179. Sitzung
Berlin, Freitag, den 3. Juni 2005
Beginn: 9.00 Uhr
* * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *
* * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *
* * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *
Präsident Wolfgang Thierse:
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell wurde vereinbart, dass am Mittwoch, dem 15. Juni 2005, keine Befragung der Bundesregierung stattfindet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Tagesbetreuungsausbaugesetz – TAG)
– Drucksachen 15/3676, 15/3986, 15/4045 –
(Erste Beratung 123. Sitzung)
Zweite Beschlussempfehlung und zweiter Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12. Ausschuss)– Drucksache 15/5616 –
Berichterstattung:Abgeordnete Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Ingrid Fischbach Jutta Dümpe-Krüger Ina Lenke
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich (KEG)
– Drucksache 15/4532 –
(Erste Beratung 157. Sitzung)
– Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch
– Drucksache 15/4158 –
(Erste Beratung 157. Sitzung)
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12. Ausschuss)
– Drucksache 15/5616 –Berichterstattung:Abgeordnete Marlene Rupprecht (Tuchenbach) Ingrid Fischbach Jutta Dümpe-Krüger Ina Lenke
b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 15/5617 –
Berichterstattung:Abgeordnete Bettina Hagedorn Antje Tillmann Anna Lührmann Otto Fricke
Zum Tagesbetreuungsausbaugesetz liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vor. Zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Renate Schmidt.
Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Am 1. Januar dieses Jahres ist das Tagesbetreuungsausbaugesetz, das TAG, in Kraft getreten, nachdem der Einspruch des Bundesrates mit der Mehrheit des Bundestages zurückgewiesen worden war. Schon nach nicht einmal fünf Monaten zeigt sich, dass dieses Gesetz greift.
Das Land Rheinland-Pfalz hat das Gesetz zum Beispiel zum Anlass genommen, das Programm „Zukunftschance Kinder – Bildung von Anfang an“ zu initiieren und damit die Kinderbetreuung nachhaltig zu verbessern. Große Städte wie Düsseldorf und kleinere wie Felsberg forcieren den Ausbau von bedarfsgerechten Angeboten der Tagesbetreuung für Kinder. Kommunale Spitzenverbände wie der Städte- und Gemeindebund unterstützen das Ausbauprogramm. In mittlerweile 150 lokalen Bündnissen setzen Kommunalpolitiker und -politikerinnen, freie Träger und die Wirtschaft alles daran, das Betreuungsangebot zu verbessern und Eltern die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie zu erleichtern.
Ich nehme im Übrigen für mich nicht in Anspruch, dass nur durch das TAG der Ausbau vorangetrieben wird; aber er wird dadurch deutlich beschleunigt.
Viele Kommunalpolitiker sagen mir, dass sie nur durch die im TAG verankerte Pflichtaufgabe überhaupt die Möglichkeit haben, tätig zu werden. Das TAG gibt also dem Ausbau der Betreuung den notwendigen Kick.
Um das KICK geht es heute, um den vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Er enthält unter anderem weitere Regelungen, die den Ausbau der Tagesbetreuung flankieren. So wird mit der jetzt vorgesehenen Regelung der Erlaubnispflicht in der Tagespflege der Forderung der Sachverständigenkommission zum Zwölften Kinder- und Jugendbericht genauso Rechnung getragen wie den Bedenken, die in der Sachverständigenanhörung geäußert wurden, wo man sich einhellig für eine Erlaubnispflicht zur Tagespflege ausgesprochen hat. Auf der anderen Seite wird ein unverhältnismäßig hoher bürokratischer Aufwand vermieden: Gelegentliche Betreuung, Nachbarschaftshilfe und Verwandtenhilfe bleiben selbstverständlich erlaubnisfrei. Die Tagespflegeerlaubnis soll künftig für bis zu fünf Kinder gelten und nicht mehr wie bisher für jedes einzelne Kind neu beantragt werden müssen.
Ich weiß, dass bei den Regelungen für die Tagespflege noch Wünsche offen bleiben. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass wir mit den Regelungen des TAG und des KICK in der Tagespflege als qualifizierter Alternative zur stationären Betreuung ein großes Stück vorangekommen sind.
Im Mittelpunkt dieses Gesetzentwurfes steht jedoch die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir machen Schluss mit dem Selbstbedienungsladen Jugendhilfe. Wir sorgen dafür, dass Eltern bei stationärer Unterbringung ihrer Kinder entsprechend ihren Möglichkeiten an den Kosten beteiligt werden. Das Finanzieren teurer Internate für Kinder aus vermögenden Familien, auch wenn es nur Einzelfälle waren, hat damit ein Ende.
Bereits in der Anhörung zum Regierungsentwurf des TAG im letzten Jahr wurde deutlich, dass mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz der Ausbau des Kinder- und Jugendhilferechts zu einem modernen, auf Prävention ausgerichteten Gesetz gelungen ist.
Neben dieser positiven Bewertung wurde ebenfalls mit großer Einhelligkeit der Änderungsbedarf bei folgenden Eckpunkten anerkannt: Konkretisieren des Schutzauftrages der Jugendhilfe, Stärken der Steuerungsverantwortung des Jugendamtes, Verbessern der Wirtschaftlichkeit dadurch, dass die Kinder- und Jugendhilfe nachrangig eintritt und Aufgaben nicht einfach dort hingeschoben werden können, Verwaltungsvereinfachung insbesondere beim Heranziehen zu den Kosten.
Diese Ziele setzen wir jetzt um. Wir verbessern zum Ersten den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl. Belastungen wie Arbeitslosigkeit, Trennung und Scheidung, finanzielle Probleme und andere stellen große Herausforderungen an die Familien dar, denen sie sich oftmals nicht mehr gewachsen sehen. Dies erhöht das Risiko von Vernachlässigung und Misshandlung. Die Jugendhilfe ist hier in besonderer Weise gefordert.
Zum Zweiten verbessern wir die fachliche und wirtschaftliche Steuerungskompetenz des Jugendamtes, damit vor dem Hintergrund knapper öffentlicher Kassen die Leistungen gezielt den jungen Menschen zugute kommen, die der Unterstützung bedürfen.
Dies geschieht durch das Eindämmen der Selbstbeschaffung und durch striktere Leistungsvoraussetzungen bei der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche.
Zum Dritten wird deutlich gemacht, dass die Jugendhilfe nicht länger der Reparaturbetrieb für die Versäumnisse anderer ist.
Insbesondere Schulen – da waren wir uns alle hier im Hohen Hause einig – müssen ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag überall nachkommen und dürfen ihre Verantwortung zum Beispiel bei Lese- und Rechtschreibschwächen nicht einfach an die Jugendhilfe abgeben. Damit muss endlich Schluss sein.
Zum Vierten schließlich wollen wir den Verwaltungsaufwand in den Jugendämtern durch eine Neuregelung der Kostenbeteiligung deutlich mindern, gleichzeitig aber auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Eltern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligt werden.
Zwischen dem KICK und dem vom Bundesrat vorgelegten KEG, dem Gesetz zur Entlastung der Kommunen, gibt es große Schnittmengen; das gestehe ich hier eindeutig zu. Es gibt aber auch einen wesentlichen Unterschied: Im KICK wird von der notwendigen Weiterentwicklung der Jugendhilfe ausgegangen, die dann auch positive Auswirkungen auf die kommunalen Finanzen hat.
Das KEG, das Gesetz zur Entlastung der Kommunen, hat die Entlastung der Kommunen als Erstes und nahezu Einziges im Auge, und zwar leider zum Teil ohne ausreichende Rücksichtnahme auf die fachliche Diskussion im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe.
So wird im KEG gefordert, die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche, § 35 a SGB VIII, wieder der Sozialhilfe zuzuweisen. Damit wären wir wieder in den Zustand vor der Einführung des § 35 a zurückversetzt, was ein dauerndes Hin- und Herschieben zwischen der Sozial- und der Jugendhilfe zur Folge hätte. Eine Streichung des § 35 a würde aber nicht nur die Abgrenzungsprobleme verschärfen – das habe ich gerade geschildert –, sondern zudem zu Mindereinnahmen in einem Großteil der Kommunen führen, da besser verdienende Eltern dann nach den maßgeblichen Vorschriften des SGB XII nicht entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zu den Kosten herangezogen würden.
Ich habe bei diesem Gesetzentwurf der unionsgeführten Länder manchmal den Eindruck, dass man dort der irrigen Auffassung ist, durch das Streichen eines Paragraphen verschwänden auch die Menschen, die bisher davon profitiert haben.
Das gilt übrigens auch für die im KEG vorgesehenen Leistungseinschnitte bei der Hilfe für junge Volljährige. Kurzfristig – das gestehe ich Ihnen zu – würde dadurch sicherlich gespart; mittel- und langfristig aber würde das Geld zum Fenster hinausgeschmissen werden, weil diese Maßnahmen, angefangen bei den Eingliederungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit bis hin zum Strafvollzug – das muss man hier einmal in aller Deutlichkeit sagen –, allemal teurer sind als ein rechtzeitiges Eingreifen der Jugendhilfe, wie wir es mit diesem Gesetz vorsehen.
Als großer Block bleibt noch die Forderung nach einer Kostenheranziehung bei ambulanten Leistungen. Diese Forderung lehnen wir deshalb ab, weil zum einen die zu erzielenden Einnahmen kaum die Bürokratie und den Verwaltungsaufwand bei einer einkommensabhängigen Kostenbeteiligung rechtfertigen könnten. Wenn hier aber einkommensunabhängige Kostenbeiträge erhoben würden, würde diese Zugangsmöglichkeit zu frühzeitigen Hilfen und Interventionen zulasten des Kindeswohls, aber auch des Elternrechts zunichte gemacht. Dies würde wiederum zu späteren intensiveren und kostenträchtigeren Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe führen.
Zum anderen würde die niedrigschwellige Inanspruchnahme von ambulanten Angeboten unmittelbar erschwert. Gerade im Zusammenhang mit einer Gefährdung des Kindeswohls lassen sich Eltern auf eine freiwillige Beratung in der Regel nur höchst zögerlich ein. Wir alle miteinander beklagen doch, dass die Hemmschwelle, zu einer Erziehungs- oder Familienberatung zu gehen, gerade für die Familien besonders hoch ist, die sie eigentlich am meisten brauchen. Eine Kostenbeteiligung würde dieses Problem nur noch verschärfen.
Die so genannte Finanzkraftklausel, also Jugendhilfe nach Kassenlage, lehnen wir ab.
Ich freue mich daher aufrichtig – ich war ja bei den Beratungen im Ausschuss dabei –, dass das Gesetz zur Entlastung der Kommunen gleich im gesamten Hohen Haus abgelehnt wird.
Es genügt den Ansprüchen einer modernen Jugendhilfepolitik genauso wenig wie dem Ziel, den Staat und vor allem die Kommunen zu entlasten. Leider habe ich von der letzten Jugendminister- und Jugendministerinnenkonferenz nicht den Eindruck mitnehmen können, dass dort die Einsicht herrscht, sich mit dem KEG gründlich vergaloppiert zu haben. Dies hat einen Kompromiss, den ich für möglich gehalten hätte, vereitelt.
Das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz dagegen enthält überzeugende Antworten auf die aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Es wird der staatlichen Mitverantwortung für das Aufwachsen junger Menschen gerecht. Es macht keine Abstriche im Leistungsrecht der Kinder- und Jugendhilfe. Junge Menschen und ihre Familien können weiterhin auf das Leistungsangebot vertrauen. Das Instrumentarium der Kinder- und Jugendhilfe wird verbessert, vor allem bei der Risikoabschätzung in Fällen der Kindeswohlgefährdung. Jugendämter werden von überflüssigen Verwaltungsaufgaben entlastet und Eltern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an den Kosten beteiligt.
Die Praxis der Kinder- und Jugendhilfe wartet auf dieses Gesetz und die Kommunen brauchen es. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie zu! Tragen Sie vor allen Dingen mit dazu bei, dass dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode auch im Bundesrat eine Mehrheit findet. Wir alle miteinander brauchen es.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.
Maria Eichhorn (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, zur Klarstellung: Der Ausbau der nachhaltigen Kinderbetreuung hat mit dem Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Jahre 1996 begonnen. Die Länder waren hier schon aktiv, lange bevor das Tagesbetreuungsausbaugesetz verabschiedet wurde. Heute geht es um den zweiten Teil des Tagesbetreuungsausbaugesetzes, nämlich um die Kinder- und Jugendhilfe.
CDU und CSU wollen eine Kinder- und Jugendhilfe, die den wirklich Hilfebedürftigen auch in Zukunft eine zielgenaue und qualitativ hochwertige Hilfe nachhaltig sichern kann.
Entscheidend sind für uns folgende Prinzipien: Subsidiarität, Stärkung der Eigenverantwortung, Vermeidung von Missbrauch.
Das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfegesetz hat sich in seiner Zielsetzung bewährt und zu einer Qualifizierung der Angebote im Interesse der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien beigetragen. 14 Jahre Praxiserfahrung zeigen aber auch die Notwendigkeit, einzelne Bereiche dieses Sozialgesetzes, deren Wirksamkeit und Kosten-Nutzen-Relation auf den Prüfstand zu stellen. Ziel der Prüfungen ist es, die Handlungsfähigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe, das heißt: eine qualitativ hochwertige und kostenbewusste Hilfe, auch in Zukunft zu sichern. Wir beobachten mit großer Sorge, dass die Ausgaben der Jugendhilfe von rund 14,3 Milliarden Euro im Jahre 1992 auf rund 20,6 Milliarden Euro im Jahre 2003 angestiegen sind.
Wir wollen gemäß der ursprünglichen Intention des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Prävention und Erziehung in den Familien wieder stärker fordern.
Dafür müssen wir aber auch die Mittel gezielt einsetzen. Dabei steht die soziale Verantwortung für die Hilfebedürftigen, die besonders auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen sind, im Mittelpunkt. Allerdings müssen wir bei der Gewährung von Sozialleistungen auch die Rahmenbedingungen beachten. Sozialpolitik kann nur funktionieren, wenn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Staates und seiner Leistungsträger sichergestellt ist. Deshalb können finanzpolitische und ökonomische Gesichtspunkte nicht völlig außer Acht gelassen werden.
Es besteht dringender Handlungsbedarf. Dieser wird seitens der Länder und der Kommunen bereits seit langem angemahnt. So wurde in einer gemeinsamen Entschließung, initiiert von den Ländern Bayern und Nordrhein-Westfalen, im Mai 2004 im Bundesrat beschlossen, die Bundesregierung und den Bundestag aufzufordern, eine substantiierte Änderung des SGB VIII vor allem mit dem Ziel der Entlastung der Kommunen und Länder auf den Weg zu bringen. Nordrhein-Westfalen war damals bekanntlich SPD-regiert.
Die Unionsfraktion hatte dazu bereits im Rahmen des Tagesbetreuungsausbaugesetzes zahlreiche Vorschläge gemacht. Offensichtlich hat der Druck auch Ihrer Kommunalpolitiker bei Ihnen endlich Wirkung gezeigt. Wir begrüßen, dass Sie zahlreiche Vorschläge von uns im Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz aufgenommen haben.
– Schauen Sie unsere Änderungsanträge vom letzten Jahr an; dann sehen Sie genau, was Sie übernommen haben.
Dazu gehört der grundsätzliche Nachrang der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber anderen Sozialleistungssystemen,
die stärkere Steuerungs- und Finanzverantwortung der Jugendämter sowie der verbesserte Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Besonders wichtig ist uns die stärkere Kostenbeteiligung von Eltern, jungen Volljährigen und Lebenspartnern, insbesondere die Möglichkeit der Kindergeldanrechnung bei Unterbringung von Kindern außerhalb des Elternhauses.
Eine nachhaltige Sicherung der Versorgungsstrukturen kann nur durch einen effizienten Mitteleinsatz erreicht werden. Die Jugendämter wissen am besten, wie die Prioritäten zu setzen sind, und brauchen entsprechende Entscheidungsfreiheit. Kinder- und Jugendhilfe dient grundsätzlich der Erziehung, Bildung und Betreuung junger Menschen. Dies ist ihre zentrale Aufgabe. Auf die Kernaufgaben der Kinder- und Jugendhilfe müssen wir uns endlich wieder besinnen. Diese sind die Förderung von Kindern und Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen Menschen, die Unterstützung von Eltern in schwierigen Erziehungssituationen und die nachhaltige Förderung der Erziehung in Familien. Dazu sind ziel- und zweckgerichtete Leistungen notwendig. Vor allem müssen Mitnahmeeffekte und falsche Anreize beseitigt werden, die eine wesentliche Ursache für den Kostenanstieg in der Kinder- und Jugendhilfe sind.
Fälle, in denen der Besuch einer teuren Eliteprivatschule im Ausland über die Eingliederungshilfe nach dem SGB VIII finanziert wird, zeigen die Mitnahmeeffekte und die falschen Anreizwirkungen des § 35 a SGB VIII. Das müssen wir ändern.
