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Das Parlament
Nr. 03 / 17.01.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Jeannette Goddar

An 7.000 Abenden das Glas stehen gelassen

Der Weg in die Abhängigkeit vom Alkohol ist oft kurz: Ein Porträt

Ob er es hätte wissen können, damals, als er das erste Mal zum Glas griff? Der Krieg war noch nicht lange vorbei, die Sektorenstadt Berlin lag in Trümmern. Man hatte nicht viel in der geteilten Stadt und die Eltern des Neun- oder Zehnjährigen hatten besonders wenig. Irgendwann zwischen dem Austragen von Zeitungen in dem Arbeiterbezirk Moabit und der Aushilfe in einem Kiosk hielt der Junge eines Tages ein Bier in der Hand. Und bald darauf das nächste. Er kann gar nicht sagen, ob es ihm schmeckte, nur, dass es schnell ging vom ersten Schluck bis zum nächsten und zu der Zeit, als er immer öfter und immer schneller trank. So erinnert er sich jedenfalls heute. Aber was hätte er mit zehn schon gewusst? Nicht viel - was er aber wusste war, dass der Vater selten nüchtern aus der Kneipe kam, oft wirres Zeug redete und die Mutter schlug.

Aus dem Jungen ist ein Rentner geworden, der einen nicht unbedeutenden Teil seiner Zeit damit verbringt, sich immer wieder zu vergegenwärtigen wo er herkommt: Ich heiße Günter (Name geändert). Ich bin Alkoholiker und es ist nicht selbstverständlich, dass ich nicht trinke. Es war ein langer Weg. Diese Botschaft will ich weitergeben.

Der Mann, der hier Günter heißt, sitzt in einem kleinen Gruppenraum im Souterrain eines Hauses in Berlin-Wedding. Obwohl er am anderen Ende der Stadt wohnt, ist er mehrmals in der Woche hier. Die Räume gehören den Anonymen Alkoholikern, genau genommen einer von 120 Gruppen, die es in Berlin und Brandenburg gibt. Eben hat er noch den Hörer abgenommen, als das Telefon klingelte. Eine Frau war dran, hörbar betrunken, und wollte Hilfe, endlich mit der Sauferei aufzuhören. Günter hat ihr gesagt, sie solle sich wieder melden, wenn sie nüchtern ist und hat aufgelegt. So etwas käme häufig vor, sagt er, sei aber völlig aussichtslos. Er ist nicht der Ansicht, dass man erst ganz unten gewesen sein muss, um vom Alkohol loszukommen. Aber dass man nur nüchtern den festen Willen fassen kann, wenigstens das erste Glas stehen zu lassen, davon ist er felsenfest überzeugt. So hat er es auch zu der Frau gesagt: Du musst das erste Glas stehen lassen. Das mit dem Glas ist einer der Leitsprüche der Anonymen Alkoholiker. Denn eigentlich, sagt Günter, gehe es beim Alkoholismus immer nur um das erste Glas: Wer das stehen lasse, brauche alle weiteren nicht mehr zu trinken.

Sein letztes Glas liegt zwei Jahrzehnte zurück. Damals hatte er nach vier klinischen Entzügen, die alle mit dem nächsten Gang in die Kneipe endeten, den letzten schweren Rückfall. Hals über Kopf und außer sich flog er nach Köln, einer Frau hinterher. Auf dem Flughafen Köln-Bonn hatte er einen kurzen lichten Moment. Er drehte um und flog zurück. Drei Jahrzehnte hatte er da durchgesoffen, mehrfach im Koma gelegen, war immer wieder knapp dem Tod entronnen. Er hatte seine Frau, die längst zur Co-Abhängigen geworden war, mehrfach an den Rande des Nervenzusammenbruchs gebracht, ein miserables Verhältnis zu seinem Sohn und war im Job auf das Schweigen seiner Kollegen angewiesen.

Drei Jahrzehnte lang war er in jeder Gaststätte der letzte gewesen. Nie wusste er am nächsten Tag noch so genau, was sich dort während seiner letzten Minuten oder Stunden zugetragen hatte. Immer wieder hatte er sich geschworen, aufzuhören und es nie getan. War der Gedanke besonders konkret geworden, wurde es meist danach nur noch schlimmer, weil er zu allem anderen auch noch sein schlechtes Gewissen wegtrinken musste. Zum ersten Mal richtig schlimm war die Erkenntnis, wozu er in der Lage ist, mit 19. In der Nacht des Mauerfalls betrank sich der Westberliner im Kasino einer Bundeswehrkaserne in Niedersachsen zu. Schließlich klaute er die Offizierskasse und zog um die Häuser. Danach saß Günter sechs Monate im Gefängnis, voller guter Vorsätze. Nach seiner Entlassung versoff er sein letztes Geld schon bevor er den Zug zurück nach Berlin bestieg. Die Bundeswehr, bei der er sich freiwillig gemeldet hatte, hatte ihn unehrenhaft entlassen.

