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Das Parlament
Nr. 03 / 17.01.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Susanne Balthasar

Von Pickeln und Pillen

Bei Jugendlichen ist die Suchtgefahr besonders hoch
Es gibt Zeiten, da begegnen sich Vergangenheit und Zukunft im Jetzt. Was war, ist noch nicht vorbei, und was sein könnte, treibt in hoffnungsvollen Worten durch die geheizte Wohnzimmerluft: Arbeit, Kinder, ein Haus, Tiere, insgesamt also ein geregeltes Leben. Das wäre schön, sagen Birte und Frank, ein Traum, der vielleicht wahr wird. Dann ist da aber noch die Vergangenheit, die Frank auf den Couchtisch packt. Ein schweres Fotoalbum, das ein anderes Leben bebildert.

Frank mit Baseballkäppi und Sackjeans, in der Hand, die aus dem zu langen Sweatshirtärmel herausguckt, eine Flasche Bier, die verquollenen Augen gerötet, der Mund lächelt. Ein paar Jahre ist das her, aber die zehn Jahre im Drogendelirium sind an seinem Gesicht einfach vorbei gerauscht. Wie 23 Jahre sieht Frank so gar nicht aus, dass ein Rot-Kreuz-Spendensammler, der zwischendurch an der Tür klingelt, fragt, ob er schon 18 sei. Birte ist 29 Jahre alt und trägt im Fotoalbum Minirock und enge T-Shirts, ihr Partyoutfit. Auf dem Sofa sitzt sie jetzt in Jeans und Reißverschlusspullover. Ein bisschen wehmütig wird er schon, sagt Frank, wenn er die Bilder sieht: "Die Partys, das Miteinander, sogar die Oberflächlichkeit fehlt manchmal." Birte ergänzt: "Jetzt bist du clean und sitzt zu Hause." Die Gegenwart ist eine Baustelle: Die Freunde, die Partys, das, was ihre Jugend war, ist weg, und das Erwachsensein müssen die beiden erst noch lernen.

"Erwachsen werden ist ein anstrengendes Geschäft", sagt Andreas Gantner, Leiter des "Therapieladens", einer Berliner Anlaufstelle für drogensüchtige Jugendliche. Hier kommen nicht die Straßenkinder vom Alex oder Zoo hin, sondern meistens solche, die zuviel Cannabis rauchen oder Amphetamine schluck-en. Oder beides. Eine Pille zum Feiern, den Joint zum Runterkommen, dazu oft Alkohol, Zigaretten, Speed oder Kokain. Es sind Schulverweigerer und abgebrochene Lehrlinge, aber auch Studenten oder Menschen wie Birte, die trotz Drogensucht bis vor kurzem noch regelmäßig zur Arbeit gegangen sind. Sie bilden eine Minderheit von fünf Prozent der deutschen Jugendlichen. Probiert hat allerdings schon jeder Dritte einmal illegale Drogen. Das hört sich viel an, schließt aber auch einmaliges Experimentieren mit ein.

Gründe für die Lust am Rausch gibt es viele: Mal etwas ausprobieren, dazugehören oder einfach, weil gerade die Möglichkeit besteht. Drogen haben zwar einerseits ein Looser-Image, aber auch das der Unangepasstheit, die sich über solch kleinliche Ansichten hinwegsetzen und dabei auch noch Spaß bringen. Grenzen überdehnen gehört schließlich zum Jungsein und ist so weit normal. Normal ist auch, damit beizeiten wieder aufzuhören. "Schlimm wird es dann", sagt Andreas Gantner, "wenn es zum Kontrollverlust kommt, die Begierde nach Substanzen zwanghaft und zur Problembewältigung benutzt wird." Christiane F., die Drogenikone der 70er-Jahre, beschreibt den Anfang vom Ende so: "Ich zog das Pulver sofort durch die Nase ein. Alles, was ich spürte war ein beißend bitterer Geschmack (...) Dann kam es aber unheimlich schnell. Meine Glieder wurden wahnsinnig schwer und waren gleichzeitig ganz leicht. Ich war irrsinnig müde, und das war ein unheimlich geiles Gefühl. Die ganze Scheiße war mit einem Mal weg." Raus aus dem Alltag, rein in die Sucht - Probleme liefert die Pubertät schließlich wie Pickel. Wer davor in den geistigen und emotionalen Dauerrausch flüchtet, der läuft Gefahr, einen wichtigen anstehenden Entwicklungsschritt nicht zu schaffen: Das Erwachsenwerden, also eine Palette von Verhaltensweisen zu entwickeln, mit denen Schwierigkeiten bewältigt oder innere Unruhe, Angst und Unsicherheit ausgehalten werden können.