Die Praxis zeigt auch, dass diese Vorschrift von Interessengruppen aufgrund des ausufernden Tatbestandes zunehmend als freier Markt verstanden wird. Folge ist, dass zu viele Leistungen, zum Beispiel die Behebung von Lernschwächen und schulischen Defiziten, auf die kommunale Jugendhilfe abgewälzt werden. Jugendamtsleiter, mit denen ich in Verbindung stehe, insbesondere aus meinem Wahlkreis, berichten mir, dass es besonders im Bereich von seelisch behinderten jungen Menschen immer schwieriger wird, zielgerichtete Hilfen anzubieten. So gibt es nach wie vor erhebliche Vollzugsprobleme in der Praxis. Sowohl die Bedarfsermittlung als auch die Entscheidung über notwendige und geeignete Hilfeangebote konnten bis heute nicht zufrieden stellend gelöst werden. Auch Sie, Frau Ministerin, haben in der abschließenden Ausschussberatung am Mittwoch festgestellt, dass die Kinder- und Jugendhilfe nicht weiterhin Aufgaben wahrnehmen dürfe, für die sie nicht gedacht sei. Deshalb wollen wir mit einer Neufassung des § 35 a SGB VIII ein einheitliches Recht für alle jungen Menschen mit Behinderungen schaffen.
Handlungsbedarf besteht aus unserer Sicht auch bei der Hilfegewährung für junge Volljährige. Bisher können junge Volljährige auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres, in Einzelfällen sogar bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres, erstmals Jugendhilfeleistungen in Anspruch nehmen. Fachleute haben jedoch erhebliche Zweifel, ob diese Regelung die beabsichtigte Wirkung erzielt. Jugendhilfeleistungen für über 21-Jährige sollten daher nach dem Willen des Gesetzgebers auch nach derzeit geltender Gesetzeslage die Ausnahme sein. In der Praxis hat sich dies jedoch zum Regelfall entwickelt. Die Folgen sind massive Abgrenzungsprobleme zwischen Jugend- und Sozialhilfe sowie Zuständigkeitsstreitigkeiten. Durch die Neufassung, wie wir sie wollen, würde erreicht, dass bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfeleistungen fortgesetzt werden und Leistungen der Jugendhilfe spätestens mit Vollendung des 21. Lebensjahres beendet sind. Das lehnen Sie jedoch ab.
Die gesellschaftliche Integration junger Menschen sowie die Entfaltung ihrer Persönlichkeit erfolgt vor allem im Rahmen schulischer oder beruflicher Ausbildung. Wir wollen die Hilfegewährung gemäß dem Grundsatz „Fördern und fordern“ an eine schulische oder berufliche Ausbildung koppeln. Damit wird eine Grundlage geschaffen, die jungen Menschen ein eigenständiges Leben ermöglicht. Leider haben Sie auch dieses abgelehnt. Das ist völlig unverständlich.
Die von uns geforderte Öffnungsklausel ist aus Sicht der Länder notwendig. Einziges Ziel dieser Änderungen ist, Länder und Kommunen bei einem weiteren qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung zu unterstützen. Der qualitätsorientierte und bedarfsgerechte Ausbau der Kindertagesbetreuung hat für Länder und Kommunen bereits seit Jahren höchste Priorität. Die Länder waren aktiv, lange bevor das Tagesbetreuungsausbaugesetz von Ihnen vorgelegt wurde.
Um einen nachhaltigen Ausbau der Kinderbetreuung voranzutreiben, erarbeiten viele Länder derzeit eigene Gesetze – und das ist gut so. Dazu sind aber strukturelle Rahmenbedingungen notwendig, die der Bund schaffen muss. Sie haben in der abschließenden Ausschussberatung unseren Änderungsantrag hierzu abgelehnt. Damit wird der gesellschaftlich notwendige Ausbau der Kinderbetreuung wesentlich erschwert.
Die kommunalen Haushalte brauchen dringend mehr Entlastung. Vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl hatten wir uns mit Ihnen zusammengesetzt, um im Interesse der Kommunen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wir hielten und halten das auch nach wie vor für richtig. Leider haben Sie nach der Wahl diese gemeinsamen Gespräche aufgekündigt und unsere Änderungsanträge abgelehnt, obwohl Sie unsere Vorschläge vorher durchaus als berechtigt und richtig angesehen hatten. Das bedauern wir sehr.
Damit ist leider deutlich geworden, dass es Ihnen nicht um die Sache, sondern nur um Taktik vor der Nordrhein-Westfalen-Wahl ging.
Meine Damen und Herren, Ihre Behauptung, mit dem Gesetz zur Entlastung der Kommunen würde ein Kahlschlag in der Kinder- und Jugendhilfe erfolgen,
geht völlig ins Leere. Die Einsparungen daraus sind mit 250 Millionen Euro berechnet. Die Einsparungen bei Ihrem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz liegen bei 200 Millionen Euro. 50 Millionen Euro mehr an Einsparungen können keinen Kahlschlag bewirken.
Das KEG ist jedoch zielgenauer, um Missbrauch besser verhindern zu können.
Die im Gesetz zur Entlastung der Kommunen formulierte Finanzkraftklausel gibt immer wieder Anlass zu Diskussionen. In diesem Zusammenhang darf ich jedoch darauf hinweisen, dass Sie in Ihrem Entwurf des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch in § 70 selbst gefordert haben, die Finanzkraft der öffentlichen Haushalte angemessen zu berücksichtigen.
Wir haben dies damals abgelehnt, weil wir notwendige Leistungen nicht infrage stellen wollten.
Zur Finanzkraftklausel, die jetzt im KEG formuliert ist, hätten wir gerne durch einen Änderungsantrag eine Klarstellung erreicht. Doch alle Versuche zur Klarstellung sind an Ihnen gescheitert. Daher haben wir nun in unserem Entschließungsantrag unsere Haltung zur Finanzkraftklausel dargestellt. Wir wollen vermeiden – ich denke, darin sind wir uns einig –, dass diese Klausel zu uneinheitlichen Lebensbedingungen führt.
Um dies deutlich zu machen und Ihnen keine Gelegenheit zur Missdeutung zu geben, werden wir den Gesetzentwurf in der vorliegenden Fassung ablehnen.
Es wird wohl niemand in Abrede stellen, dass die kommunalen Haushalte mehr Entlastung brauchen. Ihre Vorschläge gehen nicht weit genug. Deswegen lehnen wir sie ab. Wir haben unsere umfassenden Forderungen, die ziel- und zweckgerichtet sind und wesentlich mehr zur Entlastung der Kommunen beitragen als Ihr Vorschlag, im vorliegenden Entschließungsantrag formuliert.
Mit einer neuen Politik in Deutschland wird es uns möglich sein, den Kommunen die notwendige Entlastung zu gewähren, dabei aber eine qualitativ hochwertige, zielgenaue und nachhaltige Kinder- und Jugendhilfe zu gewährleisten. Wir wollen mit unseren Vorschlägen erreichen, dass die präventiven Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und die Förderung von Kindern und Jugendlichen wieder stärker im Vordergrund stehen.
Das werden wir nach einer erfolgreichen Bundestagswahl in Angriff nehmen.
Ich danke Ihnen.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Jutta Dümpe-Krüger, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Jutta Dümpe-Krüger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Eichhorn, Ihre Vorschläge gehen wirklich zu weit. Deswegen lehnen wir sie ab. Ich glaube, dass es auch keinen Sinn macht, wenn Sie hier immer wieder ausufernde Leistungen, Mitnahmeeffekte und Missbrauchsfälle beschreiben, die es in dieser Art und Weise nicht gibt, wie auch in zwei Anhörungen deutlich wurde.
Wir alle wissen – und zwar nicht nur aus den Anhörungen –, dass die Jugendhilfe schon seit Jahren keine Luxusleistungen mehr erbringt.
Finanzkraftklausel, Einsparungen auf dem Rücken von jungen Menschen mit seelischen Behinderungen, Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts, Kostenbeteiligung bei ambulanten Leistungen, Sparen auf Kosten von jungen Volljährigen, Lockerung des Datenschutzes, Jugendhilfe nur noch unter deutschen Eichen – das ist die schwarze Horrorliste des Gesetzes zur Entlastung der Kommunen, kurz: KEG. Seine einzige Botschaft war: Die Kommunen müssen entlastet werden. Im Unterschied dazu ist das Ziel des rot-grünen KICK die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe. Wir sind aus fachpolitischer Sicht an die Frage herangegangen, wo noch Einsparungen möglich sind. Sie sind nach dem Motto vorgegangen: Wir sparen alles ein und dann gucken wir einmal, was passiert. Das unterscheidet uns voneinander.
Kurzum: Das KICK hat vor allem den fachlichen Blick auf die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe gerichtet. Es entlastet die Kommunen zusätzlich, aber nicht durch Leistungskürzungen. Das ist der Unterschied.
Zum KEG hat Ihnen die Caritas ins Stammbuch geschrieben:
Der Gesetzentwurf beschränkt sich weitgehend auf die Einführung fragwürdiger Instrumente zur schlichten Kostenheranziehung, anstatt innovative Lösungen sozialer Probleme zu ermöglichen und so einen wirtschaftlichen Ressourceneinsatz zu fördern, Selbsthilfekräfte zu stärken und damit die soziale Hilfe auch wirtschaftlich-effektiver zu gestalten.
So weit, so schlecht.
Vor zwei Tagen im Ausschuss haben Sie dann eine vermeintliche Kehrtwende hingelegt und gegen das KEG gestimmt,
nachdem Sie zwei Jahre lang eine Attacke nach der anderen – immer nach dem Motto: „Hau alles weg, was sozial ist“ – gegen die Kinder- und Jugendhilfe gefahren haben.
Nachdem Sie die gesamte Fachwelt auf die Barrikaden gebracht und die Praktiker das Fürchten gelehrt haben, könnte man nun mit ein bisschen gutem Willen meinen, Sie seien lernfähig. Man könnte sogar auf die Idee kommen, Sie hätten verstanden, dass man Kinder und Jugendliche nicht nur in schönen Sonntagsreden spazieren führen darf und montags dann fordern kann, es müsse nun Jugendhilfe nach Kassenlage geben und auf Kosten und zulasten unserer Kinder und Jugendlichen müssten die kommunalen Haushalte saniert werden. Man muss leider feststellen: Sie haben zwar einmal kurz in die richtige Richtung geblinkt, als Sie das KEG versenkt haben. Aber dann sind Sie zügig geradeaus in die falsche Richtung gefahren.
Sie haben einen Entschließungsantrag und etliche Änderungsanträge zum KICK eingebracht, mit dem Sie unser KICK verschlimmbessern wollen, und zwar indem Sie mit dem Griff in die Mottenkiste ziemlich alles wieder hineinschreiben, was schon vorher im KEG stand, mit Ausnahme der Finanzkraftklausel. Schauen wir uns das anhand von drei Beispielen einmal an.
§ 35 a, Eingliederungshilfe für junge Menschen mit seelischen Behinderungen: Im KEG wollten Sie § 35 a komplett streichen, und zwar angeblich aus Gründen der Gleichbehandlung und zur Vermeidung von Abgrenzungs- und Zuständigkeitsproblemen. In Ihrem Änderungsantrag fassen Sie ihn so, dass es faktisch einer Streichung gleichkommt. Eingliederungsleistungen wollen Sie gewähren,
… wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, vor allem nach Art und Schwere der Behinderung Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Kindern und Jugendlichen mit einer anderen seelischen Behinderung kann Eingliederungshilfe gewährt werden.
Ich habe es Ihnen schon im Ausschuss gesagt: Welches Tatbestandsmonster wollen Sie damit eigentlich schaffen? Der einzige Grund ist: Sie wollen die Jugendhilfe zur behindertenfreien Zone machen, weil Sie Kosten sparen wollen. Sie sorgen gleichzeitig mit solchen Formulierungen dafür, dass Eltern klagen müssten, um überhaupt noch Hilfen für ihre Kinder zu bekommen. Dazu bedürfte es eines riesigen Verwaltungsaufwandes und mindestens zwei Gutachten, nämlich zu Prognose und Krankenstand.
Zu den niedrigschwelligen Angeboten: Schon das KEG sah eine Eintrittsgebühr für Erziehungsberatung vor. Städte und Gemeinden sollten die Möglichkeit bekommen, bei ambulanten Hilfen zur Erziehung und Erziehungsberatung eine Kostenbeteiligung vorzusehen. Gleiches Spiel in Ihrem Änderungsantrag: Sie stellen denjenigen, die am dringendsten Hilfe brauchen und für die man versucht hat, niedrigschwellige Angebote – diese haben ihren Namen nicht umsonst – zu schaffen, Hürden in den Weg. Damit schließen Sie die Betroffenen von Beratung und Hilfe aus.
§ 41, Hilfen für junge Volljährige: Hier haben Sie ebenfalls nicht dazugelernt. Sie schreiben in Ihrem Änderungsantrag, dass Sie bei jungen Volljährigen nur begonnene Jugendhilfeleistungen fortsetzen wollen, dass die Ersthilfe für junge Volljährige komplett wegfallen soll und dass die Leistungen ab dem 21. Lebensjahr auf jeden Fall beendet sein sollen. Besonders bösartig ist die Formulierung, dass eine Maßnahme über den Zeitpunkt der Volljährigkeit fortgesetzt werden kann, wenn
… der junge Volljährige bereit ist, an der Maßnahme mitzuwirken, und diese Maßnahme für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung aufgrund der individuellen Situation des jungen Volljährigen notwendig ist.
Dies gilt nur, wenn der junge Volljährige an einer schulischen oder beruflichen Bildungs- oder Eingliederungsmaßnahme teilnimmt.
In Ihrem Entschließungsantrag setzen Sie dann noch eins oben drauf, indem Sie feststellen:
Im Sinne eines echten „Förderns und Forderns“ soll die Gewährung von Leistungen an die schulische oder berufliche Ausbildung der jungen Menschen gekoppelt werden.
Jede Hilfe zur Erziehung macht nur Sinn, wenn der Betroffene mitarbeitet; das ist aber heute schon so. Das sollten Sie eigentlich wissen. Es wäre ehrlicher, wenn Sie zugäben, dass Sie jungen Menschen, die in zunehmendem Maße als junge Erwachsene Hilfen für den schwierigen Ablösungsprozess und den Übergang in die Selbstständigkeit brauchen, von Hilfen ausschließen wollen. Dass Sie genau das vorhaben, kann jeder nachlesen. Sie sind ja der Meinung, dass jungen Volljährigen „notwendige Hilfe zur Selbsthilfe … durch die Leistungen zur Eingliederung aus dem SGB II angeboten werden“ soll.
Wenn man aber weiß, dass das SGB II ausschließlich auf schnelle Vermittlung junger Menschen ausgerichtet ist und dass gerade die unter § 41 SGB VIII fallenden jungen Menschen nicht zu denjenigen gehören, die schnell vermittelt werden können, dann verschlägt Ihr Motto „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner“ einem wirklich die Sprache.
Kindern und Jugendlichen in Notlagen muss geholfen werden. Dazu brauchen die Fachkräfte vor Ort Handlungssicherheit und auch klare gesetzliche Regelungen. Diesem Anspruch wird unser KICK gerecht: Es setzt die Not von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern in den Mittelpunkt und nicht die Finanzen. Wir haben die Jugendhilfe mit unserem Gesetzentwurf weiterentwickelt, um sie zukunftstauglich zu machen.
Ich sage aber auch: Wir können uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen. Dazu sind die Problemlagen zu vielfältig. Wir müssen unseren Blick weiter verstärkt auf die Probleme junger Menschen in prekären Lebenslagen richten und aus dieser Perspektive neue Maßnahmen entwickeln und erproben. Dazu gehören mehr Investitionen in die Jugendförderung und in die Prävention. Fachliche Standards müssen gesichert werden.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Dazu gehört für mich auch, dass alle Kinderregelungen – unabhängig von der Art der Behinderung eines Kindes – ins SGB VIII gehören. Es geht nicht an, dass wir die Regelungen, die Kinder und Jugendliche mit seelischen Behinderungen betreffen, ins SGB XII abschieben. In diesem Fall könnte ihnen nicht so gut geholfen werden wie bei einer Verankerung im SGB VIII.
Ich danke Ihnen.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Haupt, FDP-Fraktion.
Klaus Haupt (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das SGB VIII hat sich seit seiner Einführung 1991 grundsätzlich bewährt; dennoch hat sich in der Praxis Reformbedarf gezeigt, der über die bisherigen Änderungen hinausgeht. Sowohl mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich, KEG, als auch mit dem Koalitionsentwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, KICK – auch ich möchte diese Abkürzungen einmal benutzen –, will man eine höhere Effektivität in der Kinder- und Jugendhilfe.
Angesichts der angespannten Finanzlage der Kommunen müssen auch einzelne Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe kritisch überprüft werden. Wer jedoch in der Jugendhilfe sparen will, darf nicht vergessen: Ausgaben für unsere Kinder und Jugendlichen sind Investitionen in die Zukunft unserer Gesellschaft.
