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Das Parlament
Nr. 43 / 18.10.2004

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Reinhart Häcker

Eine mächtig unmächtige Königin

Was von einem Weltreich übrig geblieben ist / Von Reinhart Häcker
Manchmal sind es kleine Details, in denen der Zeitenwandel sich spiegelt. Als im Februar 1952 der britische König Georg VI. starb, weilte seine Tochter Elizabeth im Treetop-Hotel in der fernen Kolonie Kenia und beobachtete Löwen. Es dauerte vier Stunden, bis man die neue Queen ausfindig gemacht hatte. Es waren die letzten vier Stunden eines bis dahin unbeschwerten Lebens. Was seither kam, war Pflichterfüllung und eiserne Selbstdisziplin. Es war auch die fast vollständige Auflösung des britischen Kolonialreichs und dessen Übergang in ein "Commonwealth" von 54 selbständigen Staaten. In 14 davon ist Königin Elizabeth II. immer noch Staatsoberhaupt. Doch Macht übt sie in keinem mehr aus.

Erst dieser Tage wählten die Leser einer Boulevard-Zeitung Prinz Charles' ältesten Sohn Prinz William, den mutmaßlich übernächsten König, zum Mann mit dem meisten Sex Appeal. Welch ein Verfall, könnte man sagen, welch ein Abstieg der mittlerweile 78-jährigen Königin und ihrer Familie von der geachteten Weltenherrscherin zum Banalen! Doch dies wäre falsch. "Elizabeth II., von Gottes Gnaden Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und ihrer übrigen Reiche und Territorien, Haupt des Commonwealth und Verteidigerin des Glaubens" - so lautet ihr anspruchsvoller Titel - ist persönlich bei "ihren" Untertanen in "ihrem" weitgespannten Reich außerordentlich beliebt. Bei den häufigen Umfragen sagen dies regelmäßig bis zu zwei Drittel der Briten, und als vor fünf Jahren die Australier über ein Staatsoberhaupt abstimmten, das um den halben Erdball von ihnen getrennt residiert, fand eine große Mehrheit das völlig in Ordnung.

So entsteht eine merkwürdige Ambivalenz. Einerseits ist da der Stolz auf die älteste europäische Königsfamilie. Sie führt ihre genealogischen Wurzeln fast ein Jahrtausend weit ohne Bruch auf einen Wikinger namens Wilhelm zurück, den man später den Eroberer nannte. Er hatte es zum Herzog der Normandie in Frankreich gebracht und setzte seine fragwürdigen Ansprüche auf England 1066 mit Gewalt durch.

Seither wechselten mehrfach die Namen der Herrschergeschlechter, aber sie alle konnten sich auf Wilhelm I. berufen. Ob es die Plantagenets und ihre Nachkommen waren, die 100 Jahre lang erfolglos um die Nachfolge auf dem französischen Königsthron stritten, oder der Tudor-König Heinrich VIII., der zum protestantischen Glauben übertrat, nur um sich scheiden lassen zu können. Ob die Stuarts, von denen einer sogar geköpft wurde, oder die Hannoveraner, deren Ahnherr nur die "richtige" Stuart-Prinzessin geheiratet hatte: Sie alle führten ihre Herrschaftsansprüche auf den "Eroberer" zurück. Am windigsten war der Namenswechsel zu den Windsors, die sich eigentlich Sachsen-Coburger nennen müssten. Doch weil es im Ersten Weltkrieg nicht mehr so gut war, deutsche Namen zu tragen, benannte sich König Georg V. kurzerhand um nach dem Stammsitz.

Andererseits überwiegt den Stolz auf das Königshaus noch der auf die ältesten parlamentarischen Einrichtungen der Welt. Amerikaner, Franzosen und Briten mögen sich lange darüber streiten, wer nun eigentlich die Demokratie erfunden habe. Mit dem Einschränken der Königsherrschaft durch ein Parlament, in dem schon seit 1265 auch Bürgerliche saßen, hatten die Briten in der Tat die Nase vorn. Obgleich sich der Abbau der königlichen Rechte nur schrittweise und fast gewaltfrei vollzog, wurde spätestens seit der "Glorious Revolution" von 1688 Politik nicht mehr von Königen bestimmt, sondern von "Ersten Dienern", den Premierministern, die im "Auftrag" des Königs vom Volk gewählt worden waren.

Je weiter dieser Machtabbau voranschritt, desto unantastbarer ist der Glorienschein doch geblieben. Ohne geschriebene Verfassung lebt das Land von einmal festgelegten Gesetzen, die Jahrhunderte alt sein können. Jedes neue Gesetz muss der Königin zur Zustimmung vorgelegt werden, doch sie widerspricht niemals. Noch immer eröffnet die Queen in aller Pracht "ihres" Reiches jedes Jahr "ihr" Parlament zur Sitzungsperiode. Noch immer erweckt sie den Anschein, dass sie ein Weltreich beherrsche, noch immer ist die Liste ihrer Staatsbesuche gewaltig. Und noch immer verkündet sie das Programm "meiner Regierung". Doch von ihr selbst stammt in diesem Text kein einziges Wort. Es ist der Premierminister, der sie seine Absichten vorlesen lässt. Und Land für Land ist inzwischen auch das Weltreich entschwunden.

