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Debatte
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Wortlaut der Reden, die zu Protokoll gegeben wurden

Claus-Peter Grotz, CDU/CSU Gerlinde Hämmerle, SPD >>

Wir müssen heute den Mut aufbringen, zu einer klaren Entscheidung zu kommen. Wenn ich deshalb eine Trennung von Parlament und Regierung ablehne, so ist dies nicht gegen eine der beiden Städte gerichtet. Vielmehr gebietet gerade die Logik parlamentarischer Regierungsweise eine -- auch lokale -- enge Anbindung von Parlament und Regierung.

Natürlich ragt die uns mit dem Einigungsvertrag aufgegebene Entscheidung über den Regierungs- und Parlamentssitz aus der parlamentarischen Routine heraus. Aber lassen Sie es mich auf den Punkt bringen: Nicht die Hauptstadt, nicht äußerliche Prachtbauten sind entscheidend für die Zukunft des geeinten Deutschland, sondern Politik und Politiker.

Gerade deshalb spricht heute so viel für Bonn, die kleine, »unscheinbare« deutsche Stadt, von der aus unser Land vierzig Jahre lang ohne Glanz und Gloria, aber vernünftig, praktisch und mit glücklicher Hand regiert wurde. Nicht so sehr diese Stadt, sondern das ganze Land zwischen Flensburg und dem Bodensee hat von dieser starken Politik aus einer bescheidenen Zentrale profitiert. Diesem sympathischen Zug Bonns sind wir es heute schuldig, die Frage nach dem künftigen Regierungssitz ohne falsches Pathos und überkommene Dogmen zu entscheiden, sondern mit nüchternem Blick in Vergangenheit und Zukunft Deutschlands.

Erstens: Bonn ist Symbol für deutschen Föderalismus. Ganz Europa beneidet die Deutschen heute um die Früchte seines föderalen Systems, um die Stärke und Vielfalt der regionalen Kraftfelder. München, Düsseldorf, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart, Mainz -- die Abwesenheit der Metropole ließ in allen Bundesländern kulturelle und wirtschaftliche Kristallisationskerne wachsen und gedeihen. Hat das den Schwaben geschadet, den Hessen, den Pfälzern? Berlin, ein Ballungsraum mit über fünf Millionen Menschen, würde als Hauptstadt einen unüberwindbaren zentralistischen Sog auf die Nation ausüben, wo doch der Zentralismus nicht nur unter dem Vorzeichen des Sozialismus gerade in der DDR versagt hat, sondern auch in der westlichen Welt: Was unternimmt die französische Politik nicht alles, um den Moloch Paris einen Teil seiner Kraft zu entreißen und auf die geschwächten Regionen der »Grande Nation« zu verteilen! Paris hat erkannt: Ein Europa ohne Grenzen braucht keine mächtigen nationalen Hauptstädte als Relikte des Absolutismus mehr, sondern gesunde regionale Strukturen. Gerade eine Hauptstadt darf den Weg in die wirtschaftliche Zukunft auch der Deutschen in Europa nicht blockieren -- sie muß ihn ebnen.

Zweitens: Bonn steht für Europa. Das Kräftezentrum Europas und damit eines der wenigen der Welt ist das Dreieck Paris, Brüssel, Bonn. Nicht erst 1992, wenn die Verwirklichung des Binnenmarktes Europa Konrad Adenauers Politik der Westbindung krönt, sondern seit 1949: Bonn hat die Nachkriegswelt geprägt, an Europa gebaut, Freundschaft mit der Welt geschlossen. Im Ausland spricht man anerkennend von der Bundesrepublik als der erfolgreichen »Bonner Demokratie«. Von Bonn aus hat deutsche Politik ihre Schrecken in West und Ost verloren, von hier aus wurde in enger Partnerschaft mit Frankreich die Vision Europa verwirklicht, von hier aus entwickelte Europa seine Anziehungskraft, der letztendlich die Diktatur im Ostblock, der Kalte Krieg erlag. Die stille Effektivtät »Bonner Politik« leistete einen wichtigen Beitrag dafür, daß die Menschen in Europa heute bereit sind, die östlichen Nachbarländer in das »Gemeinsame Haus Europa« einziehen zu lassen. Und Bonn steht auch dafür, daß Deutschland für seine Nachbarländer »das Problematische verloren hat«, wie es kürzlich der polnische Botschafter in Bonn formulierte -- und nur diesem Deutschland als verläßlichem Partner der Welt galt die Sympathie dieser Welt, als am 9. November 1989 die Mauer fiel.