Falsches Sparen an dieser Stelle kann schlimme Folgen haben. Auf steigende Fallzahlen bei einzelnen Hilfearten kann die Politik nicht einfach mit der Abschaffung der betreffenden Leistungen reagieren.
Wenn Kinder und Eltern immer mehr tatsächlichen Unterstützungsbedarf haben, müssen wir viel mehr nach den Ursachen und nach besseren Lösungen fragen.
Wenn Jugendarbeit den heutzutage sehr großen Anforderungen nicht gerecht werden kann, dann trägt die ganze Gesellschaft die negativen – auch die finanziellen – Folgen.
Die Kinder- und Jugendhilfe hat am Sozialbudget unseres Landes keinen entscheidenden Anteil. Der Anteil der Kinder- und Jugendhilfe an den Ausgaben der Kommunalhaushalte ist für die insgesamt schwierige Finanzsituation nicht hauptsächlich verantwortlich. Doch die Haushaltslage gebietet es, dass alle kinder- und jugendpolitisch verantwortbaren Einsparpotenziale aktiviert werden. Hierbei dürfen wir die Kommunen nicht allein lassen.
Der Bund muss durch die Einführung des strikten Konnexitätsprinzips, wie es die FDP in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen hat, in die Pflicht genommen werden, die Finanzierungsverantwortung für die von ihm erlassenen Gesetze im Kinder- und Jugendhilfebereich zu übernehmen. Die Länder sind in der Pflicht, die vom Bund an die Kommunen gezahlten Mittel zur Bewältigung der Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe wirklich bereitzustellen. Gleichzeitig sind aber auch die Kommunen aufgefordert, noch stärker voneinander zu lernen, um Maßnahmen effizienter zu steuern.
Das KEG enthält weitreichende Änderungsvorschläge, nicht nur im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch in Bezug auf SGB I, SGB XI und SGB XII. Die FDP sieht zwar die gute Einsparabsicht, kann das KEG insgesamt aber nicht mittragen. Der Gesetzentwurf enthält im Bereich des SGB XII und des SGB I Regelungen, die in der vorgesehenen Fassung sozialpolitisch bedenklich und daher abzulehnen sind.
Dazu zählt vor allem die geplante Übertragung weitgehender Kompetenzen auf die Länder bei der Festlegung der Regelsätze in der Sozialhilfe. Im Bereich des SGB XII kann eine solche Freigabe der Regelsätze zu unzumutbaren Härten führen, wenn gerade finanzschwache Länder von ihren Regelsatzkompetenzen Gebrauch machen.
Aber auch hinsichtlich der Kinder- und Jugendhilfe sind im KEG Änderungen geplant, die mit der FDP schlicht und einfach nicht zu machen sind.
Eine Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts durch die vorgeschlagene Änderung des § 5 auf absolut kostengleiche oder kostengünstigere Maßnahmen würde das Pluralismusgebot in der Kinder- und Jugendhilfe im Kern treffen und ist daher abzulehnen.
Die Praxis hat die Notwendigkeit verdeutlicht, intensivpädagogische Maßnahmen im Ausland besser zu steuern und die Qualitätssicherung zu gewährleisten. Allerdings sollten solche Maßnahmen als Ausnahmefall eine Option für die Kinder- und Jugendhilfe bleiben.
Die vorgesehene Einschränkung der Hilfen für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche und die Verlagerung dieser Leistungen in die Sozialhilfe können von uns nicht mitgetragen werden. Es ist zu bezweifeln, dass aus der Sozialhilfe heraus mit gleicher Qualität wie bisher durch die Kinder- und Jugendhilfe Hilfen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen erbracht werden können. Außerdem ist es schlicht ein Verschiebebahnhof.
Der Einschränkung der Jugendhilfemaßnahmen für junge Volljährige kann ich ebenfalls nicht zustimmen. Diese Leistungen sollen auch künftig in Ausnahmefällen über die Vollendung des 21. Lebensjahres hinaus möglich sein. Denken Sie an Haftentlassene, denken Sie an Frauen, die zur Zwangsheirat verdammt waren.
Dagegen kann die FDP dem KICK zustimmen, nachdem die Koalition FDP-Forderungen entgegengekommen ist – wofür ich mich bedanke – und von einem generellen Erlaubnisvorbehalt für jedes einzelne Tagespflegeverhältnis Abstand genommen hat. Eine solche Regelung wäre realitätsfremd gewesen und hätte vermutlich noch mehr Tagesmütter in die Schwarzarbeit getrieben.
Das KICK enthält sinnvolle Weiterentwicklungen der Kinder- und Jugendhilfe. Zum Beispiel werden durch eine Stärkung der Steuerungskompetenzen der Jugendämter, insbesondere durch Einschränkung bei der Selbstbeschaffung von Leistungen und bei intensivpädagogischen Maßnahmen im Ausland, Einsparmöglichkeiten für die Kommunen eröffnet.
Ich begrüße auch ausdrücklich die angemessene Kostenbeteiligung von Eltern und die Berücksichtigung des Kindergeldvorteils bei Leistungen, die den Unterhalt des Kindes aus öffentlichen Kassen sichern. Auch die Konkretisierung des Schutzauftrages des Jugendamtes und die Klarstellung der Befugnisse bei Inobhutnahme sind ein Fortschritt. Eine scharfe Prüfung von Personen mit bestimmten Vorstrafen im Hinblick auf ihren Einsatz in der Kinder- und Jugendhilfe sollte eigentlich schon heute selbstverständlich sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit KICK und KEG stand die Wertigkeit der Kinder- und Jugendpolitik auf dem Prüfstand. Wir Liberalen haben uns kritisch, sachorientiert und konstruktiv – auch mit zwei Anträgen – bei der Suche nach nachhaltigen Lösungen eingebracht und sind dabei auch über parteipolitische Schatten gesprungen. Das ist in dieser Zeit nicht selbstverständlich. Ich kann Ihnen sagen: So werden wir es auch weiterhin tun, wenn es um die Zukunft unserer Gesellschaft, wenn es um Kinder und Jugendliche geht.
Danke schön.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Petra Pau.
Petra Pau (fraktionslos):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über das TAG, was auf Amtsdeutsch Tagesbetreuungsausbaugesetz heißt. Noch einmal übersetzt: Es geht um Kinder und es geht um ihre Betreuung in Kindertagesstätten. Der PDS geht es außerdem um eine garantierte und um eine qualifizierte Betreuung.
Rein statistisch ist Deutschland bei der Kinderbetreuung Schlusslicht in Europa. Hinzu kommt ein großes Ost-West-Gefälle. 37 Prozent aller Kinder bis drei Jahre können in den neuen Bundesländern betreut werden, was wesentlich an der Mitgift aus DDR-Zeiten liegt. In den alten Bundesländern liegt die Betreuungsquote im Durchschnitt bei peinlichen 2,7 Prozent. Das umschreibt die ganze Misere.
Nun soll die Tagesbetreuung ausgebaut werden. Das ist der Sinn des Gesetzes. Die PDS begrüßt das ausdrücklich.
CDU/CSU haben das Gesetz bislang angefochten. Ihr Argument: Die Kinderbetreuung falle nicht in die Kompetenzen des Bundes, sondern sei Sache der Länder. Ich merke an: Den Kindern und Eltern hilft das wenig, zumal die unionsregierten Länder bei der Kinderbetreuung am schlechtesten dastehen.
Außerdem – so argumentieren Kritiker des Gesetzes – würden die Kommunen damit finanziell überlastet. Sie wollen Kinderbetreuung bestenfalls nach Kassenlage. Ich merke an: Damit würde alles so bleiben, wie es ist, und zwar zulasten der Kinder und zulasten der Eltern.
Rot-Grün veranschlagt summa summarum vier Milliarden Euro, davon 1,5 Milliarden Euro, die den Kommunen, wie gesagt wird, dank Hartz IV erspart würden. Dazu kann ich nur anmerken: Das sind, wenn überhaupt, Peanuts im Vergleich zu den Steuergeschenken, die Rot-Grün an Wohlhabende und Unternehmen verteilt hat
und die der Opposition zur Rechten noch nicht weit genug gehen.
Nun komme ich zu den inhaltlichen Tücken des Gesetzentwurfs. Wenn es um eine bessere Kinderbetreuung geht, dann muss ausgeschlossen werden, dass es Betreuung guter und Betreuung niedriger Qualität gibt. Darauf macht die GEW mit Blick auf Ihren Gesetzentwurf aufmerksam. Die Gefahr ist auch nicht gebannt, wenn wir heute zustimmen, und sie wächst, wenn so genannte Ein-Euro-Jobber befristet zur Kinderbetreuung eingesetzt werden. Das lehnt die PDS ab.
Wir brauchen zudem einen individuellen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung, so wie das im rot-grünen Koalitionsvertrag einst vorgesehen war. Innerhalb einer Übergangsfrist muss er mindestens für Kinder von Erwerbstätigen, von Arbeitsuchenden und von Eltern in Aus- und Fortbildung sowie für Kinder mit besonderem Erziehungsbedarf gelten und danach generell.
Die PDS fordert übrigens ähnliche Regeln für Schulkinder, insbesondere dort, wo es keine Ganztagsschulen gibt, allemal in sozialen Brennpunkten.
Schließlich: Wer eine gute Kinderbetreuung will, und zwar für alle, der sollte in einem ersten Schritt alle von Hartz IV betroffenen Familien von den üblichen Gebühren befreien.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Fraktion, das Wort.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte für die Zuhörerinnen und Zuhörer einfach einmal klarstellen bzw. richtig stellen: Was wir eben gehört haben, war eigentlich ein Beitrag zu einem Gesetz, das bereits seit Januar in Kraft ist. Wir reden heute über den zweiten Teil der Reform und dabei geht es um die Kinder- und Jugendhilfe. Dazu haben die Ministerin und viele Kolleginnen und Kollegen Stellung genommen.
Die Diskussion führen wir seit Jahren. Sie wird nicht immer so geführt, wie ich sie mir wünsche, nämlich sachlich und an den Kindern und Jugendlichen orientiert. Sie wird dominiert von den Kameralisten und von denen, die gern Stimmung machen. Es gibt Schlagzeilen wie „Internatsaufenthalte in Schottland für Millionärskinder“, so erst vor kurzem bei mir in einem ländlichen Wahlkreis. Daraufhin habe ich den Jugendamtsleiter angerufen und gesagt: Herr Schmidt, erklären Sie mir doch einmal, warum der CSU-Kollege in der Zeitung heute von ausuferndem Missbrauch spricht! Wie viele haben Sie denn schon nach Schottland oder ins sonstige Ausland geschickt? Darauf hat er geantwortet: Frau Rupprecht, das haben wir noch nie gemacht. Dann habe ich gefragt: Wie kommt der Kollege denn dazu, so etwas in die Zeitung zu setzen und zu verbreiten, das sei die Regel?
Eine andere Schlagzeile ist: Luxusnachhilfe für Kinder von Reichen. – Klar, da erhitzen sich die Gemüter. Auch mich würde es furchtbar nerven, wenn ich den Kindern eines Millionärs auch noch die Nachhilfe zahlen sollte. Dass damit Stimmung gemacht wird und der Eindruck hervorgerufen wird, hier finde maßlos Missbrauch statt, ist nicht von der Hand zu weisen. Wer dies macht, hat natürlich eine Absicht. Er will bezwecken, dass wir die Kinder- und Jugendhilfe nur noch mit dem Blick auf möglichen Missbrauch anschauen.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit gern auf die Kinder- und Jugendhilfe lenken. Was ist denn Kinder- und Jugendhilfe? Worum geht es da? Worum geht es in unserem Entwurf? Ich will dazu noch einmal auf den § 35 SGB VIII – heute schon mehrfach zitiert und mehrfach vorgetragen – hinweisen. In diesem Bereich geht man unterschwellig immer davon aus, dass Missbrauch stattfindet, dass Leute öffentliche Leistungen bekommen, die ihnen nicht zustehen. Wenn das so wäre, dann gibt es dafür Ursachen. Entweder ist das Gesetz ungenau oder der, der die Leistung bewilligt, weiß nicht, was er bewilligt. Wenn das Gesetz die Ursache ist, muss das Gesetz geändert werden. Wenn derjenige, der die Leistung bewilligt, einen Fehler macht, muss der Landrat oder Oberbürgermeister ihm kräftig auf die Finger klopfen.
Präsident Wolfgang Thierse:
Kollegin Rupprecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dörflinger?
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Wunderbar. Herr Dörflinger, Sie geben mir Zeit, um das dann vielleicht noch etwas deutlicher auszuführen.
Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Frau Kollegin Rupprecht, ich brauche nur ein bisschen Aufklärung.
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Dazu bin ich da.
Thomas Dörflinger (CDU/CSU):
Sie haben eben dargestellt, dass es keinen Missbrauch gebe bzw. die Darstellungen über Missbräuche im Zusammenhang mit dem KJHG weit übertrieben seien. Können Sie mir erklären, warum die Ministerin in ihrem Beitrag davon gesprochen hat, dass man den Selbstbedienungsladen beseitigen müsse?
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD):
Herr Dörflinger, es geht nicht um Missbräuche, sondern darum, dass Eltern, die Probleme mit ihren Kindern haben, Leistungen in Anspruch nehmen, ohne das Jugendamt vorher zu konsultieren und dort die Leistungen genehmigen zu lassen. Dieses Vorgehen haben wir unterbunden. Selbstbeschaffte Leistungen werden nicht mehr ersetzt. Dabei ging es aber nicht um Missbrauch, sondern schlicht und ergreifend darum, dass Eltern in ihrer Not zum Arzt gegangen sind und dieser nach der Untersuchung gleich mit der Therapie angefangen hat. Hier haben wir präzisiert, was bisher schon im Gesetz stand, indem wir denjenigen, die Texte nicht gründlich lesen können, Nachhilfe gegeben haben.
So gilt nun, dass jemand, der ein Gutachten erstellt, nicht sofort eine Therapie durchführen darf. Vielmehr muss erst das Jugendamt darüber entscheiden. Das, was schon bisher im Gesetz stand und nun von uns noch einmal klargestellt wurde, ist höchstrichterlich mehrmals so bestätigt worden.
– Bei manchen dauert die Aufklärung halt etwas länger.
Schauen wir uns einmal die Praxis an. Ich kann jetzt nur für Bayern sprechen, weil ich von dort komme; das ist meine Heimat, dort fühle ich mich wohl. Ich habe 20 Jahre Schuldienst in Bayern hinter mir, daher weiß ich, was war. Damals habe ich noch eine Ausbildung für lese- und rechtschreibschwache Schüler bekommen. In Bayern passierte nun Folgendes: Man hat den Umgang mit diesem Problem aus der Schule in Privatpraxen verlagert; die Schulen haben sich also dieses Problems entledigt. Wir haben das nun klar geregelt: Die Behebung von Lernschwierigkeiten gehört in die Schulen. Erst wenn die Lernschwierigkeiten zu seelischer Behinderung führen, ist das Jugendamt zuständig. Damit das klar ist, haben wir es noch einmal unter dem Stichwort „Nachrang der Jugendhilfe“ in das Gesetz geschrieben. Ein Kind mit Lernschwierigkeiten ist nämlich an sich nicht seelisch behindert. Sie können jetzt natürlich fragen, ob man „seelische Behinderung“ überhaupt klar definieren könne. Darauf antworte ich Ihnen, dass es hier ganz klare internationale Klassifizierungen gibt. Diese können Sie nachlesen.
Ich glaube, dass jetzt mit unseren Regelungen zu § 35 a eindeutig und klar geregelt ist, wie das Verfahren abläuft und wer wofür zuständig ist. Dass wir insgesamt einen Aufwuchs verzeichnen, liegt daran, dass es schlicht und ergreifend mehr Fälle gibt.
Wenn Sie die Zahl der Fälle verringern wollen, müssen Sie die Strukturen vor Ort so verändern, dass Familien rechtzeitig Hilfe bekommen. Wenn man sich dagegen die Situation in Bayern anschaut, fragt man sich, was der CSU die Familie noch wert ist. So steht in einem Artikel aus Regensburg – das ist Ihr Wahlkreis, Frau Eichhorn – vom 1. Juni: „Freistaat spart bei der Erziehungsberatung“.
Die Staatsregierung fährt die Beiträge für die Erziehungsberatung brutal herunter und erwartet, dass die Eltern zur Selbsthilfe greifen, wenn sie Hilfe brauchen. So stellen wir uns strukturelle Jugendhilfe nicht vor.
Was wir wirklich nicht brauchen können, ist die Streichung von Hilfen.
Ich muss Ihnen auch noch etwas anderes vorhalten, was Bayern mit dem kommunalen Entlastungsgesetz vorhatte. Laut KEG ist die Fortgeltung abgelaufener Vereinbarungen rigoros auf sechs Monate beschränkt. Danach lassen Sie es frei floaten. Das bedeutet für alle Heimbewohner: Die Kostensätze sind frei, jeder kann verhandeln, wie er mag, und die Angestellten, die Pfleger und Betreuer, die dort arbeiten, müssen die neu ausgehandelten Tarife akzeptieren oder werden entlassen. Das haben Sie Gott sei Dank, weil auch Sie es mies fanden, abgelehnt. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es nach der Bundestagswahl, die ja nun bald bevorsteht, wieder eingebracht wird.
