiskalischen Maßnahmen im Lande, die den Ideen der
Aufklärung widersprachen, wird man hier einordnen
müssen.
Die gleichen Prinzipien wendet der Autor dann
auch bei der Behandlung des Siebenjährigen Krieges an, wobei
er die Einschätzung desselben als Präventivkrieg
relativiert. So spricht er, im Anschluss an Johannes Burkhardt, vom
"Staatsbildungskrieg", andererseits vom Hegemonialkrieg zwischen
Österreich und Preußen sowie England und Frankreich. Doch
zieht sich der Gedanke an einen Präventivkrieg durch das ganze
Kapitel.
Ziemlich am Ende fragt Kunisch, ob durch die
überragende Erscheinung des Königs als Feldherr der
Fortbestand des Hauses Brandenburg auf der Grundlage des Status quo
ante erklärt werden kann. Seine Antwort ist bejahend, auch
wenn er Friedrichs Gegner, den Österreicher Kaunitz,
bemüht, der auf die Kriegskunst Friedrichs und einiger
Generale verweist.
Für die Zeit zwischen Schlesischem und
Siebenjährigem Krieg geht Kunisch auch auf die
Bautätigkeit des Monarchen, die Justizreform sowie die
Tafelrunde ein. Eine Abhandlung dieser Themen halte ich für
wichtig. Sie haben einen Bezug zum König, aber es fehlen vom
Standpunkt der Chronologie andere, nicht weniger bedeutende
Aspekte. Auch wenn Kunisch im Exkurs "Land und Leute" über die
Meliorations- und Kultivierungsmaßnahmen ein paar Bemerkungen
macht, hier im Kapitel über die Zwischenkriegszeit wäre
ihr eigentlicher Platz gewesen, ging es dem König doch darum,
Menschenverluste auszugleichen und durch den Krieg entstandene
Schäden zu beseitigen. Nicht zufällig nahm er 1747 die
traditionelle Politik der Hohenzollern wieder auf, Einwanderer ins
Land zu locken. Auch die Arbeiten zur Entwässerung des
Oderbruchs fallen in diese Zeit.
Friedrich II., der mehr und mehr vereinsamte,
konnte nach dem Siebenjährigen Krieg an diese Maßnahmen
anknüpfen. Um die immensen Menschenverluste auszugleichen und
die Schäden im Lande möglichst rasch zu überwinden,
setzte er das Retablissement fort wie die Kultivierung ganzer
Landstriche. Dazu brauchte er Einwanderer. Sogar an die Aufhebung
der Leibeigenschaft dachte er damals. Doch blieb es aus
Rücksicht auf den Adel bei der Absicht. Insofern ist nicht
recht zu verstehen, warum Kunisch Friedrichs Erklärungen
zumindest von der Intention her als Eingriff in das bestehende
Sozialgefüge betrachtet. Das Allgemeine Landrecht, dessen
Entwurf seit 1784 zur Diskussion stand, ging ja noch von der
rechtlichen Fixierung derselben aus.
Theorie und Praxis
Auch das Urteil des Verfassers über die
Gewerbeentwicklung teile ich nicht. Natürlich stammte vom
König, wie Kunisch feststellt, kein "theoretischer
Vorentwurf". Aber braucht es einen solchen? Etwa eine ausgereifte
merkantilistische oder physiokratische Schrift? Nach dem
Siebenjährigen Krieg kam es zu Auseinandersetzungen zwischen
bürgerlichen Kräften, Beamten und dem Monarchen, die
Rückschlüsse auf Friedrichs Ansichten erlauben. Ein
König verfasst in den seltensten Fällen theoretische
Arbeiten, er regiert. Der Preußenkönig hat beides
getan.
Geht es um die Wirtschaftspolitik, wird man
Quelleneditionen wie die Acta Borussica zu Rate ziehen müssen.
Friedrich II. wurzelte im Merkantilismus, allerdings ohne genauere
Kenntnis bestimmter Verfechter dieser Lehre. Anregungen für
die von ihm verfolgte Linie entnahm er der Praxis anderer
absolutistischer Staaten, vor allem Frankreichs.
Wie verhält es sich nun nach der
Lektüre der umfangreichen, brillant geschriebenen Biographie
mit der Aufgabe, die sich Kunisch selbst gestellt hat? Hat er den
"Wissensvorrat" für sein Werk zusammengetragen? Ja, in hohem
Maße. Doch gibt es Studien und Bücher auch neueren
Datums, die man vermisst. Sie befassen sich mit der
Wirtschaftsentwicklung in Stadt und Land, lassen folglich
Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse
in Preußen zu.
Und wie steht es mit den heutigen
"Erkenntnisinteressen", die der Autor benennt? Das, was Kunisch
über Krieg und Frieden schreibt, überzeugt nicht nur
durch seine Kompetenz, sondern auch durch die kritische
Betrachtungsweise. Meinem "Erkenntnisinteresse" entspricht er damit
wiederum in hohem Maße. Gleiches kann ich nicht sagen, wenn es
um die Wirtschaft geht. Hat der König mit seinen halbherzigen
Maßnahmen den Boden für eine Entwicklung bereitet, welche
die Niederlande, England und Amerika bereits beschritten hatten und
die sich in Kürze auch in Frankreich Bahn brach? Darauf
nämlich bezieht sich mein "Erkenntnisinteresse". Doch wird es
wohl kaum eine Zeit geben, in der die Menschen gleiche Interessen
an geschichtlichen Abläufen entwickeln.
Johannes Kunisch
Friedrich der Große. Der König
und seine Zeit.
Verlag C. H. Beck, München 2004; 624
S., 29,90 Euro
Die Autorin ist Historikerin; sie hat viele
Jahre an der Akademie der Wissenschaften der DDR gearbeitet. Ihr
Buch "Friedrich II." von 1979 hat seinerzeit die politische und
wissenschaftliche Diskussion in Ost und West über Politik und
Wertung des Preußenkönigs maßgeblich
beeinflusst.
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