Dass dieses einst so erdumspannend, so riesig groß war, hat viel damit zu tun, dass in Großbritannien eben nicht Könige, sondern Bürger und Kaufleute herrschten. Indien, das strahlendste Juwel in der Krone, geriet unter britische Macht, weil die Ostindische Kompanie das so wollte. Und während die Könige viel mehr an den Händeln unter ihren Kollegen in Europa als am Handel mit Übersee interessiert waren, schufen britische Auswanderer in Amerika und Kanada, in Australien und Neuseeland weiße Siedlerkolonien. Die Seefahrernation trieb europäische Politik eigentlich nur, um für ein "Gleichgewicht der Kräfte" zu sorgen und niemanden so stark werden zu lassen, dass er zur Gefahr für das Inselreich wurde. Die anderen Kolonialherren hingegen, die Spanier und die Franzosen, die Niederländer und am Ende gar die Deutschen, haben den Schritt von der kolonialen Ausbeutung zur Bildung neuer Nationen niemals vollzogen.

Die Regierungen Ihrer Majestät haben schon früh darauf geachtet, mit den Abtrünnigen möglichst gute Beziehungen zu unterhalten: Wie das Beispiel Irak zeigt, wird die "special relationship" zu den USA durch dick und dünn zu allen Kriegs- und Notzeiten gepflegt, und als die riesigen Territorien in Kanada und in Australien als Kolonien nicht mehr zu halten waren, wurde zunächst mit ihnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das "Commonwealth of Nations" geschaffen: Sie erhielten ihre Freiheit und sind doch eng mit Großbritannien verbunden, weil der König ihr Staatsoberhaupt blieb.

Es war eigentlich eine großartige Idee: Während die Franzosen noch in den 50er-Jahren in Vietnam und Algerien aussichtslose Kolonialkriege führten, "entließen" König Georg VI. und seine Tochter Elizabeth II. ihre "Untertanen" in Südasien und Afrika seit 1947 Schritt für Schritt in die Freiheit und nahmen sie dafür in ihr Commonwealth auf. Die Absicht war, dass die Monarchen zum Zeichen der Verbindung mit Großbritannien dort Staatsoberhaupt bleiben sollten.

Doch leider war es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu zu spät: Die längst national empfindenden Exkolonien wählten sich fast allesamt eigene Präsidenten. Die Queen darf zwar noch immer "Oberhaupt des Commonwealth" sein, zu dem jetzt 54 Staaten mit 1,7 Milliarden Menschen gehören - fast ein Drittel der Länder und ein Viertel der Bevölkerung der Welt. Doch Monarchin ist Elizabeth II. außer in Großbritannien nur noch in 14 Staaten: In den großen Siedlerländern Kanada, Australien und Neuseeland sowie in elf Inseln und Landfetzen, die den Nachruhm der einstigen Weltmacht bezeugen. Außerdem herrscht sie über die zwei Dutzend Übersee-Territorien.

Auch von den Aufgaben des Commonwealth ist nicht viel übrig geblieben. Seine Struktur wurde seit über 50 Jahren nicht mehr verändert, nur die Mitgliederzahl ist größer geworden. Die Verwaltung liegt ausschließlich in britischer Hand, in einer Nebenstelle des Londoner Außenministeriums, das sich deshalb "Foreign and Commonwealth Office" nennen darf. Dort werden die Commonwealth-Konferenzen vorbereitet, die alle zwei Jahre wechselnd in einem Mitgliedsland stattfinden. Die sind dann stets voller Hoffnung: Anders als UN- oder EU-Konferenzen haben sie keine Tagesordnung und keinen festgeschriebenen Zweck. Gerade deshalb sollen sie den Teilnehmern die Chance zum informellen, ausgleichenden Gespräch bieten. Der Queen sind sie darum besonders wichtig. Sie fährt regelmäßig hin, und meistens hält sie auf einem Empfang eine Rede. Dies ist eine der wenigen politischen Aufgaben, die ihr verbleiben.

Das Commonwealth soll also den besonderen Zusammenhalt der einst vom britischen Königreich regierten Nationen gewährleisten und Demokratie und Menschenrechte fördern. Doch gerade diese Aufgabe haben die bisherigen Zusammenkünfte kaum je erfüllt. In den 80er-Jahren rieben sich die Vertreter der farbigen Staaten an der Unterstützung, die Margaret Thatcher den weißen Rassisten in Rhodesien und Südafrika zukommen ließ. Bei der letzten Konferenz, im Dezember 2003 in Nigeria, setzten umgekehrt Australien und Kanada den Ausschluss Robert Mugabes wegen seines Wahlbetrugs und seiner Menschenrechtsverstöße in Zimbabwe durch. Ihre Wirtschaftspartner haben sich die Mitgliedsländer ohnehin rasch nach ihren eigenen geographischen und politischen Interessen gewählt; dass dabei die USA im Vordergrund steht, kann niemanden mehr überraschen. Nur in Großbritannien selbst kann man unterdessen oft hören: "Als wir all das noch besaßen, war es dort besser."

Reinhart Häcker war 15 Jahre London-Korrespondent der "Stuttgarter Zeitung".

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