Das Allerschlimmste ist aber der Halbsatz, dass nur nach der Finanzkraft der Kommunen gehandelt wird. Gestern hat die Kollegin Fischbach, heute hat die Kollegin Eichhorn ausgeführt, dass die CDU/CSU verhindert hätte, dass die entsprechende Formulierung in den Entwurf des SGB XII kommt.
So ist das halt, wenn man nicht genau liest. Das ist wirklich ein Drama.
In diesem Entwurf und bei dem, was Sie zitierten, geht es darum – so ist das in allen Sozialgesetzen –, dass Haushaltspolitiker die Leistungsfähigkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit immer präzise berücksichtigen müssen, wenn sie Geld ausgeben. Es darf nicht so sein wie bei Ihnen, dass nur noch bezahlt wird, wenn Geld da ist. Das ist eine Veränderung des Staates weg vom Sozialstaat hin zum Almosenstaat.
Ich habe es Ihnen schon gestern gesagt: Mit uns nicht! Ich denke, die Menschen draußen werden das auch nicht wollen. Die, die keinen Staat brauchen, können gut darauf verzichten; die Mehrheit der Bevölkerung aber kommt irgendwann im Leben an einen Punkt, an dem sie die Hilfe der Gemeinschaft braucht. Da brauchen wir die Unterstützung und die Solidarität der anderen.
Sie sagen – das ist der gravierende Unterschied –: Es muss an die Sätze für Sozialhilfeempfänger herangegangen werden; sie müssen verändert und angepasst werden. Das ist Originaltext aus Bayern. Sie wollen hier totale Änderungen vornehmen und das Sozialhilfeniveau absenken. Wir dagegen sagen: Menschen brauchen ein bestimmtes Einkommen, damit sie leben können. Ihr Menschenbild möchte ich nicht unterstützen. Ich glaube, das KEG, das Sie jetzt ganz mutig abgelehnt haben, kommt – nach der Wahl – wieder im Rollback zurück. Ich hoffe und wünsche es der Bevölkerung, dass Sie keine Gelegenheit zur erneuten Ablehnung bekommen.
Danke schön.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort der Kollegin Verena Butalikakis, CDU/CSU-Fraktion.
Verena Butalikakis (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Rupprecht, wir sprechen hier natürlich nicht nur über die Kinder- und Jugendhilfe, sondern wir sprechen beim heutigen Tagesordnungspunkt auch über das Sozialhilferecht. Dazu kann ich nur wiederholen: Wir sprechen auch über die Finanzierbarkeit von Leistungen.
Die finanzielle Situation der Kommunen ist äußerst angespannt – deutlicher gesagt: die Lage ist katastrophal –, und das seit Jahren.
Das Gesamtdefizit war im Jahre 2003 auf der Rekordhöhe von 8,5 Milliarden Euro. Nach einem kurzfristigen Absinken im Jahre 2004 – weil die Kommunen so bei den Investitionskosten gespart haben – wird von den kommunalen Spitzenverbänden für dieses Jahr wieder ein Anstieg auf ungefähr 7 Milliarden Euro prognostiziert, das heißt Schulden in Höhe von 7 Milliarden Euro.
Da stellt sich natürlich sofort die Frage: Was hat denn die Bundesregierung oder die Regierungskoalition getan angesichts dieser dramatischen Lage? Ich will nur noch einmal darauf hinweisen: Die den Kommunen im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe versprochene Entlastung
in Höhe von 2,5 Milliarden Euro findet, wenn überhaupt, nur in geringerem Maße statt
– die Zahlen liegen noch gar nicht vor –; denn wir alle wissen, dass natürlich genau von diesen 2,5 Milliarden Euro – –
– Ich finde es schön, dass Sie so aufgeregt sind. Ich habe die Umfragen in der ARD heute auch gehört. Merkel liegt mit riesigem Abstand vor Schröder, das macht Sie natürlich nervös. Aber vielleicht hören Sie trotzdem noch einmal zu.
Also, wir alle wissen, dass von diesen versprochenen 2,5 Milliarden Euro natürlich mehr als die bisher angegebenen 1,5 Milliarden Euro für die Kindertagesbetreuung ausgegeben werden müssen.
Als Hauptursache der Verschuldung der Kommunen sind die ständig steigenden Sozialausgaben anzusehen. In den Jahren 2000 bis 2004 haben wir hier einen Anstieg um 6 Milliarden Euro zu verzeichnen, bei einem Gesamtvolumen in 2004 von über 32 Milliarden Euro. Deshalb ist es angesichts der finanziellen Not der Kommunen richtig und notwendig, finanzielle Entlastungsvorschläge zu machen. Genau dies erfolgt mit dem vom Bundesrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich.
Im Kinder- und Jugendhilfebereich und im Bereich des Sozialhilferechts werden hier konkrete Änderungsvorschläge vorgelegt, die zu Einsparungen führen; für den Sozialhilfebereich, auf den ich mich beziehe, in Höhe von 300 Millionen Euro.
Dass es richtig ist, Entlastungsvorschläge zu machen, ist das eine. Die im Art. 3 vorgesehene Finanzkraftklausel, die ja heute schon mehrfach angesprochen worden ist und offensichtlich nicht von allen verstanden wird, bezieht sich auf alle Sozialgesetzbücher.
Meine Kollegin Eichhorn hat dazu schon Näheres gesagt.
Ich will einmal eines ganz deutlich festhalten: Die unterschiedliche Finanzkraft der öffentlichen Träger darf nicht zu unterschiedlichen Lebensverhältnissen in diesem Lande führen. Ich glaube, darüber besteht Einigkeit hier im Haus. Ich will aber an dieser Stelle daran erinnern, weil das immer ein bisschen durcheinander geht.
Ich war in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses Ende 2003, die sich mit dem Sozialgesetzbuch XII beschäftigt hat. In dem Entwurf der rot-grünen Bundesregierung, von Sozialministerin Ulla Schmidt eingetragen, stand die Finanzkraftklausel.
Das ist auch nie bestritten worden, im Gegenteil. Man hat das daran gemerkt, dass die kommunalen Spitzenverbände gejubelt und gesagt haben: Wunderbar, da ist die Finanzkraftklausel! Es war die CDU/CSU in dieser Arbeitsgruppe, die genau diese Finanzkraftklausel hat streichen lassen, aber in dem Einvernehmen, dass – so steht es auch im Protokoll des Vermittlungsausschusses – eine Arbeitsgruppe eingerichtet werden soll, die sich mit den möglichen Einsparungen, die die Kommunen gerade im sozialhilferechtlichen Bereich erreichen könnten, beschäftigen soll.
Präsident Wolfgang Thierse:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Humme?
Verena Butalikakis (CDU/CSU):
Nein, ich möchte das gerne zu Ende bringen.
– Das fällt mir nicht schwer. – Diese Arbeitsgruppe, wie sie im Protokoll vermerkt ist, ist nie eingesetzt worden; das heißt, wir haben keine Entlastungsmöglichkeiten für die Kommunen.
Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion steht dafür ein. Um den Menschen und den Kommunen wirklich zu helfen, brauchen wir eine Gesamtkonzeption. Wir brauchen eine vernünftige Gemeindefinanzreform
und wir brauchen grundlegende Änderungen im sozialen Bereich.
Im Sozialhilfebereich weist die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen eine dynamisch wachsende Kostenentwicklung auf. In einem Zeitraum von nur zehn Jahren, von 1993 bis 2003, haben sich die Ausgaben fast verdoppelt
und alle Fachleute sind sich einig, dass die Kostensteigerungen anhalten werden.
Um die kommunalen Finanzen von diesem Risiko zu entlasten und vor allem um die Versorgung behinderter Menschen auch in Zukunft sicherzustellen, muss die Eingliederungshilfe auf eine neue Grundlage gestellt werden. In diesem Zusammenhang wird auch die Einbeziehung des Kindergeldes bei volljährigen Behinderten zu klären sein.
Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits im Oktober 2003 bei der ersten Beratung zum SGB XII – das ist jederzeit nachzulesen, weil der Entschließungsantrag vorliegt – die Bundesregierung aufgefordert, mit der Erarbeitung eines eigenständigen, von der Sozialhilfe unabhängigen Leistungsgesetzes zu beginnen. Die rot-grüne Bundesregierung lehnt dies bisher ab.
– Wir reden über ein Leistungsgesetz, Frau Kollegin Rupprecht. Ich glaube, Sie wissen jetzt nicht so richtig die Unterscheidung zu treffen.
Ich will einen weiteren Punkt in dem vorliegenden Gesetzentwurf ansprechen, den auch der Kollege von der FDP aufgegriffen hat und der thematisch eigentlich auch schon im Rahmen der Föderalismuskommission besprochen worden ist. Dazu will ich festhalten: Wiederum im Sinne von einheitlichen Lebensbedingungen in Deutschland halten wir die Regelungskompetenz des Bundes, bezogen auf die Bemessungskriterien für die Bestimmung der Regelsätze und bezogen auf die Zuständigkeit der Träger der Sozialhilfe, nach wie vor für notwendig.
Meine Damen und Herren, der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf belegt ein weiteres Mal, wie groß der Handlungsbedarf im Hinblick auf die Finanzsituation der Kommunen ist.
Mehrere Punkte – ich betone: mehrere Punkte – aus dem Gesetzentwurf sind wichtig und richtig. Aber nur ein Gesamtkonzept kann den Leistungsbedarf der Hilfebedürftigen sichern und gleichzeitig die Kommunen wieder handlungsfähig machen.
Deshalb lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf ab.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.
Christel Humme (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Seit zwei Jahren diskutieren wir nun Lösungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz. In den zwei Jahren – die Rede vorher hat mich in meiner Auffassung bestätigt – hatte ich immer den Eindruck, dass der Fachausschuss – das ist der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – eigentlich zum Finanzausschuss degradiert wurde.
Denn die Interessen von Kindern und Jugendlichen standen bei Ihnen von der Union meiner Ansicht nach zu selten im Vordergrund.
Ich sage an dieser Stelle Folgendes sehr deutlich. Für uns rot-grüne Jugendpolitikerinnen und Jugendpolitiker war von Anfang an klar: Leistungskürzungen für Kinder und Jugendliche, die unserer Hilfe bedürfen, wird es mit uns nicht geben. Darauf können sich die Kinder und Jugendlichen auch in Zukunft verlassen.
In zwei Anhörungen 2003 und 2004 haben uns die jugendpolitischen Fachleute mit großer Mehrheit Recht gegeben. Die von Bayern 2003 eingebrachte Initiative zur Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes und das ebenfalls von Bayern – wir haben es heute oft genug gehört – vorgelegte Kommunale Entlastungsgesetz, das so genannte KEG, wurden nahezu von allen Sachverständigen abgelehnt.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, erstaunlicherweise lehnen Sie heute das bayerische KEG ab. Dazu beglückwünsche ich Sie. Aber zu glauben, Sie hätten aus der Anhörung die richtigen Lehren gezogen, wäre falsch.
Sie lehnen zwar heute den Gesetzentwurf Ihrer eigenen Länder ab, führen aber das KEG mit Ihrem Entschließungsantrag durch die Hintertür sozusagen als „KEG light“ wieder ein. Das ist Tricksen und Täuschen; das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Wenn man im Wahlkampf bestehen will, dann gehört Ehrlichkeit dazu.
An Frau Butalikakis und an Frau Eichhorn gerichtet möchte ich sagen: Sie beziehen sich immer auf unseren Gesetzentwurf zum SGB XII und behaupten steif und fest, wir hätten die Finanzkraftklausel in § 70 gefordert.
Erstens steht in § 70, dass die Finanzkraft der öffentlichen Haushalte angemessen zu berücksichtigen ist. Es ist nichts also von einem Kahlschlag zu lesen, den Sie wollen. Zweitens bezog sich dieser § 70 nur auf eine kleine Vereinbarung mit den Trägern. Sie fordern aber, die Leistungen im gesamten Sozialgesetzbuch für alle Bereiche zu kürzen. Das geht zu weit; das lehnen wir strikt ab.
Zur Ehrlichkeit gehört auch, die ganze Wahrheit und nicht nur einen Teil der Wahrheit zu sagen.
Wir wollen das Kinder- und Jugendhilfegesetz weiterentwickeln. Damit entlasten wir auch die Kommunen, aber eben nicht auf dem Rücken der Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich der Kinder und Jugendlichen, die unserer Hilfe bedürfen. Gerade bei Ihren Forderungen zum Kinder- und Jugendhilfegesetz legen Sie offen, was konkrete Politik bei Ihnen tatsächlich heißt. Ihre Vorschläge, meine Herren und Damen von der Union, sind sozial ungerecht und gehen zulasten der Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Mittlerweile zieht sich das wie ein „schwarzer“ Faden durch all Ihre Maßnahmen in den unterschiedlichsten Politikfeldern: Wer wird belastet, wenn Sie die Steuerfreiheit auf Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge abschaffen? – Die Krankenschwester, die Nachtschichten macht, und der Arbeiter bei VW, der im Dreischichtsystem arbeitet.
Wer wird durch die Kopfpauschale, die Sie vorschlagen, belastet? – Die Sekretärin, die für ihre Krankenversicherung ebenso viel zahlen müsste wie ihr Chef. Wer wird belastet, wenn Sie die Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe kürzen? – Die Schwächsten unserer Gesellschaft, nämlich die Kinder und Jugendlichen.
Meine Herren und Damen von der Union, das Schlimmste ist: Sie verschlechtern die Chancen der jungen Menschen und sparen noch nicht einmal Kosten ein, sondern verschieben sie bloß. Sie lösen damit kein einziges Problem.
Sie wollen die Hilfen für junge Volljährige massiv einschränken; um das als Beispiel zu nennen. Wir haben es vorhin sowohl von der Frau Ministerin als auch von meinen Vorrednerinnen gehört. Ihre vermeintliche Sparpolitik wird die Kommunen teuer zu stehen kommen.
Denn wenn wir diesen jungen Menschen jetzt keine Hilfe geben, ist nicht selten ein späteres Abrutschen in Drogensucht, Straffälligkeit oder Obdachlosigkeit die Folge.
– Das ist so. – Präventive Maßnahmen sind besser als ein nachträgliches Kurieren; das ist ganz klar. An dieser Stelle haben wir die richtige Politik, indem wir die Prävention in den Vordergrund stellen.
Deshalb gehen wir mit unserem Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe, dem KICK, einen anderen Weg als Sie, einen Weg, der nachhaltiger und gerechter ist. In unserem KICK gibt es weiterhin zielgenaue Hilfen für Kinder und Jugendliche. Zudem entlasten wir die Kommunen. Darum ist es mir völlig unbegreiflich, dass Sie heute, wie es vorhin in einer Rede der Fall war, die Belastung der Kommunen bejammern und unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Denn mit unserem Gesetzentwurf erhalten die Kommunen eine Entlastung von rund 200 Millionen Euro.
Das sind Entlastungen, die sie zusätzlich für den Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen dringend brauchen. Denn wir wollen die Chancen der Kinder auf Bildung und Betreuung verbessern und nicht verbauen, wie Sie das wollen.
Unsere Politik ist – das zeigt KICK ganz deutlich – sozial gerecht. Ich weiß, dass die Jugendverbände, die die Interessen der Kinder und Jugendlichen wahrnehmen, Ihre Vorschläge schon seit Monaten kritisieren. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir stellen uns an die Seite der Jugendverbände, an die Seite der Kinder und Jugendlichen und kämpfen mit ihnen für die Durchsetzung ihrer Interessen. Wir sagen „Stopp!“ zu Ihrer ungerechten Politik.
Danke schön.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Tagesbetreuungsausbaugesetzes, das sind die Drucksachen 15/3676, 15/3986 und 15/4045. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5616, den bislang noch nicht abschließend beratenen Teil des Gesetzentwurfes auf den Drucksachen 15/3676 und 15/3986 als Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/5622? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5623? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP abgelehnt.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Kommunen im sozialen Bereich; das ist Drucksache 15/4532. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/5616, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses bei einer Enthaltung und einer Zustimmung abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/5624. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der FDP mit den Stimmen der übrigen Fraktionen abgelehnt worden.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Achten Buches Sozialgesetzbuch auf Drucksache 15/4158. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wachstum in Deutschland und Europa stärken – Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwickeln
– Drucksachen 15/5025, 15/5614 –
Berichterstattung:Abgeordnete Gudrun Kopp
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kenneth Rogoff, der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, hat gesagt: Wenn die Europäer in naher Zukunft mehr Wachstum sehen wollen, müssen sie den Fernseher anschalten. Das sind harte Worte, aber Recht hat er. Wenn man die neuen Wachstumsprognosen der EU-Kommission ansieht, stellt man fest, dass zwar die Weltwirtschaft robust ist – China, Indien, die Schwellenländer wachsen –, aber der Euroraum in diesem Jahr nur auf bescheidene 1,4 Prozent Wachstum kommt. Letztes Jahr hatten die USA 4,4 Prozent Wachstum, der Euroraum mickrige 2,1 Prozent. Das Pro-Kopf-Inlandsprodukt liegt in Europa bei 72 Prozent von dem der USA. Die USA haben eine Beschäftigungsquote, die 10 Prozent höher liegt als die der EU.