Und plötzlich, nach dem Ausflug ins Rheinland, machte etwas "Klick". Er ging zu demselben Arzt, der ihn schon so oft gesehen hatte. Der warf seinen üblichen skeptischen Blick auf den geschundenen Körper und die geschundene Psyche und drohte, ihn zwangseinzuweisen. Günter wehrte sich. Weder wollte er noch einmal in ein Krankenhaus noch eine weitere medikamentengestützte Entgiftung hinter sich bringen. Er werde sich alleine durchzittern durch die Tage und Nächte, die so ein Entzug nun mal dauert. Dass das lebensgefährlich ist, wusste er, sagt er: "Aber ich wollte endlich selber die Verantwortung für mich übernehmen." Es klappte.

Wenig später ging Günter das erste Mal zu den Anonymen Alkoholikern und sagte, er sei Günter und er sei Alkoholiker. Mit diesem Statement fängt in jeder einzelnen Gruppe jede einzelne Sitzung an. Jeder sagt seinen Namen, gerne auch einen falschen und dass er Alkoholiker sei. Letzteres, daran glauben die Anonymen Alkoholiker fest, gilt nicht nur am ersten Tag, sondern auch noch nach 20 Jahren abstinenten Lebens. Alkoholiker ist man nicht irgendwann einmal gewesen. Alkoholiker bleibt man. Nie wird es selbstverständlich, nicht zu trinken. Genauso wie man aufhören wollen muss, muss man wollen, dass es so bleibt.

An der Wand, vor der Günter sitzt, steht ein weiteres Leitmotiv der Anonymen Alkoholiker: "Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden." Viele Anonyme Alkoholiker sind religiös. "Als Trinker fühlt man sich Jahre oder Jahrzehnte machtlos", sagt Günter, "irgendwann ist da eine höhere Macht, die sagt: Ich bin bei dir! Ich helfe dir da raus! Das lässt einem Gott plötzlich ganz nah vorkommen."

Der Anlass für die Gründer der Anonymen Alkoholiker war dabei ein eher weltliches Treffen. Bill und Bob, ein Finanzmakler und ein Arzt, waren beide schwere Trinker mit zahllosen abgebrochenen Therapien hinter sich. 1935 trafen sie sich zufällig im US-Bundesstaat Ohio. In zahllosen Gesprächen miteinander gelang es ihnen, sich gegenseitig vom Trinken abzubringen. Sie fanden ein Prinzip, an das die Anonymen Alkoholiker bis heute fest glauben: Du musst es selber schaffen, aber du schaffst es nicht allein. Bob und Bill gründeten die erste AA-Gruppe, der bis heute mehrere Tausend folgten. Sie alle arbeiten ohne staatliche Unterstützung in dem festen Glauben, dass ein nicht trinkender Alkoholiker eine Familie Gleichgesinnter braucht. Die meisten gehen über Jahre und Jahrzehnte mehrmals in der Woche in ihre AA-Gruppen.

Günter brauchte tatsächlich eine neue Familie. Kaum war er trocken, trennte er sich von seiner Frau. Die kam auch schon aus einer trinkenden Familie - und setzte, das liegt jedenfalls nahe, in der Ehe nur fort, was sie zuhause gelernt hatte: die Sucht mitzutragen, zu vertuschen, jemandem immer wieder auf die Beine zu helfen. In der Suchttherapie gilt dieses Verhalten als Kardinalfehler, weil es dem Süchtigen immer wieder nicht nur Zu-, sondern auch Ausflucht bietet. Günter sagt heute dennoch, er könne der Frau, die es all die Jahre mit ihm aushielt, kaum dankbarer sein: "Sie hat mir das Leben gerettet." Als er clean war, funktionierte die Ehe vorne und hinten nicht mehr. Vielleicht hatte sie sich schlicht an einen trinkenden Ehemann gewöhnt. Günter suchte sich eine völlig neue Umgebung, in der nicht getrunken wird. Jahrelang tat er sich schwer, sich der allgegenwärtigen Versuchung des Alkohol auszusetzen. Er verzichtete auf den Kneipenbesuch, auf Betriebsfeiern und Familienfeste. Freunde, sagt er, habe er ohnehin nicht gehabt. "Trinker suchen sich in der Regel Trinker. Was die sonst so tun ist nicht so wichtig."

Heute macht es ihm nichts mehr aus, wenn andere in seiner Gegenwart das eine oder andere Glas trinken. Nur Saufgelage tue er sich nicht mehr an. Davon habe er genug gesehen. Grundsätzlich, resümiert er, sei Alkohol für viele Menschen aber schließlich ein großes Vergnügen - und richte nur bei manchen unermesslichen Schaden an. Woran es liegt, dass er vom Teenagerdasein geradewegs in den Alkoholismus abglitt, weiß er bis heute nur in Auszügen. Ein Teil läge sicher in der Familie, auch wenn er kaum seine Eltern dafür verantwortlich machen könne. Andere Teile hat er in seiner Persönlichkeit gefunden, in Minderwertigkeitsgefühlen oder der Unfähigkeit, Konflikte auszuhalten. So ganz genau, weiß er aber auch, wird er der Ursache wohl nie auf den Grund kommen. Fest steht nur, dass es jahrzehntelang etwas gab, das stärker war als er. Ihn fest im Griff hatte, und zwar umso fester, je schlechter er sich dabei fühlte. Es ist vorbei, an jedem nüchternen Abend ein kleines bisschen länger. An über 7.000 Abenden hat er das erste Glas stehen gelassen.

Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin.

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