Das müssen Birte und Frank nun lernen. Äußerlich sind die beiden in der Normalität des Erwachsenenlebens angekommen. Sie leben in einer Wohnung, die so aufgeräumt ist, dass man sie für einen Möbelkatalog abfotografieren könnte. Nur noch die buntgepixelten Plakate Berliner Clubs oder Party-Events an den Wänden erinnern daran, dass ihr Leben einmal von farbigen Pillen und weißen Pulvern, Medikamenten und Marihuana bestimmt war. Dass sie Glück, Entspannung, Ausgelassenheit und Fitness geschnüffelt, geraucht, gezogen und geschluckt haben. Dass nicht mehr zu tun ist schon schwierig genug, aber dann kommen auch noch die anderen Umwälzungen des Ausstiegs dazu: Die Freunde sind weg, Birte hat, obwohl sie clean war, eine Fehlgeburt gehabt und wegen der Therapie ihre Stelle als technische Zeichnerin gekündigt: "Das war alles viel zu viel." Jetzt muss sie nicht nur ohne Aufputscher leben, sondern das auch noch als Arbeitslose. Sie, die von sich sagt, dass sie unter Drogen Siebenmeilenstiefel anhatte, ist plötzlich ausgebremst. Frank dagegen ist vom Abhänger zum Azubi geworden. Jetzt lernt er Industriekaufmann und hat die neue Seite Arbeitseifer an sich entdeckt. In der Wirklichkeit der beiden spielen Drogen - trotz zwischenzeitlicher Rückfälle - keine reale Rolle mehr, sind allerdings als lockende Gefahr immer im Hintergrund.

Zwischen Überforderung und Strenge

Aus dem Hintergrund ist die Vergangenheit nicht zu löschen. Beide Geschichten umkreisen denselben Punkt aus zwei verschiedenen Richtungen. Nach einem Jahr Therapie sagt Frank, dass er als Teenager überfordert war, zu früh erwachsen sein musste. Als Ältester von drei Kindern einer berufstätigen und allein erziehenden Mutter musste er die Geschwister betreuen, einkaufen, den Familienbetrieb am Laufen halten. Damals hat er das nicht als Überforderung wahrgenommen. Heute sagt er, dass die Drogen ihm die Möglichkeit gegeben haben, alles von sich zu werfen: "Das war die Erlaubnis, Blödsinn zu machen." 13 war er damals, als er seinen ersten Joint rauchte, dann kam der zweite, und weil das Glück der Tüte allen Frust in Rauch auflöste, hat er irgendwann morgens und täglich gekifft. Dann kamen Ecstasy und Parties dazu, LSD und Kokain. Und Schuleschwänzen, der Rauswurf aus der zehnten Klasse und der Wohnung der Mutter, Jugendamt, Kriseneinrichtungen, Diebstähle, Leben auf der Straße, dann Dealen und natürlich Drogen rund um die Uhr. Auch Birte hat mal auf der Straße gelebt, ist in der Punk- und Partyszene versackt und hat von Haschisch über Pillen und Kokain bis Schmerztabletten, Alkohol und auch mal Heroin so ziemlich alles genommen. Auch ihre Initialzündung war der erste Joint: "Das war wie ein Befreiungsschlag. Von da an war ich nur noch drauf." Ihre streng christliche Mutter hatte alles zur Sünde erklärt, selbst Bücher, Hosen und Kino waren Tabus. Im Dickicht der Verbote blieb Birte keine Möglichkeit, eigene Wege zu finden: "Erwachsen werden konnte ich nicht."