Was sagt uns das? Es sagt uns, dass das ehrgeizige Ziel, das wir uns vor fünf Jahren in Lissabon gesetzt haben – Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen –, in weite Ferne gerückt ist. Das Ziel war ehrgeizig, es war aber auch richtig. Die Zwischenbilanz, die jetzt, nach fünf Jahren, gezogen worden ist, ist ernüchternd. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, an dieser Ernüchterung haben Sie einen ganz großen Anteil.
Wenn man den Kok-Bericht ansieht, stellt man vor allem fest: Es mangelt an dem politischen Willen in den Mitgliedstaaten. Schöne Worte und Ankündigungen, die immer wieder gemacht werden – vor allem von Ihrer Seite –, tragen nicht dazu bei, dass wir zu mehr Wirtschaftswachstum kommen. Der Kommissionspräsident hat hier klare und mutige Worte gefunden, als er gesagt hat: So wie in den letzten fünf Jahren kann es hier nicht weitergehen. Es ist richtig, wenn mit den neuen Vorschlägen, die jetzt auf dem Tisch liegen, Wachstum und Beschäftigung in den Mittelpunkt rücken. Das entspricht genau der Aussage der Union: Wachstum und Beschäftigung sind das A und O und müssen für uns zukunftsweisend sein.
Das Ziel, das gesetzt worden ist, ist ehrgeizig und es ist auch wichtig, die die Abstimmung der EU-Länder effizienter zu gestalten. Aber Wirtschaftspolitik und Beschäftigungspolitik sind in erster Linie nationale Aufgaben. Wir selbst sind gefordert, unsere Hausaufgaben zu machen. Wir selbst sind gefordert, aus eigener Kraft unsere Wirtschaft wieder aufzurichten. Es geht in erster Linie um uns, um unser Land und um unsere Menschen. Es geht um unsere Verantwortung, die Verantwortung, die wir in Deutschland haben: für das Ganze und auch für Europa.
Wir haben Pflichten, die sich auch aus der Lissabon-Strategie ergeben.
Die deutsche Wirtschaft ist bei weitem die größte in Europa. Wir erwirtschaften ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts der EU der 25. Wenn wir unser Wachstumspotenzial betrachten, dann erkennen wir, dass wir nicht entsprechend diesem Potenzial wachsen. Unser Wachstum stagniert leider. Das Zugpferd, das wir vor vielen Jahren gewesen sind – wir als Deutsche waren stolz darauf, wir sind mit unserem Wachstum nach vorne gegangen und haben Europa gezogen –, sind wir heute nicht mehr, wir sind im Zug nach hinten abgedriftet. 2005 und 2006 werden wir wieder die Allerletzten des Wachstumszugs in Europa sein. Das heißt, wir Deutsche tragen durch Ihre Politik die Verantwortung dafür, dass Europa und seine Zahlen derart nach unten gezogen werden.
Seit Rot-Grün an der Regierung ist, hatten die Wachstumszahlen bis auf ein einziges Mal immer eine Null vor dem Komma. Auch dieses Jahr wird das Wachstum voraussichtlich nicht höher als 0,7 Prozent liegen. Wir sind also meilenweit von den 2 Prozent der Beschäftigungsschwelle entfernt. Ein so hohes Wachstum brauchen wir, wenn wir zu mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten kommen wollen. Auch die Zahlen, die uns jetzt vorliegen, sind nicht positiv. Die inländische Nachfrage schrumpfte im ersten Quartal wiederum um 0,6 Prozent. Besonders enttäuschend war die Entwicklung des privaten Verbrauchs. Das jüngste Bild, das uns durch die Zahlen vermittelt wird, zeigt, dass sich bei uns leider nichts ändert.
Wir haben immer noch das alte, bekannte Bild: Die Binnenkonjunktur liegt flach und das Einzige, das uns noch einigermaßen aufrechterhält, ist die Außenwirtschaft.
Selbst außenwirtschaftlich gute Rahmendaten, die wir durch die Weltwirtschaft haben, reißen uns aufgrund Ihrer verkorksten Politik, die uns inzwischen auf das ökonomische Abstellgleis geführt hat, nicht heraus. Es ist traurig, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, es geschafft haben, unser Land bis auf die Substanz herunterzuwirtschaften.
Es nützt auch nichts, wenn immer wieder versucht wird, irgendeinen Sündenbock zu finden. Sie finden ja immer irgendeinen Sündenbock, nur an Ihre eigene Nase fassen Sie sich nie. Der neueste Sündenbock sind jetzt Europa bzw. die Euroeinführung, die für die anhaltende Wachstumsschwäche verantwortlich sein soll. Ein anderes Mal war es der Stabilitätspakt. Ich sage: Deutschland hat seinen wirtschaftlichen Vorteil weniger durch die Einführung des Euro als durch die Amtseinführung dieser Regierung verloren.
Sie haben inzwischen offensichtlich jegliche Art von Hemmung verloren. Man braucht sich nur Ihren Haushalt anzuschauen. Das vierte Mal in Folge verstoßen Sie gegen den Stabilitätspakt. Das ist jetzt schon ganz normal; das ist Usus, das ist Tradition. Das ist offensichtlich nichts Schlimmes. Das war schon immer so und das wird auch weiter so sein. Das regt Sie überhaupt nicht mehr auf.
Wir wissen doch eines: Das Wichtigste für Wachstum und Beschäftigung sind eine solide Haushaltspolitik und eine solide Finanzpolitik.
Wenn Sie diese nicht betreiben, dann können Sie alle Hoffnungen vergessen, das Land nach vorne zu bringen und für mehr Wachstum zu sorgen, das mehr Menschen in Arbeit bringt.
Deswegen kann ich nur sagen: Es ist ein Segen, dass Sie Ihre Regierung nun selbst abwickeln, auch wenn Sie noch nicht genau wissen, wie.
Wir werden sehen, was Sie uns hier am 1. Juli 2005 vorlegen werden.
Wir als Union werden ehrlich sein und den Menschen nicht versprechen, dass wir sofort, von heute auf morgen, ein anderes Wachstum haben werden. Wir werden Zeit brauchen, um aus dieser Misere, die Sie zu verantworten haben, wieder nach oben zu kommen. Wir werden es probieren und unsere Kräfte einsetzen, um wachstumsfördernde Maßnahmen auf den Weg zu bringen, sodass wir wieder stolz auf unser Land sein können und sagen können: Wir Deutsche wollen im Zug in Europa wieder vorne sein und nicht vom Ausland bemitleidet werden, weil wir ganz hinten vor uns hindümpeln.
Wir werden die Sache in die Hand nehmen. Wir werden Bürokratie abbauen. Wir werden – Sie können das gerne im Protokoll nachlesen und es mir dann irgendwann vorhalten – kiloweise Gesetze entrümpeln, um auch denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen, dem Mittelstand, den Sie in dieser Legislaturperiode mit Ihrer Überbürokratisierung zusätzlich belastet haben.
Eines werden wir bestimmt nicht machen: Wir werden bestimmt nicht wie Sie unsere Aufgabe darin sehen, auf Richtlinien aus Europa etwas draufzusatteln. Diese Übererfüllung von europäischen Richtlinien ist wachstumshemmend. Das bürokratische Monster namens Antidiskriminierungsgesetz ist das abschreckendste Beispiel für den Übereifer, den Sie von Rot-Grün immer an den Tag legen.
Europa braucht nicht nur einen neuen Wachstumsimpuls aus Deutschland. Vor allem gilt jetzt nach den Voten in Frankreich und den Niederlanden: Europa braucht auch einen Begeisterungsschub. Wir haben die Verpflichtung, die Menschen mitzunehmen. Die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden müssen uns aufrütteln. Wir müssen uns fragen, warum die Menschen so entschieden haben. Wir haben die Verpflichtung, die Menschen an Europa heranzuführen. Wir müssen auch dafür sorgen, die Zwangsbeglückung, die zum großen Teil aus Europa kommt, in Maßen zu halten. Auch das ist unsere Verpflichtung als Deutsche und als Europäer.
Zum Abschluss möchte ich noch eines sagen: Wir müssen die Begeisterung für Europa wecken. Wir werden sie aber nicht wecken, wenn wir es wie diese Regierung machen und die Schuld für die Wachstumsschwäche in unserem Lande immer in Brüssel abladen. Ihr Motto lautet ja: Einmal ist der Euro schuld, ein anderes Mal ist der Stabilitätspakt schuld, aber die Regierung ist nie schuld.
Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Machen Sie wirklich Ihre Hausaufgaben! Dafür sind Sie gewählt worden. Suchen Sie Lösungen für die Probleme und schieben Sie die Schuld nicht immer auf andere! Sie sind noch immer die Regierung.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion.
Günter Gloser (SPD):
Guten Morgen, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Ergebnisse der Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden erfordern in der Tat, dass wir Antworten auf die Fragen der Globalisierung finden. Die Globalisierung wird von den Bürgerinnen und Bürgern in vielen Bereichen wahrgenommen und sie fragen: Wer gibt uns Antworten? Kann das die nationale Ebene machen oder muss das eher auf europäischer Ebene geleistet werden? Ich bin ganz klar der Auffassung, dass vieles in den Nationalstaaten erledigt werden muss, dass es aber ebenso erforderlich ist, dass die Europäische Union als Ganzes handelt und Antworten auf die Fragen der Globalisierung findet.
Sehr geehrte Frau Kollegin Wöhrl, wo haben Sie in Ihrer Rede Antworten auf die vor uns liegenden Herausforderungen gegeben?
Manchmal habe ich gedacht: Das ist wie bei einem unzureichend ausgebildeten Arzt, der seinem Patienten nichts anderes zu bieten hat als die Aussage: Weil Sie jetzt krank sind, müssen Sie schneller wieder gesund werden. Das ist mein Rezept. – Das ist aber gar kein Rezept.
Was muss konkret gemacht werden? Da Sie wieder einmal einem fröhlichen Marktradikalismus frönen, frage ich mich, ob das die Antwort auf die Ängste und Nöte der Bürgerinnen und Bürger ist.
Ich sage klipp und klar: Unsere Vorstellung von einer Europäischen Union und die Lissabon-Strategie – darüber werden wir heute noch sprechen – sehen vor, dass es eine Balance zwischen Europa als Wirtschaftsraum und Europa als einer sozialen Union geben muss. Da kann man nicht einfach sagen, dass einen eine Seite davon nicht interessiert. Sie und Ihr Ministerpräsident in Bayern geben schon zu erkennen, dass Sie einen sozialpolitischen Kahlschlag veranstalten wollen. Das aber ist keine Antwort auf die Ängste und Nöte der Bürgerinnen und Bürger. Hier muss ein Ausgleich geschaffen werden.
Sie stimmen immer wieder Ihre Klagelieder an. Frau Wöhrl, ich frage mich immer: Wo waren Sie und die CDU/CSU, als Sie in Ihrer Regierungszeit den Sozialsystemen, die in der Tat einer Reform bedürfen, die finanziellen Lasten der deutschen Einheit aufgebürdet haben?
Wie sähen denn die Sozialversicherungsbeiträge aus, wenn das nicht geschehen wäre?
– Herr Grill, Sie haben – das muss immer wieder deutlich gemacht werden – durch die falsche Finanzierung der deutschen Einheit die Sozialversicherungssysteme belastet. Wir haben jetzt diese Hypothek. Die Bürger und die Arbeitgeber haben sie heute noch zu tragen.
Wir wollen Sie an der Frage messen, was in Europa und was auf der nationalen Ebene geleistet werden muss.
In Ihrem Antrag steht:
Bildung, Forschung und Entwicklung haben immer noch einen zu geringen Stellenwert.
Oder:
Die Belastung für Unternehmen durch Steuern und administrative Hemmnisse ist im internationalen Vergleich zu hoch. (...) Die Ausgaben für Bildung und Forschung bleiben hinter den vereinbarten Zielen zurück und haben eine zu geringe Ausstrahlung auf die Wirtschaft.
Wie hat doch Frau Merkel so pathetisch gesagt? Ich will dem Land dienen. –
Das gilt doch nicht nur für die Regierung, das gilt auch für die Opposition. Was machen Sie denn im Bereich der Forschung? Wir sind es doch gewesen, die die Ausgaben für Bildung und Forschung nach Ihren Kürzungen in den Jahren bis 1998 erhöht haben.
Wir haben diesen Bereich ausgebaut.
– Daran ändert auch nichts Ihr Hinweis auf Ihre Elderstatesmen. – Wo sind denn beispielsweise die Initiativen der Kollegen Koch und Wulff? Das Exzellenzprogramm dieser Bundesregierung wird doch blockiert.
Alle Fachleute – auch konservative Ökonomen – sagen: Es hat gar keinen Sinn, einen Wettlauf beim Lohn- und Sozialdumping mitzumachen. Wenn wir in einer Wettbewerbsgesellschaft bestehen wollen, dann müssen unsere Produkte besser werden und dann müssen wir bei Bildung und Wissenschaft besser werden.
Aber was machen Sie? Seit Monaten wird dieses Programm blockiert. Warum denn eigentlich? Sie sollten nicht immer alle Aufgaben der Regierung überlassen. Sie könnten ganz klar sagen: Ja, Deutschland setzt ein Zeichen im Bereich der Bildung und Forschung und wir blockieren dieses Programm nicht.
Wenn Sie die Kongresse der Rektoren und Präsidenten von Universitäten verfolgen, dann wird Ihnen doch klar, woher der Wind weht. Die warten darauf, dass sie Geld bekommen. Sie aber verhindern dieses Projekt, nur weil Sie eine Blockadestrategie verfolgen.
Kommen wir zu der schönen Mär von Bürokratie. Wir hatten an diesem Mittwoch eine Anhörung zu der Richtlinie über Dienstleistungsfreiheit. Es ging zwar in erster Linie um juristische Aspekte, aber erfreulicherweise wurden auch wirtschaftliche Aspekte angesprochen. Da sagte ein Vertreter, der wirklich nicht der Sozialdemokratie nahe steht, sondern die Kammern in Brüssel vertritt, auf die Frage, warum sich so viele Ausländer als Selbstständige in Deutschland niederließen: Das liegt einfach daran, dass in vielen Mitgliedsländern der Europäischen Union ein viel größerer Verwaltungsaufwand als in Deutschland herrscht. Man braucht zahlreiche Bescheinigungen, aber in Deutschland ist das nicht der Fall. – Sehen Sie!
Sie sollten nicht immer diese Mär verbreiten, wir hätten einen überregulierten Staat. Es gibt Leute, auch in der Industrie, die sagen, dass es nicht so ist, wie Sie es immer beschreiben. Im Übrigen sind auch wir dabei, in bestimmten Bereichen Bürokratie abzubauen.
Ich komme noch einmal zurück
auf die Lissabon-Strategie. Wir geben Herrn Kok Recht, was die Prüfung der Lissabon-Strategie betrifft. Wir müssen uns auf Ziele konzentrieren. Ich sage ganz bewusst: Mit Papierbergen kann man keine Probleme lösen. Ich sage aber auch: Wenn wir die Lissabon-Strategie zum Erfolg bringen wollen, dann müssen wir auf diesen Feldern unsere Akzente setzen. Frau Wöhrl, von Ihnen habe ich keinen einzigen solchen Aspekt gehört, nur ein laues Sommerliedchen, das übliche Wehklagen der Union, aber keine konkreten Vorschläge. Das können wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Ich möchte wissen, wo Sie etwas ändern. Wollen Sie an die Sonntags- und Feiertagszuschläge herangehen? Hat es etwas mit der Lissabon-Strategie zu tun, ein soziales Ungleichgewicht herbeizuführen? Was wollen Sie mit dem Flächentarifvertrag machen?
Gerade in einer Zeit, in der die Bürgerinnen und Bürger unsicher sind, müssen wir Politiker den Menschen Sicherheit geben. Das heißt nicht, dass wir nicht reformbereit wären. Diese Regierung hat in den letzten Jahren ständig Reformen durchgeführt. Wenn Sie die OECD-Berichte lesen, dann stellen Sie fest, dass dort deutlich zum Ausdruck gebracht wird, was Deutschland in den letzten Jahren
im Bereich der Sozialversicherungssysteme angepackt hat. Das betrifft auch den Bereich, der beim vorhergehenden Tagesordnungspunkt diskutiert wurde, nämlich die Bildungspolitik und die Ganztagesbetreuung. Sie haben die Maßnahmen doch immer verhindert. Wir haben das Thema aufgegriffen. Sie sollten nicht so tun, als ob Sie diejenigen gewesen seien, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entdeckt hätten.
Sie sind erst nach zeitlicher Verzögerung dorthin gekommen.
Die Gestaltung der Lissabon-Strategie ist bei dieser Bundesregierung und dieser Koalition in guten Händen. Wer sich – wie Sie in den letzten Jahren – nur darauf beschränkt, zu blockieren, ist nicht tauglich, eine Regierung zu übernehmen.