Drittens: Bonn steht für den Aufschwung im Osten. Und nicht Berlin, obwohl viele behaupten, es hänge von der Wahl des Regierungssitzes ab, ob die Deutschen in Cottbus eines Tages die gleichen Lebensqualitäten haben wie jene in Aachen. Berlin aber wäre alles andere als ein Vorteil für das Wiedererstarken der fünf neuen Länder, von denen vier allein an Bevölkerungszahl, von der wirtschaftlichen Kapazität ganz zu schweigen, kleiner sind als Groß-Berlin. In den Jahren des rigorosen SED-Dirigismus wuchs Berlin überproportional auf Kosten zahlreicher ostdeutscher Städte und fast aller der insgesamt 15 Bezirke. Zu den großen Verlierern des kommunistischen Zentralismus zählen vor allem die ehemals blühenden sächsischen Zentren. Wenn hier etwas geändert werden muß, dann müssen im Zuge einer Re-Föderalisierung der ehemaligen DDR zentrale Behörden wieder nach Leipzig, Dresden, Halle oder Rostock verlagert werden, anstatt das Ausbluten der Länder unter anderen Vorzeichen fortzusetzen. Ein Blick in die bundesdeutsche Geschichte bestätigt: Der Aufbau nach dem Krieg begann auf kommunaler Ebene und führte dann zu nationalem Wohlstand. Die starke Selbstverwaltung der Gemeinden, auf die die Besatzungsmächte nach dem Krieg setzten, war der erste Glücksfall für die westlichen Zonen, die Entscheidung der Amerikaner, in der Bundesrepublik ein Modell einer föderativen Ordnung nachzuzeichnen, der zweite. Warum können wir aus dieser wirtschaftlichen Erfolgsstory

nicht lernen und den neuen Ländern die Chance geben, endlich aus dem alles überlagernden Schatten Berlins herauszutreten?

Viertens: Bonn steht für deutsche Geschichte. Es entspricht viel stärker der einzigen Kontinuität in der deutschen Vergangenheit: dem jahrhundertelangen Ringen um Für und Wider eines Nationalstaates, dem Kampf der Fürstentümer, der Länder und Städte, um Unabhängigkeit um kulturelle, politische, ökonomische Eigenständigkeit. Wie es in Deutschland keine lange nationalstaatliche Tradition gibt, gibt es auch keine Hauptstadt-Tradition. Die Berliner Hauptstadtgeschichte im engeren Sinne -- also nicht jene lange als Sitz der Hohenzollern-Dynastie -- war eine Episode von gut 70 Jahren, die unrühmlich begann und ebenso endete. Niemand lastet dies den Berlinerinnen und Berlinern von heute an, aber sie können deshalb auch keine »demokratische Hauptstadttradition« bemühen. 1866 erzwang Bismarck mit Gewalt die Demontierung der damals anerkannten und mit ehrwürdigen Traditionen und demokratischem Erbe ausgestattete Kaiser- und Hauptstadt Frankfurt; danach war Berlin Metropole eines Nationalstaates mit Weltmachtanspruch, Symbol für dramatische deutsche Politik mit wenigen Höhen und schrecklichen Tiefen. Berlin -- eine kurze und schlimme Phase deutscher Geschichte, die mit Aachen, Bonn, Nürnberg, Frankfurt, Regensburg, Mainz und anderen Hauptstädten unserer Vergangenheit eines gemein hat: Sie alle zeugen von Vielfalt und Wechsel der Hauptstädte als einem der wichtigsten Charakteristika deutscher Geschichte auf der Suche nach dem rechten Verständnis von Staat und Nation.

Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Eine Hauptstadt Berlin gab es nur in der DDR-Verfassung -- weder in der alten Reichsverfassung noch in der Weimarer Verfassung, noch im Grundgesetz findet sich ein Hinweis darauf, daß Berlin die Hauptstadt Deutschlands sei. Im deutschen Einigungsvertrag wurde das Kernproblem der Hauptstadtfrage ausgeklammert: Die Entscheidung der Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird der freien und souveränen Beschlußfassung des gesamtdeutschen Parlamentes vorbehalten. Sicher brauchen wir Berlin, das zweifelsohne derzeit ein soziales Laboratorium im Zusammenwachsen des vereinten Deutschlands ist. Wir brauchen Berlin als europäische Drehscheibe nach Osten, als Tor zu Mitteleuropa, als kulturellen und wirtschaftlichen Pulsierpunkt in den fünf neuen Ländern Deutschlands. Aber die Politik der Bundesrepublik Deutschland in einer europäischen Zukunft muß in Bonn gemacht werden. Deshalb werde ich für Bonn stimmen -- für das Sinnbild des zweiten deutschen Anlaufs zur Demokratie, für den deutschen Beitrag zu Frieden und Freiheit in unserer Welt, für blühende deutsche Länder in einem Europa ohne Grenzen.

Gerlinde Hämmerle, SPD >>
Quelle: http://www.bundestag.de/bau_kunst/berlin/debatte/bdr_130
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