Andreas Gantner hat tagtäglich mit solchen oder ähnlichen Biografien zu tun: "Die Probleme sind unterschiedlich, aber sie wählen alle denselben Weg, sie zu lösen." Wer schon als Kind den Haushalt schmeißen muss oder überbehütet ist, trinkende oder schlagende Eltern, Depressionen oder Angst hat, hyperaktiv oder ein Scheidungskind ist, dem wachsen die Probleme in der Pubertät über den Kopf. Wenn der innere Frieden mit Rauschmitteln vermeintlich wieder hergestellt wird, ist die Gefahr groß, abzurutschen. Je eher der eigentlich anstehende Entwicklungsschritt übersprungen wird, desto mühsamer muss er später gelernt werden. Deshalb sagt Andreas Gantner: "Je jünger die Konsumenten sind, desto größer sind die Risiken." Zwar hat er beobachtet, dass seine Klienten immer jünger werden, aber das, sagt er, sei noch kein Indikator dafür, dass die Drogensucht zunimmt. Die letzte Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hat ergeben, dass sich die Zahlen in den letzten zehn Jahren kaum verändert haben.

Wie alles andere ist auch Drogenkonsum Moden unterworfen. Während in den 90er-Jahren die neuen Designerdrogen von fünf Prozent der Jugendlichen geschluckt wurden, ist deren Konsum seither nicht weiter angestiegen. Momentan ist kiffen wieder populär. Ein Drittel der Jugendlichen hat schon einmal Haschisch oder Marihuana probiert - 1989 waren es nur 18 Prozent. Gantner sieht darin einen Beleg, das die Hanfbewegung inzwischen in der Jugendkultur fest verankert ist: Kiffermusik, Jamaika-Klamotten, Wasserpfeifengeschäfte und das Hanfblatt als allgegenwärtiges Kultbild geben dem Joint ein schickes Image. Eltern, die selber gekifft haben, sehen das bei den eigenen Kindern oft nicht so eng. Bei den meisten geht diese Phase dann auch wieder vorbei. Über eine Drogenkarriere entscheidet nicht der Zufall oder das Angebot, sondern die psychische Stabilität. "Viele rutschen zwar rein, die keine Probleme haben", sagt Andreas Gantner, "aber die lassen es dann auch wieder."

Die, die es nicht lassen landen dann unter Umständen in der "Einbahnstraße, Sackgassenende", wie Birte sagt. Dabei hat sie von außen betrachtet ein ganz normales Leben geführt, ist zur Arbeit gegangen. So normal, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, dass sie den ganzen Tag "drauf" war. Die Wahrheit hat nur sie gesehen. So große Atome, sagt sie, und zeigt mit den Händen eine kindskopfgroße Kugel. Aber auch das sei für sie normal gewesen. Und, dass sie nicht mehr gewusst habe, wo sie aufhört und andere Menschen anfangen. Als Frank dann mit 150 Pillen und zehn Gramm Speed in einer Disco erwischt worden war, und die beiden eine Nacht im Gefängnis verbracht hatten, wusste Birte, dass etwas passieren muss. Frank wollte erst nicht mit in die Therapie, ist ihr dann aber doch gefolgt. Das erste Jahr ist geschafft. Vieles aus der Vergangenheit ist auf-, aber nicht abgearbeitet, die Zukunft zeichnet sich erst schemenhaft ab. In der Zwischenzeit sitzen die beiden nüchtern auf ihrem Sofa. Ob sie stolz darauf sind? "Stolz?", fragt Birte zurück, "nee, so weit sind wir noch nicht."

Die Autorin arbeitet als Journalistin in Berlin.

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