Vielen Dank.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.
Rainer Brüderle (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben in dieser Woche tektonische Verschiebungen in Europa erlebt. Die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden haben ein politisches Erdbeben ausgelöst. Das Epizentrum ist sicherlich nicht Berlin, aber die Noch-Regierung Schröder/Fischer trägt ein großes Maß an Mitverantwortung für das Auseinanderdriften in Europa.
Grün-Rot hat aus Deutschland eine Wachstumsbremse gemacht. Deutschland zieht Europa runter. Deutschland stagniert mit einem Wirtschaftswachstum irgendwo zwischen 0,7 und maximal 1 Prozent. In England liegt das Wachstum bei 2,8 Prozent, in Spanien bei 2,6 Prozent und in Frankreich immerhin noch bei 1,9 Prozent. Wir streiten uns seit Jahren mit Italien, wer die rote Laterne in Europa trägt.
Im letzten Jahr hatten wir durch Kalendereffekte leichte Verbesserungen.
Entscheidender Punkt ist, dass das Wachstumspotenzial der deutschen Volkswirtschaft mit etwa 1 Prozent zu gering ist.
Das sagt Ihnen die Bundesbank, das sagen Ihnen die Wirtschaftsforschungsinstitute und das sagen alle Sachverständigen. Die Amerikaner haben ein Potenzial von gut 3 Prozent. Hier liegt der entscheidende Unterschied und das ist der Grund für die Schwäche unserer Volkswirtschaft. Dieser Unterschied ist jedoch nicht gottgegeben. Man kann auf Regierungsgipfeln wie im Jahre 2000 in Lissabon tolle Wachstumsziele beschließen, zu Papier bringen. Papier ist geduldig. Damit hat man aber in der Sache noch lange nichts erreicht, wenn man sich zu Hause nicht auf den Hosenboden setzt, seine Hausaufgaben erledigt und die Politik so gestaltet, dass man einen eigenen Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung einbringen kann.
Grün-Rot hat genau das Gegenteil gemacht. Besonders die Grünen missbrauchen die EU-Vorlagen für ihre Luxusagenda, siehe Gentechnikverhinderungsgesetz, siehe Antidiskriminierungsgesetz, siehe Chemikalienpolitik. Überall wird draufgesattelt. Zu Hause werden Luxusthemen wie Dosenpfand und Windrädchen befördert. Das fällt jetzt auf einmal selbst der SPD auf.
Herr Gabriel, Herr Müntefering lassen grüßen. Manche SPD-Kollegen haben sieben Jahre gebraucht, um zu merken, dass die Grünen Jobs verhindern. Sie werden als Siebenschläfer in die stolze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eingehen.
Die neue EU-Kommission hat die Lissabon-Strategie auf Wachstum und Beschäftigung fokussiert. Das ist richtig. Aber wie reagiert Deutschland? Herr Eichel möchte Europa am liebsten den Steuerwettbewerb per EU-Beschluss verbieten. Dahinter steht der eigenartige Satz: Statt selbst besser zu werden, müssen andere schlechter werden.
Heute lesen wir in der „Süddeutschen Zeitung“ – eine Ihnen sehr gewogene Zeitung –: Clement muss mit Rücktritt drohen, damit das Thema Unternehmensteuer in der Koalition überhaupt noch weiter angepackt wird.
Nur aufgrund der Rücktrittsdrohung von Herrn Clement wird es offenbar noch behandelt.
Statt selbst ein einfaches, niedliches, gerechtes Steuersystem einzuführen, will man lieber Estland und Slowenien die Flat Tax verbieten. Mit einem solchen Ansatz wird Europa nie zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt werden. Der nächste Beschlussvorschlag der grün-roten Bundesregierung wird wahrscheinlich lauten: Wir beschließen, dass China, Indien, Japan und die USA nicht mehr so stark wachsen dürfen, wie sie es bisher tun. – Das ist natürlich eine geniale Politik, um die eigenen Probleme zu lösen.
Es geht jetzt um die Brot- und Butterthemen. Wir müssen die Wachstumsbremsen in Deutschland lösen. Es geht darum, die Staatsquote zurückzuführen. Sie muss bei 40 Prozent und nicht in der Nähe von 50 Prozent liegen.
Wir brauchen betriebliche Bündnisse für Arbeit, damit man in den Betrieben eigene Entscheidungen – ohne Genehmigungspflicht der Kartellbrüder – treffen kann.
Deswegen sagen wir erneut: Wenn 75 Prozent der Mitarbeiter eines Betriebs bei freier und geheimer Abstimmung die alte Regelung haben wollen, müssen sie das Recht haben, zugunsten der Erhaltung ihrer Arbeitsplätze und der Schaffung neuer Arbeitsplätze einen eigenen Weg gehen zu können. Wir wollen Steuersenkungen, keine Steuererhöhungen.
Das darf ich auch den Freunden von der CDU/CSU sagen.
Eines muss klar sein: Man kann durchaus über eine Umstrukturierung des Steuersystems diskutieren,
aber per Saldo müssen die Menschen in Deutschland und die Unternehmen entlastet werden,
indem ihnen bei einer Umstrukturierung hin zu mehr zu mehr Eigenverantwortung in der Rentenvorsorge und im Gesundheitswesen auch die Möglichkeit geboten wird, das verfügbare Einkommen zu erhöhen. Diesen Weg müssen wir konsequent weiterverfolgen.
Die Unternehmensverfassung muss modernisiert werden. Daran ändern auch die Ausflüchte zu Karl Marx und der Kapitalismusdiskussion nichts. Karl Marx gehört ins Trierer Museum, aber nicht in die aktuelle politische Diskussion.
Rot-Grün versucht, FDP und CDU/CSU quasi als neoliberale Klabautermänner zu brandmarken.
Sie versuchen, das Erbe Ludwig Erhards zu erschleichen. Aber Ihnen fehlt jegliche geschichtliche Kenntnis. Ludwig Erhard hat sich selbst als Neoliberaler bezeichnet. Es war die Antwort auf die Nazizeit und der Einfluss der Freiburger Schule, dass kein Manchester-Kapitalismus betrieben wurde, sondern durch eine Ordnungspolitik eine Rahmensetzung vorgenommen wurde. Das ist soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft ist neoliberale Politik. Sie wollen offenbar keine soziale Marktwirtschaft, sonst würden Sie nicht immer wieder einen solchen Unsinn propagieren.
Soziale Marktwirtschaft ist sozial, weil sie die Chance bietet, dass jemand durch harte Arbeit, Tüchtigkeit und Engagement Erfolg hat, durch Leistung Geld verdienen und einen Arbeitsplatz finden kann. Sie betreiben eine Monopolisierungspolitik. Eon Ruhrgas lässt herzlich grüßen. Das Unternehmen hat mittlerweile einen Marktanteil von 87 Prozent und jetzt beklagt der Kanzler, dass die Gaspreise in Deutschland steigen. Wer einen solchen Monopolisierungsgrad zulässt, darf sich nicht über Fehlsteuerungen in der deutschen Volkswirtschaft wundern.
Das sind falsche Denkansätze. In Ihrer Politik stimmen die Grundachsen nicht.
Ihre Wirtschaftspolitik hat keinen Charakter, weil sie orientierungs- und prinzipienlos ist, weil sie nach Gutsherrenart gemacht wird, weil sie opportunistischen und publizistischen Gesichtspunkten folgt.
Herr Clement war ein guter Journalist, aber er hat sich nicht an den Grundachsen einer guten Wirtschaftspolitik ausgerichtet, die den Menschen bessere Chancen bietet. Deshalb muss die soziale Marktwirtschaft erneuert werden. Die Prinzipien müssen umgesetzt werden und die Politik der Beliebigkeit und der tagespolitischen Orientierung muss endlich ein Ende haben.
Vielen Dank.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile Kollegen Rainder Steenblock, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen zwar vorrangig eine innenpolitische Debatte, aber gestatten Sie mir zunächst einmal eine Anmerkung zu Europa und den sicherlich für uns alle durchaus schmerzlichen Ereignissen in Frankreich und in den Niederlanden. Sie sind ein Signal, das wir wahrnehmen müssen – das steht außer Frage –, weil es neben den innenpolitischen Themen in diesen Ländern darauf hindeutet, dass viele Menschen nicht mehr das Vertrauen haben, dass die Europäische Union die bestehenden Probleme lösen kann.
Wir wissen aber genau, dass es keine Alternative zur europäischen Integration gibt. Ein Zurück zu den Nationalstaaten wäre ein Zurück ins gesellschaftliche und ökonomische Abseits. Deshalb sollten wir – wie wir es auch in der Verfassungsdiskussion in Deutschland getan haben – uns dieser Debatte sehr intensiv annehmen. Wir haben in Deutschland mit großer Mehrheit für diese Verfassung gestimmt, weil wir wissen, dass es keine Alternative gibt.
Ich betone aber, dass wir uns davor hüten sollten, Europa für all das zum Sündenbock zu machen, was wir auf nationaler Ebene nicht hinbekommen haben.
Diese große Gefahr sollte in der Diskussion beachtet werden.
Ich glaube, dass die europäische Integration ein sehr hohes Gut ist. Sie hat uns 60 Jahre lang Frieden und Aufschwung in Europa beschert. Diese Phase der Stabilität und des Glücks in Europa kann nicht hoch genug geschätzt werden.
Deshalb ist alle billige Häme, die derzeit im Hinblick auf die Abstimmungen in Frankreich und Holland ausgegossen wird, zu verurteilen. Lassen Sie uns in dieser Frage zusammenstehen und Europa nicht für innenpolitische Debatten missbrauchen.
Was den Lissabon-Prozess angeht, hat Frau Wöhrl zu Recht gesagt, dass es auch um uns gehe. Es geht in der Tat um den deutschen Beitrag innerhalb der Lissabon-Strategie. Leider sind Sie, liebe Kollegin Wöhrl – der Kollege Gloser hat zu Recht darauf hingewiesen –, in Ihren Ausführungen dazu, welchen Weg wir verfolgen müssen und wie er konkret ausgestaltet werden kann, sehr allgemein geblieben.
Ich verstehe, dass es heute für Sie vor dem Hintergrund der diffusen Debatten in der CDU/CSU darüber, wie denn eigentlich ein ökonomisch sinnvoller Kurs aussehen soll, schwierig ist, überhaupt etwas Konkretes zu sagen. Aber ich meine, dass Sie damit nicht durchkommen dürfen.
Wir haben in der Frage, wie unser Steuersystem gestaltet werden soll, sicherlich Handlungsbedarf. Das ist von uns auch nie bestritten worden. Wenn man aber wie Sie herangeht und die Mehrwertsteuer nur erhöhen will, um eine Senkung der Einkommensteuer insbesondere für die Reichen zu finanzieren – darüber wird zurzeit in der CDU/CSU diskutiert –, dann ist das gerade vor dem Hintergrund der Referenden in Europa und der Stimmung in der Bevölkerung genau die falsche Antwort. Wir können es uns nicht leisten, die Probleme unserer Sozialsysteme so zu lösen und die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, sozialen Standards und der Innovationsfähigkeit unseres Gesellschaftsmodells so zu beantworten, dass man die öffentlichen Ressourcen noch mehr zugunsten der Reichen verschiebt. Vielmehr brauchen wir eine Stabilisierung der Sozialsysteme in diesem Lande. Dafür gilt es das Steuersystem umzubauen.
Wir, die Grünen, sagen sehr deutlich: Eine Mehrwertsteuererhöhung kann es nur geben, wenn es darum geht – das ist die zentrale Frage in Deutschland –, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, das heißt, die Lohnnebenkosten zu senken. Das muss das Ziel sein. Um Arbeit in Deutschland gerade im Bereich geringfügiger Einkommen attraktiver zu machen und um das Steuersystem umzubauen, brauchen wir eine Senkung der Lohnnebenkosten. Das wäre die große Jobmaschine. Aber Sie haben in den letzten Jahren ständig im Bremserhäuschen gesessen, wenn es galt, unser Steuersystem in diese Richtung umzubauen.
Bei der Lissabon-Strategie geht es auch um den Umbau unserer gesellschaftlichen Systeme, insbesondere der Sozialsysteme. Wir wollen als eine der zentralen Antworten eine Bürgerversicherung. Wie sieht Ihre Antwort aus, wenn es um den Umbau der sozialen Sicherungssysteme geht? Sie wollen die Menschen pauschal, also unabhängig von Einkommen und sozialem Status, mit den Kosten des Gesundheitswesens belasten. Das halten wir für einen fatalen Fehler. Das hat nichts mit der Stabilisierung der Sozialsysteme zu tun, sondern das verankert zunehmend Ungerechtigkeit in dieser Gesellschaft. Das lehnen wir ab. Wir wollen ein sozial gerechtes System, die Bürgerversicherung, einführen. Auch darum wird es in dem nun bevorstehenden Wahlkampf gehen. Die Bürgerinnen und Bürger wissen sicherlich genau, in welche Richtung sie zu votieren haben.
Zum Bereich der Subventionen: Wir haben mit großem Erstaunen festgestellt, dass plötzlich auch in der CDU/CSU eine Debatte über die Eigenheimzulage und die Pendlerpauschale entbrannt ist. Wir begrüßen, dass Sie beginnen, sich zu bewegen. Aber wo haben Sie in den letzten Jahren gestanden? Wir haben so häufig versucht, die Eigenheimzulage abzuschaffen und die Pendlerpauschale zu senken. Aber Sie von der CDU/CSU haben das alles ständig blockiert. Dadurch sind uns Milliardenbeträge verloren gegangen, die wir in diesem Land für die Schaffung neuer Arbeitsplätze hätten sinnvoll einsetzen können. Sie haben nur im Bremserhäuschen gesessen und sind Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.
Zum letzten Bereich: Wir wollen Europa – die Lissabon-Strategie ist dafür ein geeignetes Instrument – zu einem wissensbasierten, innovativen und dynamischen Standort machen. Wenn man sich anschaut, welche innovativen Vorschläge Sie in der Bildungspolitik gemacht haben bzw. bei welchen unserer innovativen Vorschläge Sie gebremst haben, dann muss man deutlich sagen: Wir, die rot-grüne Bundesregierung, haben den Bundesländern in den Bereichen Forschung und Bildung – auch wenn es nicht nur unsere Aufgabe ist – mit Milliardensummen unter die Arme gegriffen und versucht, hier vieles anzuschieben, und zwar gegen Widerstand aus Ihren Reihen. Es ist beschämend, dass in Deutschland noch immer die Herkunft und das Einkommen der Eltern darüber bestimmen, ob Kinder das Abitur machen und später eine Hochschulausbildung absolvieren.
Wenn es uns nicht gelingt, den Zugang zu unseren Bildungsabschlüssen sozial gerechter zu gestalten, dann werden wir unsere Aufgaben nicht erfüllen können.
Diese rot-grüne Koalition steht für eine sozial orientierte Bildungspolitik. Sie ist effizient und öffnet allen den Zugang zu den Bildungseinrichtungen.
Die zentralen Elemente einer Lissabon-Agenda sind: die Schaffung von zukunftsfähigen, auf Innovation ausgerichteten Arbeitsplätzen, die Schaffung von Arbeitsplätzen im Dienstleistungsbereich – dort gibt es riesige Potenziale, die wir ausschöpfen können – und die Schaffung von Arbeitsplätzen im Bereich der regenerativen Energien. Dabei geht es um viel mehr als um Windenergie; das Feld der regenerativen Energien ist viel größer. Auf diesen Gebieten sollten wir unsere Anstrengungen verstärken. Wir werden dort zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, dieses Ziel zu erreichen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen! Herr Steenblock, Sie haben hier über Ihre großartigen Leistungen in der Bildungspolitik gesprochen. Lassen Sie uns einmal die Ergebnisse der PISA-Länderstudie im Detail anschauen: Dort, wo SPD und Grüne regierten – mittlerweile gibt es keine rot-grünen Landesregierungen mehr, aber es gab einige –, sind diese Ergebnisse in einer bemitleidenswerten Weise schlechter. Wir sprechen hier über die Qualität von Bildungssystemen: Wir haben exzellente Arbeit geleistet. Sie sollten sich daran orientieren.
Sie haben mit Dankbarkeit festgestellt, dass wir über Eigenheimzulage und Pendlerpauschale sprechen. Wir hatten hierzu immer eine eindeutige Position: Wir werden frei werdende Mittel nicht verwenden, um Haushaltslöcher zu stopfen. Wir haben in der gestrigen Debatte wieder erlebt, dass Herr Eichel feststellen musste, dass sein Haushalt eigentlich nur noch aus Löchern besteht, und dass er nicht mehr weiß, wie er damit umgehen soll. Deshalb fordern Sie das deutsche Volk auf, Sie abzuwählen. Das ist ein ehrenwertes Vorgehen. Aber es ist in der Geschichte der Bundesrepublik einzigartig, dass eine Bundesregierung erklärt, sie sei nicht mehr fähig, irgendein Problem zu lösen, und das deutsche Volk bittet, sie abzuwählen. Wir werden sehen, wie sich das deutsche Volk verhält.
