> Debatte > Löhne in Europa
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Risiken der grenzenlosen Dienstleistungswelt
Die von der Europäischen Kommission geplante Dienstleistungsrichtlinie hat eine heftige Diskussion ausgelöst. Wie lässt sich verhindern, dass Unternehmen und Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedstaaten mit Billiglöhnen und -preisen heimische Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit und Handwerksbetriebe in den Konkurs treiben? Blickpunkt Bundestag wollte von den Fraktionen des Bundestages wissen, wie sie Lohn- und Sozialdumping verhindern wollen.
Die Römischen Verträge von 1957 zur Gründung der damals noch kleinen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sahen vor, dass in einem künftigen europäischen Binnenmarkt „vier Freiheiten“ gelten sollten, und zwar die für Waren, für Kapital, für Personen und für Dienstleistungen. Die ersten drei Freiheiten sind inzwischen weitgehend verwirklicht. Auch die Dienstleistungsfreiheit ist schon in vielen Punkten umgesetzt, und viele Unternehmer und Selbstständige aus den neuen Mitgliedstaaten der EU nutzen sie bereits.
Doch in der Praxis erschweren nach Meinung der Europäischen Kommission „schwerfällige Genehmigungsverfahren, übermäßig bürokratische Formalitäten und diskriminierende Anforderungen“ die Möglichkeit, Dienstleistungen frei in jedem anderen EU-Mitgliedsland anzubieten. So wird in Deutschland immer noch in 41 Berufen für eine Firmengründung der Meistertitel verlangt.
Mit ihrem Richtlinienvorschlag wollte die Kommission nun den Dienstleistern – in der Regel kleine und mittlere Unternehmen – die Chance eröffnen, in der gesamten EU ihre Dienste „zu den im heimischen Markt vertrauten Regeln“ anzubieten. Gerade gegen diese Formulierung liefen viele alte Mitgliedstaaten Sturm. Sie befürchten, dass noch mehr Unternehmen aus dem erweiterten Europa mit viel niedrigeren Löhnen und schlechteren Sozialbedingungen die westlichen Märkte erobern könnten. Von Lohn- und Sozialdumping war die Rede.
Diese Befürchtungen beruhen auf den Erfahrungen, die die alten EU-Staaten seit Jahren mit zuwandernden billigen Arbeitskräften sowohl für Dienstleistungen als auch für die Produktion machen. Mehr und mehr Kellner, Spargelstecher oder Zwetschgenpflücker kommen jeweils zur Saison nach Deutschland – insgesamt über 330.000 im Jahr 2004. Diese Saisonarbeit betrifft allerdings die Arbeitnehmerfreizügigkeit – die anders als die Dienstleistungsfreiheit für die neuen Mitgliedstaaten noch nicht uneingeschränkt gilt.
Viele Arbeitnehmer und Handwerker locken die deutlich besseren Verdienstmöglichkeiten. Sie machen einen Betrieb in Deutschland auf oder schließen so genannte Werkverträge mit deutschen Firmen ab. Die wiederum lagern kostensparend einen Teil ihrer Arbeit an diese Fremdfirmen aus. Nach Angaben der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten wurden in der Fleischindustrie bereits 26.000 deutsche Fachkräfte durch Osteuropäer ersetzt.
Die Ursache für diese Entwicklung sind die weit auseinander klaffenden Arbeitskosten: Während im Jahre 2002 zum Beispiel in Lettland die Beschäftigung eines Arbeitnehmers im Dienstleistungsgewerbe nur 371 Euro kostete, musste der Unternehmer in Deutschland fast das Zehnfache aufwenden. Im deutschen Handwerk sind nach Angaben seines Zentralverbandes durch den Einsatz von ausländischen Arbeitern mit Niedriglöhnen in den vergangenen sieben Jahren 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen.
Erstens haben die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem Gipfel im März in Brüssel eine Überarbeitung der umstrittenen Richtlinie beschlossen. Die EU will zwar an der Liberalisierung festhalten, aber nicht auf Kosten der sozialen Errungenschaften ihrer Mitglieder.
Zweitens wird überlegt, wie unabhängig von der Dienstleistungsrichtlinie Lohn- und Sozialdumping unterbunden werden kann. Dafür bieten sich das Entsendegesetz und die damit verbundenen Mindestlöhne an.
Das auf einer EU-Richtlinie beruhende Entsendegesetz von 1996 schreibt vor, dass sich ausländische Bauunternehmen an deutsche Tarifverträge halten müssen, wenn sie ihre Mitarbeiter herschicken. Die Bundesregierung prüft zurzeit, ob das Gesetz auf alle Branchen ausgeweitet werden soll. Dazu müssten die Tarifparteien entsprechende bundesweite Tarifverträge abschließen. Deren jeweils niedrigste Lohngruppe wäre der Mindestlohn, den auch ausländische Firmen auf jeden Fall bezahlen müssten.
Auch der Gesetzgeber könnte einen für alle Branchen geltenden Mindestlohn festlegen. In 18 der 25 EU-Länder gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Er beträgt in Luxemburg 1.467 Euro im Monat und in Lettland 116 Euro.
Drittens will die Bundesregierung Missbrauch stärker bekämpfen. Denn die gesetzlichen Voraussetzungen für grenzüberschreitende Dienstleistungen werden oftmals nicht eingehalten. So darf das Dienstleistungsunternehmen im Heimatland keine Briefkastenfirma sein, Dienstleistungsverträge müssen befristet sein. Eine Niederlassung bedarf einer festen Einrichtung – also eines Büros oder Lagers. Eine Schlafstelle in einer kleinen Wohnung reicht nicht.
Die Bundesregierung setzt zur Verhinderung solcher Missbrauchsfälle vor allem auf die Zollbehörden, die ihre Kontrollen zum Beispiel im Fleischereigewerbe bereits verstärkt haben. Niederlassungen eines ausländischen Unternehmens müssen vollständig die deutschen Vorschriften erfüllen. Es wird daher erwartet, dass die Handwerkskammern Anträge sorgfältig prüfen. Auch die Sozialversicherungen und die Gewerbeämter sollen stärker eingeschaltet werden.
Text: Klaus Lantermann
Fotos: Picture-Alliance
Erschienen am 12. Mai 2005
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