Herr Steenblock, ich habe mich gefreut, dass Sie mit dem Hinweis auf unsere grundsätzliche Frage angefangen haben. Der Verfassungsvertrag hat keine Zukunft. Die Frage, wie es mit Europa weitergeht, ist von grundsätzlicher und übergeordneter Bedeutung. Ich glaube nicht, dass es sehr viel Sinn macht, noch feinsinnigere Verhandlungen zu führen und noch großartigere Gebäude an Regularien und Vereinbarungen aufzubauen. Zu einem neuen Aufbruch kann es nur kommen, wenn wieder übergeordnete Ziele – Visionen – erkennbar sind und Personen, die sie verwirklichen.
Die Lissabon-Agenda, die ihren Niederschlag im ersten Verfassungsentwurf fand, war eine großartige Arbeit von tüchtigen Bürokraten. Sie enthielt eine unglaubliche Vielfalt an Vorschlägen, 28 Hauptziele, 120 Nebenziele, Ausführungen zu E-Europe, zu Chancen für Frauen und zu Dienstleistungen, Märkten und Finanzen. Oder frei nach Clausewitz: Wer alles deckt, deckt nichts. – Insofern ist das, was jetzt angelegt ist, klüger; denn es ist konzentriert auf Ziel: Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze sind entscheidend.
Herr Gloser, Sie haben vorhin darauf hingewiesen, wie wichtig das Soziale und die Umwelt sind. Richtig! Wir müssen erreichen, dass die Wirtschaft wächst und dass mehr Arbeitsplätze entstehen, und zwar, ohne unsere Errungenschaften zu beschädigen. Alles zugleich weiterzuentwickeln führt aber zu einem unbeherrschbaren System, in dem sich gar nichts mehr bewegt. Diese Erfahrung haben wir in den ersten fünf Jahren nach Lissabon gemacht. Angesichts dessen ist die Konzentration auf diese Ziele richtig: Wir bekommen Arbeitsplätze nur mit Wirtschaftswachstum. Wir bekommen Wirtschaftswachstum nur über Innovationen. Und Innovationen bekommen wir nur dann, wenn jeder Einzelne und wir alle gemeinsam die richtigen strategischen Ziele verfolgen. So sehen die Prioritäten aus.
Die in Lissabon entwickelte Strategie konvergiert mit dem, was wir hier sagen. Angela Merkel sagt, dass ein Schwerpunkt ihrer Regierungspolitik Innovationen sein werden. Edmund Stoiber sagt, wir müssten 3 Prozent vom Bruttosozialprodukt in die Forschung investieren. Angela Merkel sagt: Wir wissen, dass wir nur einen Schuss frei haben. Das heißt, dass wir in der Situation von heute in sehr kurzer Zeit das tun müssen, was Sie eigentlich 1998 wollten. Nur, Sie haben inzwischen das Ziel aus den Augen verloren. Seit Sie das Ziel aus den Augen verloren haben, sind Sie viel schneller vorangekommen. Aber das war nicht hilfreich für Deutschland.
In der Forschung haben Sie die gesamten Mittel noch nicht einmal um 10 Prozent nominal erhöht, wenn man das Soll 2005 mit 1998 vergleicht. Sie wollten sie eigentlich verdoppeln! Hier müssen wir etwas tun. Nur aus dem Grund, dass wir in diesem Bereich wieder klotzen können, haben wir gesagt: Die verschiedenen Möglichkeiten, die der Haushalt bietet, wollen wir nicht verplempern, indem wir die Löcher einer misslungenen Finanzpolitik stopfen, sondern wir wollen sie nutzen, um aus einer ganz schwierigen Situation – sie ist schwieriger als vor sechseinhalb Jahren, als Sie angefangen haben – einen neuen Start in die Zukunft zu schaffen.
In den Lissabon-Zielen sind jetzt in der Tat genau die Themen genannt, um die es hier geht: Attraktivität für Arbeitsplätze und Investitionen, Infrastruktur, offene, wettbewerbsorientierte Märkte, Bildung, Qualifikation, Wissen und Innovation. Der Stifterverband, der gestern getagt hat, sagt: Das Megathema ist Innovation. Ihr müssen wir alles unterordnen. Wir brauchen keine Reparaturen am Haus Deutschland, sondern ein neues Fundament aus Bildung, Forschung und Innovation. – Dieses neue Fundament brauchen wir, weil Sie das Fundament in den letzten Jahren systematisch haben zerbröckeln lassen. Sie sind nicht vorangekommen.
Selbst da, wo Sie vorangekommen sind, sind andere – das zeigt der Bericht – schneller vorangekommen als wir. Wir sind zurückgefallen. Weil wir zurückgefallen sind, ist Europa zurückgefallen. Wenn die stärkste Macht in Europa keine Linie aufbringt, dann fällt ganz Europa zurück. Wenn es in Europa früher haarig wurde – zu Kohls Zeiten, an die Sie sich so ungern erinnern –, hat man auf einen Staatsmann, hat man auf ein Land, auf Deutschland, geblickt.
Heute läuft die Sache auseinander, weil Sie eine Politik angelegt haben, die die Menschen nicht zusammengeführt, sondern auseinander gebracht hat.
Wir sind in einer Situation, die offenkundig schwieriger ist als vor sechs, sieben Jahren. Aber wir haben nach wie vor ein starkes Land. Reden Sie einmal mit den jungen Technologieunternehmen. Die wollen etwas und die können etwas.
Reden Sie mit den Wissenschaftlern in der Technischen Universität Darmstadt. Die sind froh, dass sie jetzt ihr eigenes Schicksal unbehindert von irgendwelchen übergeordneten, hoch intelligenten Beamtenentscheidungen gestalten können, dass sie selber Professoren berufen können, dass sie über ihre Immobilien verfügen können und dass sie Prüfungsordnungen einführen können. Geben Sie Freiraum!
Sie sagen, die bestehende Bürokratie sei gar nicht so schlimm. Ich kann Ihnen respektvoll sagen, dass in Deutschland sieben bis acht Wochen vergehen, bis ein Unternehmen gegründet werden kann; in England sind es sieben Tage. Dass wir auf diesem Gebiet nichts zu tun hätten, ist eine tollkühne Annahme. Unser Steuersystem ist so kompliziert, dass ein Mittelständler sich über mehrere Wochen des Jahres mehr mit seinen Steuerberatern und den möglichen Steuerlücken befassen muss als mit seinen Kunden und Lieferanten; das ist eine kranke Situation.
Was wir brauchen, ist der Raum, in dem wir uns auf die Tüchtigkeit der Einzelnen verlassen, aus dem Dynamik und Unternehmungsgeist entstehen. Dann wird Deutschland wieder seine Rolle in Europa spielen, die die Europäer zu Recht von uns erwarten. Mit Zuversicht, Gestaltungskraft und Mut muss in einer schwierigen Lage – diesen Umstand räumen wir alle ein – jeder seinen Beitrag leisten. Wir brauchen ein zuversichtliches Europa und eine wissensbasierte Gesellschaft, die mit der Tüchtigkeit ihrer Menschen, mit Unternehmungsgeist und Freiraum Arbeit schafft und ihre Rolle als Partner in der Welt spielt.
Präsident Wolfgang Thierse:
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Gerd Andres.
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Riesenhuber, ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Ihnen aufgefallen ist, dass die Lissabon-Strategie verändert wurde. Die Veränderung der Lissabon-Strategie hat diese rot-grüne Bundesregierung bewirkt.
Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie das feststellen. Das macht nämlich deutlich, dass Ihr Antrag, der vom 8. März datiert, überflüssig ist. Er ist deswegen überflüssig, weil ein ganzer Teil der Forderungen, die darin formuliert worden sind, schon längst erfüllt ist.
Sie haben völlig Recht, Herr Professor Riesenhuber – ich sage das ganz ausdrücklich –: Wachstum und Ökonomie gehören in den Mittelpunkt dieser Strategie, in den Mittelpunkt des politischen Handelns von Europa.
Weil Sie gesagt haben, man rede im Rückblick immer nur schlecht über die Regierung Kohl, der Sie angehörten, empfehle ich Ihnen, einmal nachzulesen – vielleicht können Sie das freundlicherweise auch an Frau Wöhrl weitergeben –, wie im europäischen Kontext Ihre Platzierung beim Wachstum in den 90er-Jahren war, als Helmut Kohl noch Regierungschef war. In den gesamten 90er-Jahren haben Sie immer den vorletzten Platz belegt. Vielleicht können Sie das auch Frau Wöhrl sagen.
Damit bin ich bei einem zweiten Thema; ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie das angesprochen haben. Die Schelte unserer nationalen Politik ist hinlänglich bekannt. Dass Sie das alles jetzt benutzen, um hier Wahlkampf zu machen, kann der interessierte Bürger ja auch verstehen. Ihr Antrag ist aber schädlich. Er ist schädlich, weil es gerade jetzt nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden ganz wichtig ist, den Bürgerinnen und Bürgern Europa wieder näher zu bringen und Vertrauen in Europa zu pflanzen. Ich glaube auch nicht, dass die Verfassung gescheitert ist, wie Sie das formuliert haben. Ich will festhalten: Es hat zwei Referenden gegeben. Die Ratifizierung in den europäischen Ländern muss weiterlaufen. Wir haben im Bundestag und im Bundesrat mit überwältigender Mehrheit ratifiziert und das ist gut so.
Man braucht aus dieser Vertragskrise keine europäische Krise zu machen. Deswegen ist es ganz wichtig, die Finanzverhandlungen in Europa in den nächsten 14 Tagen erfolgreich abzuschließen. Dazu ist Beweglichkeit von allen gefordert. Auch wir werden da beweglich sein.
Der dritte Punkt, den man festhalten muss, lautet: Geschlossene Verträge dürfen jetzt nicht infrage gestellt werden. Deswegen ist es Unsinn, beispielsweise über die vertraglich schon beschlossenen Erweiterungen um Bulgarien und Rumänien zu diskutieren und sie öffentlich infrage zu stellen. Ich habe heute Morgen ein Interview des Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses, Herrn Rühe, dazu gehört, das mir sehr gut gefallen hat. Er hat gesagt: Es gibt Verträge. Diese Verträge muss man einhalten. Es ist eine vernünftige Position, auf der Grundlage dieser Verträge weiter europäische Politik zu gestalten.
Zu Ihren europapolitischen Forderungen: Der Europäische Rat hat am 22. und 23. März die Lissabon-Strategie neu ausgerichtet. Nach jahrelangen Bemühungen, insbesondere auch der Bundesregierung, liegt der Schwerpunkt jetzt auf Wachstum und Beschäftigung. Diese Weiterentwicklung ist sinnvoll und richtig. Aber sie bedeutet nicht, dass alles zuvor Dagewesene falsch war. Insbesondere Ihre Vorwürfe, die Bundesregierung habe sich nicht entschieden genug für die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums eingesetzt, laufen völlig ins Leere. Wir haben uns seit dem Jahr 2000, als die Lissabon-Strategie geboren wurde, wie kaum ein anderer Mitgliedstaat für die Fokussierung auf Wachstum und Beschäftigung eingesetzt.
Wir haben dafür gekämpft, dass die Belange der Wirtschaft auf europäischer Ebene wieder stärker Berücksichtigung finden und die Bereiche „Förderung des Geschäftsklimas“, „Forschungsförderung“ und „Wissensgesellschaft“ wesentliche Bestandteile einer Neuausrichtung werden. Es war diese Bundesregierung, die darauf gedrungen hat, die Industriepolitik zu erneuern und der Wirtschaft durch vorbeugende Verfahren auf EU-Ebene Freiräume zu schaffen und zu erhalten.
In den beiden zurückliegenden Jahren stand insbesondere die Neuordnung des europäischen Chemikalienrechts, REACH, im Mittelpunkt. Dass jetzt noch einmal Anstrengungen unternommen werden und dass nach einer industrieverträglicheren Lösung gesucht wird, ist nicht zuletzt das Verdienst gemeinsamer Anstrengungen und Interventionen von Bundesregierung, VCI und IG BCE in Brüssel.
Ich verweise auch auf das gemeinsame Eintreten von Bundeskanzler Schröder und Staatspräsident Chirac für „europäische Champions“ oder die im Frühjahr 2004 gestartete Innovationsoffensive von Bundeskanzler Schröder, Staatspräsident Chirac und Premierminister Blair. Dazu, dass Sie jetzt endlich die Innovation entdeckt haben, Herr Riesenhuber, gratulieren wir Ihnen herzlich.
Das können Sie hier ganz oft vortragen. Aber ich kann Ihnen sagen: Das haben wir im europäischen Kontext längst vorangetrieben.
Ich werde Ihnen gleich noch ein paar Ergebnisse nennen.
Inzwischen hat Industriepolitik in Brüssel wieder einen ganz anderen Stellenwert. Noch einmal: Die Erfolge gehen eindeutig auf die Bemühungen dieser Bundesregierung und insbesondere des Bundeskanzlers zurück.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der intellektuelle Höhepunkt Ihres Antrags besteht in der Forderung, die europäische Wachstumsstrategie durch nationale Maßnahmen zu flankieren, die – keiner hat das bisher je für möglich gehalten – eine Reform der Sozialsysteme, eine Reform des Steuersystems, den Abbau von Überregulierung nebst Bürokratie und die Erhöhung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung beinhalten sollen. Toll, was in Ihrem Antrag steht! Ich empfehle den Bundesbürgern, die Zugang dazu haben, einmal die Seite www.bundestag.de aufzurufen und sich diesen Antrag herunterzuladen. Es ist wirklich ein Genuss, ihn sich anzuschauen.
Da weiß man wenigstens, was hier diskutiert wird.
Ich finde es beinahe ein bisschen peinlich, darauf eine Replik zu geben. Ich möchte vielmehr die Frage stellen: Wo waren die Autoren dieses Antrags die letzten Jahre? Die Bundesregierung hat ihre nationale Verantwortung gerade in den Kernbereichen Wirtschaft und Soziales sehr ernst genommen. Mit der Agenda 2010 haben wir große, wichtige Reformen angestoßen, die notwendig waren und erste Erfolge zeitigen. Dass sie schwierig sind, wissen wir selbst. Dass der so genannte Kok-I-Bericht der Bundesregierung gerade hierfür gute Arbeit bescheinigt, wird von Ihnen natürlich wohlweislich unterschlagen. Diese Bundesregierung hat die umfangreichste Steuerreform in Kraft gesetzt, die es je in Deutschland gab. Ich erinnere nur daran, dass wir den Eingangsteuersatz von 26 auf 15 und den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt haben.
Es gibt in der Tat weiteren Handlungsbedarf. Wie er aussehen kann, wissen Sie ja selbst. Sie diskutieren ja gerade öffentlich über Mehrwert- und Unternehmensteuern, die Streichung der Absenkung der steuerlichen Freibeträge für Sonntags-, Nacht- und Feiertagsarbeit und sogar über die Abschaffung der Eigenheimzulage. Diese Möglichkeit entdecken Sie offensichtlich nun, nachdem Sie sie mehrere Jahre blockiert haben. Das ist schon erstaunlich.
Am besten gefällt mir Ihre Forderung, unverzüglich den Anstieg der Förderung von Forschung und Entwicklung auf 3 Prozent umzusetzen. Um das 3-Prozent-Ziel zu erreichen, sollen bei uns die öffentliche Hand 1 Prozent, die Privatwirtschaft 2 Prozent beisteuern. Beide Werte sind so gut wie erreicht. Die öffentliche Hand liegt bei 0,77 Prozent, die Privatwirtschaft bei 1,78 Prozent. Deutschland steht im Vergleich der 25 EU-Länder – ich erwähne das der Vollständigkeit halber und um hier auch einmal Erfolge mitzuteilen – hinter Schweden und Finnland auf Platz drei.
Auch die im Antrag geäußerte Kritik hinsichtlich der Umsetzung der Binnenmarktrichtlinien in Deutschland ist schlicht überholt. Nach offiziell bestätigten Angaben der Kommission vom März betrug das deutsche Umsetzungsdefizit 1,6 Prozent, mittlerweile sogar nur noch 1,5 Prozent. Damit liegt Deutschland auf Platz fünf unter den 25 Mitgliedstaaten. Nur einmal zur Erinnerung für die interessierte Öffentlichkeit: Wir haben von Ihnen ein Defizit in der Größenordnung von 4 Prozent übernommen. Dieses Defizit haben wir systematisch zurückgeführt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich rate Ihnen, Ihre Zeit künftig sinnvoller zu verwenden. Solche Anträge helfen uns inhaltlich nicht weiter.
Sie haben nur ein Gutes: Die Auseinandersetzung damit zeigt, dass wir bisher auf einem guten Weg waren. Wir sind auch entschlossen, diesen Weg entsprechend fortzusetzen.
Schönen Dank.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill.
Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Andres, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie eine selektive Wahrnehmung haben, da Sie in Ihrer Rede mindestens 50 Prozent der deutschen und der europäischen Wirklichkeit verdrängt haben.
Wenn man sich die Analysen des Kok-Berichtes, nicht die der CDU/CSU, anschaut, dann findet man dort stichwortartig aufgeführt: überfrachtete Agenda, mangelnde Koordinierung und Konsequenz, Konflikte in Bezug auf unterschiedliche Ziele, die nicht aufgelöst sind – REACH und anderes – und mangelnder politischer Wille in den Nationalstaaten – das wird als Hauptursache angeführt –, sich wirklich aktiv der Lissabon-Strategie zuzuwenden. Herr Kollege Riesenhuber hat hier deutlich gemacht, dass ein Teil des Scheiterns der Strategie darauf beruht, dass versucht worden ist, in ein Papier alle Ziele hineinzuschreiben, die man überhaupt postulieren konnte. Wer zu viel aufschreibt, erreicht aber nichts.
Nachdem Sie meinten, sich über das Datum unseres Antrages aufzuregen, will ich dazu nur eine kleine Anmerkung machen: Schauen Sie einmal auf den Antrag von Rot-Grün; der wurde eine Woche später geschrieben. Daran wird eines deutlich:
Wir diskutieren in Europa über die Frage einer Neuausrichtung der Lissabon-Strategie. Wir beklagen uns im Deutschen Bundestag über die mangelnde Mitsprache bei europäischen Entscheidungen. Es wird keiner hier bestreiten, dass wir darüber eine tiefgehende Diskussion haben und haben müssen, wenn das überhaupt in Zukunft funktionieren soll.
Wenn unser Antrag am 8. März nicht eingereicht worden wäre, gäbe es den vom 16. März von Rot-Grün überhaupt nicht. Das heißt, ohne unseren Antrag würde sich der Deutsche Bundestag mit der Frage, was die europäische Neuausrichtung der Lissabon-Strategie für unser Land bedeutet, überhaupt nicht beschäftigen.
Das ist das entscheidende Moment: dass wir unseren Anspruch, uns in die europäische Politik einzumischen, auch wirklich ernst nehmen.
Ich will jetzt gar nicht darüber streiten, in welchem Maße die Bundesregierung das, was jetzt neu auf dem Tisch liegt, mitgestaltet hat. Ich will nur einmal anhand der im Eckpunktepapier für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2005 fett markierten Ziele, die ausgerichtet sind auf die Lissabon-Strategie – das haben Sie alles mit verabschiedet –, deutlich machen, wo Sie im Verhältnis zu dem stehen, was Sie in Europa mitentschieden haben. Da heißt es:
Die Steigerung von Wachstum und Beschäftigung muss im Zentrum der Grundzüge der Wirtschaftspolitik 2005 stehen.
So weit ist das vielleicht noch in Ordnung. Dann steht hier: „solide makroökonomische Politik“. Da fängt das Problem in diesem Lande schon an.
Ich möchte Ihnen noch drei Punkte vorlesen. Dann können Sie die Situation in Deutschland an dem messen, was Europa von uns fordert.
Erstens:
Die Mitgliedstaaten sollten über den Konjunkturzyklus hinweg einen nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt erreichen ...
Meine Damen und Herren, davon sind Sie nach der Diskussion über den Haushalt Megawelten entfernt.
Das Zweite:
... die Solidität der öffentlichen Finanzen auf lange Sicht zu stärken.
Fehlanzeige in diesem Lande!
Das Dritte:
Die Mitgliedstaaten sollten sich verstärkt für den produktiven Einsatz der öffentlichen Mittel einsetzen und dafür sorgen, dass diese zunehmend in wachstumsfördernde Maßnahmen im Sinne der Schwerpunktziele von Lissabon fließen.
Wenn ich mir die Investitionskraft des Bundeshaushaltes einmal anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass Sie auch hier nicht auf einem positiven, sondern auf einem negativen Wege sind.
Insofern können wir doch nur festhalten: Sie sind weit von den Zielen der Neuausrichtung der Lissabon-Strategie, die Sie selber in Europa mit verabschiedet haben, entfernt. Darum geht es in dieser Debatte, nicht nur um einzelne Forderungen.
Herr Kollege Steenblock, Sie haben sich bemüßigt gefühlt – in diesen Tagen wird ja sichtbar, dass nur noch über die nächste Regierung diskutiert wird, nicht mehr über das Versagen der jetzigen Regierung –, vom Ansatz her den Versuch zu machen, die europäische Debatte auch in diesem Haus zu führen. Dann sind Sie aber genau wie wir in der Innenpolitik gelandet. Das will ich auch gar nicht negativ bewerten, das gehört dazu; denn aus beidem wird das Ganze. Ich kann aber nur sagen: Sie sind es doch gewesen, die 2002 drei Monate vor der Bundestagswahl mit Herrn Hartz die Verringerung der Arbeitslosigkeit auf die Hälfte versprochen haben. Sie sind heute bei mehr und nicht bei der Hälfte. Von der Hälfte sind Sie meilenweit entfernt.
Lassen Sie mich aus dem Forschungsbereich nur einen Punkt herausgreifen. Nach sieben Jahren haben wir zum ersten Mal ein Energieforschungsprogramm. Die Energieforschung ist die strategische Variante der Energiepolitik. In dieser Frage der strategischen Variante haben Sie eklatant versagt.
Zu der Rede des Herrn Kollegen Gloser sage ich nur: Er hat ganz gut damit angefangen, dass wir über die EU als Ganzes reden müssen, ist dann aber auch auf die nationale Ebene geschwenkt. Das finde ich bedauerlich. Der Lissabon-Antrag der Union koppelt sich mit dem Antrag der CDU/CSU zum Pakt für Deutschland. Sie müssen beides zusammen lesen, dann kommen Sie auf die richtigen Antworten.
Ich denke, dass wir über die Frage der nationalen Verantwortung im Sinne auch der innenpolitischen Gestaltung mehr diskutieren müssen. Ich will allerdings auch eine Bemerkung zur Frage der Glaubwürdigkeit der EU machen. Das, was passiert ist – ich bin mit den Formulierungen von Herrn Steenblock durchaus einverstanden –, ist nicht zuletzt auch auf mangelnden Erfolg in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik zurückzuführen.
Wenn Europa und damit wir alle – nicht nur eine sozusagen anonyme Kommission – an dieser Stelle versagt haben, dann müssen wir uns zur Überwindung der jetzigen Krise unter anderem – das ist nicht das Einzige – auch damit auseinander setzen, wie wir in der Wachstums- und Beschäftigungspolitik neue Kräfte mobilisieren, damit die Menschen in diesem Europa, die Frieden und Freiheit als etwas Großes und Selbstverständliches mit auf den Weg bekommen haben, auch erfahren, dass dieses Europa Perspektiven in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik bietet.
Deswegen glaube ich, dass wir über die Frage reden müssen, ob Europa nicht zu sehr nach innen diskutiert. Ich will an dieser Stelle bewusst nicht nach innen, nicht über die Frage der nationalen Verantwortung diskutieren, sondern auf etwas anderes hinweisen, was in der Europäischen Union Gegenstand der Erörterungen ist. Ich rate uns dringend, uns mit dieser Frage zu beschäftigen; es hängt mit dem Kapitalmarkt und vielen anderen Dingen zusammen. Europa steht in einem massiven Wettbewerb mit den anderen Kontinenten. Wenn wir – damit ist auch Deutschland gemeint – nicht die Herausforderung annehmen, uns auf den Wettbewerb mit den anderen Kontinenten einzustellen, dann werden wir beim Zugang zu Kapital, Menschen und Rohstoffen schlicht und einfach versagen, weil die anderen auf uns keine Rücksicht nehmen werden. Wir werden uns dieser Herausforderung stellen müssen.
Auch vor dem Hintergrund einer Veröffentlichung von Herrn Tremonti in der „FAZ“ vom 1. Juni stelle ich deswegen fest: Die Selbstverständlichkeit des Wohlstandes ist vorbei. Wohlstand ist nicht mehr so selbstverständlich wie vor 1990. Es gibt neue Herausforderungen.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Herr Kollege, Sie sagen gerade gute und wichtige Dinge; aber Sie müssen doch zum Schluss kommen.
Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU):
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Ich glaube, dass wir im Zusammenhang mit dem Thema Bürokratie eines aufnehmen sollten – ich zitiere hier noch einmal Herrn Tremonti, weil mir das, was er geschrieben hat, ausgesprochen gut gefallen hat –:
Europa muss auf das Modell einer perfekten Gesellschaft und eines perfekten Marktes verzichten.
Das wäre der erste Schritt, um weniger Bürokratie und mehr Wachstumskräfte zu erreichen.
Herzlichen Dank.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Werner Bertl.
Hans-Werner Bertl (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir heute über einen Antrag der CDU/CSU sprechen, der die Bundesregierung auffordert, sich mit den Ende März im Europäischen Rat und auch im Kok-1-Bericht aufgezeigten Problemen des Lissabon-Prozesses zu beschäftigen. Aber viel entscheidender finde ich, dass wir daran heute festmachen können, dass genau dieser Weg durch die Bundesregierung beschritten wurde und wir entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Konzentration des Lissabon-Prozesses überhaupt vorankommt.
Ich glaube, die Menschen wissen kaum, was mit diesem Lissabon-Prozess gemeint ist. Es ist ein sehr ehrgeiziges Programm, welches im März 2000 aufgelegt wurde, um Europa zum – was sagen diese Begriffe? – wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu entwickeln. Es geht um Beschäftigung, Wirtschaftsreformen und – dieses Wort habe ich jetzt hier noch nicht gehört, aber davon haben wir damals im Lissabon-Prozess gesprochen – den sozialen Zusammenhalt Europas. Gerade das, was wir in den letzten Tagen in Frankreich und den Niederlanden erlebt haben, zeigt vielleicht auch, wie wichtig für die Menschen in Europa die Frage des sozialen Zusammenhaltes ist,
wie wichtig es ist, Europa nicht als etwas Angstbesetztes zu erleben. Europa ängstigt sie möglicherweise, was die globalisierten Wettbewerbssysteme angeht; es ängstigt sie aber sicherlich, was ihre eigene Zukunft und die Zukunftsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme betrifft. Ich glaube, die Herausforderung für uns liegt darin, den Weg des Lissabon-Prozesses entsprechend zu gestalten.
Insgesamt lässt sich an diesen ehrgeizigen Zielen und meiner Meinung nach auch an der Kritik, die notwendig ist, festmachen, was die Bundesregierung getan hat. Für mich ist auch entscheidend, mit welchen Instrumenten wir die Ziele von Lissabon auf nationaler Ebene verfolgen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, auch in der Bewertung Ihres Antrages, wie sich die Opposition dabei verhalten oder enthalten hat. In weiten Bereichen haben Sie verhindert, dass die Ziele, insbesondere im Bereich Bildung und Forschung, erreicht werden konnten. Von meinem Kollegen sind schon die schwierigen Prozesse, sei es im Bundesrat oder im Vermittlungsverfahren, angesprochen worden, die stattgefunden haben, um finanzielle Ressourcen genau für diesen Weg, der meines Erachtens im Lissabon-Prozess richtig beschrieben ist, zu erschließen.
Man muss deutlich machen, dass zwar im Bereich der Arbeitsmarktpolitik ein Teil des Prozesses im Zusammenhang mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV von der Opposition mitgestaltet wurde. Auf der anderen Seite haben Sie sich aber immer wieder ganz schnell in die Büsche geschlagen. Der Erfolg zeigt dennoch, dass der Weg zur Verwirklichung der Lissabon-Ziele richtig ist.
Unser Ziel ist ein Europa, das für die Bürgerinnen und Bürger ein Raum der Freiheit und der sozialen Sicherheit sowie ein Raum von Wachstum und Beschäftigung ist. Ich glaube, der Aspekt Freiheit und soziale Sicherheit muss genauso beachtet werden wie der Aspekt Wirtschaft und Beschäftigung. Beide Aspekte sind wichtig. Wir müssen den Menschen in den 25 Staaten der EU die von ihnen gewünschte Sicherheit geben. Sie werden Europa nämlich nur dann akzeptieren, wenn dieser Prozess in der EU nicht von Ängsten um Arbeitsplätze, um die Sicherung sozialer Standards und um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme geprägt wird. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Diskussionen über die Dienstleistungsrichtlinie und über die Wettbewerbsfähigkeit, die wir sicherlich führen müssen. Gerade angesichts der aktuellen Entwicklung können wir erkennen, dass es notwendiger denn je ist, das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit zu beachten.
Im Bericht von Wim Kok – ich muss das einmal deutlich sagen – sind wir für den gesamten Prozess der Agenda 2010 und dafür, wie wir versucht haben, den Weg der Arbeitsmarktreformen erfolgreich zu gestalten, ausdrücklich gelobt worden. Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass dieser Weg für die Bundesrepublik richtig ist. Wir brauchen ein nachhaltiges Wachstum, wir müssen Forschung und Entwicklung fördern sowie die Beschäftigungsrate steigern.
Die Bundesregierung und die Regierungskoalition haben enorme Vorleistungen in diesem Bereich erbracht.
Wir haben Bürokratie abgebaut und wir haben mit der Agenda 2010 ein Umsteuern bis in den Bereich der sozialen Sicherungssysteme hinein vorgenommen. Wir müssen leider feststellen, dass weite Teile der Wirtschaft nur wenig Bemühen gezeigt haben, diesen Weg konstruktiv und fördernd mitzugehen. Ich finde es hochinteressant, dass man in dieser Woche erstmals in Deutschland in führenden Wirtschaftszeitungen lesen konnte, dass plötzlich auch Chefvolkswirte und Vorstände renommierter Banken den Zeigefinger heben und die fahrlässige Vernichtung von Kapital kritisieren. Sie fordern, dass Unternehmen und Management Verantwortung übernehmen. Das ist übrigens eine Position, die aus diesem Bereich der Wirtschaft jahrelang im Rausch der New Economy nie gehört werden konnte. Ich finde es, wie gesagt, hochinteressant, dass diese Punkte jetzt plötzlich zur Sprache kommen. Das zeigt, dass unser Weg, den wir durch enorme Vorleistungen in der Sozialpolitik, in der Steuerpolitik und in der Arbeitsmarktpolitik gestaltet haben, von den Verantwortlichen der Wirtschaft langsam als richtig erkannt wird und von ihnen vielleicht auch mitgegangen wird. Ihnen ist deutlich geworden, dass sie damit große Spielräume erlangen, die Lissabon-Ziele zu erreichen.
Ich habe schon gesagt, dass auch Forschung und Entwicklung wichtige Ziele sind. Dazu gehört der nationale Aktionsplan. Wir sind der Meinung, dass Arbeit für junge Menschen und für ältere Menschen ein ganz entscheidender Punkt ist. Wir haben mit der Novellierung des Berufsbildungsgesetzes eine Vorleistung im Bereich der Bildung und Ausbildung junger Menschen erbracht, die uns die große Möglichkeit bietet, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit bei uns erfolgreich zu bekämpfen. Im Rahmen der SGB-II-Reformen wurden fast 7 Milliarden Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung gestellt. Auch das muss man unter der Überschrift „Vorleistungen“ zur Kenntnis nehmen.
Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Frage der Ausbildung junger Menschen ernst nehmen. Wir wollen allen Menschen unter 25 Jahren konkrete Angebote machen. All das gehört zur Lissabon-Strategie. Ich will an dieser Stelle noch einmal deutlich machen: Die Lissabon-Strategie ist eingebettet in den europäischen Gesamtkontext. Die damit verbundene Aufgabe ist, soziale Gegensätze in Europa zu verringern. Das bedeutet, dass es Investitionen in die Bildung der jungen Generation und in das lebenslange Lernen für alle als bestes Mittel gegen Ausgrenzung geben muss. Wenn wir den Lissabon-Prozess so verstehen und ihn entsprechend gestalten, werden wir erfolgreich sein.
Zu Ihrem Antrag, den wir heute auf Empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit ablehnen werden, sage ich Ihnen: Wenn Sie sich in den letzten Monaten und Jahren im Kontext Ihres eigenen Antrages bewegt hätten, dann wären wir in Deutschland ein Stück weiter. Wir hätten mit Ihrer Hilfe deutlich größere finanzielle Ressourcen freisetzen können. Sie hatten nämlich die Möglichkeit, uns im Bundesrat zu unterstützen. Mit Ihrer Hilfe wären wir in weiten Bereichen bezüglich der Frage, wie der zukünftige Prozess gesteuert werden soll, ein Stück weiter.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer:
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/5614 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Wachstum in Deutschland und Europa stärken – Neue Strategie für Lissabon-Ziele entwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? –
– Herr Ramsauer, Sie wissen: Wenn man die Macht hat, muss man bei so etwas sehr aufpassen.
Also noch einmal: Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5025 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist in einer zweiten Abstimmung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen worden.
Herr Ramsauer, ich hatte richtig gefragt. Sie haben das erste Mal falsch abgestimmt. So war es.
– Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort, aber in diesem Fall nicht.
[Der folgende Berichtsteil – und damit der gesamte Stenografische Bericht der 179. Sitzung – wird am
Montag, den 6. Juni 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]