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27.09.2000
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Rede von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, anlässlich der Verabschiedung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Joachim Gauck am 11. Oktober 2000

Es gilt das gesprochene Wort:

"Als Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte für die unselige Stasi-Hinterlassenschaft, wenige Monate nach Amtsantritt in einem Fernseh-Interview gebeten wurde, die Richtung, das Ziel seiner Arbeit zu skizzieren, sprach er nicht (oder doch nicht zuerst) - wie man damals erwarten durfte - über die unüberschaubaren Aktenberge, die zu erschließen seien, über die bevorstehende Überprüfung der öffentlich Beschäftigten oder über anderes Naheliegende. Nein, Gauck entwarf eine Vision."

"Das Ziel besteht darin, dass Menschen, die lange unterdrückt waren, in Erinnerungs- und Begegnungs- und Aufarbeitungsprozessen die Befreiung, von der sie früher geträumt haben und die sie auf der Strasse erstritten haben, weiter fortführen können. Menschen, die bislang unterdrückt und bevormundet waren, sollen altes Herrschaftswissen in Besitz nehmen, sollen Subjekte werden des Gestaltens und sollen dadurch mehr zu sich selber finden. Sie sollen freier werden für die Aufgaben von morgen."

Heute nun, aus Anlass der feierlichen Amtsübergabe an Marianne Birthler, darf und muss gefragt werden, ob denn Joachim Gauck - der Sohn eines Seemanns, der evangelische Theologe, der Mitbegründer des Neuen Forums, der Kollege Abgeordnete a.D., der unbequeme Mahner und Moralist - sein damals bezeichnetes Ziel erreicht hat. Ein Ziel immerhin, das über die - im üblichen Verwaltungs-ABC recht dröge formulierte - Funktionsbeschreibung für das Amt des Bundesbeauftragten programmatisch hinaus weist, sie um eine philosophische Idee, eine ethische Kategorie erweitert - nämlich um den Gedanken der Beförderung des Subjektseins, der Beförderung des freien, selbstverantworteten, demokratischen Handelns.

Gauck hatte die Vision, mit seiner Arbeit, mit seiner Behörde die revolutionäre Befreiungstat von 89/90 fortzuführen, sie zu "verstetigen", fruchtbar zu machen. Denn aus seiner Perspektive waren 89/90 nur die ersten Schritte gegangen worden, wichtige zwar, aber keine hinreichenden, keine wirklich befreienden Schritte. Die eigentliche, die reflexive, die nach innen gerichtete Befreiungstat stand noch aus: nämlich eine permanente Aufklärung über die innere Funktionsweise der Diktatur, die Verständigung über die eigene Verantwortung beim Erhalt repressiver Strukturen, aber und vor allem auch die gemeinsame Erinnerung an all die Ungerechtigkeiten, die Menschen zugefügt wurden im Namen des Sozialismus, die Erinnerung an Vertrauensmissbrauch und Verrat, an berufliche Diskriminierung, an verbogene Lebenswege. Früheres Herrschaftswissen sollte endlich einmal den Opfern einer Diktatur zur Verfügung gestellt werden. Ihre Interessen sollten endlich einmal mehr Gewicht bekommen als das Wohl der Täter. Und zwar nicht nur symbolisch, an Feiertagen und in Gedenkreden, sondern in einer praktischen, lebensweltlich konkreten Form.

Gestatten Sie mir einen kurzen, nur schemenhaften Rückblick auf einige Voraussetzungen der Gauckschen Arbeit. Da wäre zunächst das Stasi-Unterlagengesetz, das - wie wir heute wissen - ein wichtiges Instrument zur friedlichen Gestaltung der Einheit, zur Demokratisierung in Ostdeutschland darstellt. Dass wir dieses Gesetz haben, ist keine Selbstverständlichkeit, weiß Gott nicht. Ich erinnere mich deutlich an die heftigen Debatten zum Umgang mit dem Aktenerbe und zur Einführung dieses Gesetzes - in der Volkskammer, in den Parteien, in den Kirchen, in den Medien:

Die einen warnten - mit durchaus ernst zu nehmenden Argumenten - vor möglichen Racheakten und vor der Erpressbarkeit bestimmter Personengruppen. Sie befürchteten eine Vergiftung des kulturellen Klimas im jungen wiedervereinigten Deutschland und empfahlen uns, mit den Akten der Staatssicherheit die Freudenfeuer zur Einheitsfeier anzuheizen und um diese herum fröhlich zu tanzen.

Andere wiederum brachten rechtsstaatliche Bedenken vor, sahen - mit handfesten Argumenten - das Gebot des Datenschutzes, das ja ein hohes rechtsstaatliches Gut darstellt, gefährdet. Und in der Tat: einen den Opfern der Diktatur gerecht werdenden Umgang mit den Dokumenten staatlicher Repression hatte in Deutschland nach 1945 kaum jemand wirklich eingeübt. In dieser Frage siegte ja zumeist die sogenannte Staatsraison über anders gelagerte Interessen - bis heute übrigens, denken Sie nur an die Entschädigungsdebatte! Die staatsrechtlich argumentierenden Kritiker empfahlen, die Akten auf Halde zu legen, sie in das Koblenzer Bundesarchiv zu "verfügen", vor ihrer Öffnung - wie gehabt - einige Jahrzehnte Ruhe zu bewahren, bis sich dann eine neue Historikergeneration ihrer annehmen würde. Bloß keine Aufregung, bloß keinen Streit. Wer weiß denn, was dem Gemeinwesen bei zuviel Transparenz blühte, wer weiß denn, ob nicht gar die Staatsordnung gefährdet wäre, vertiefte man sich all zu sehr in das geheime Erbe der unheimlichen Macht.

Und wieder andere - dazu gehörten vor allem die Aktivisten der Bürgerbewegung, und dazu gehörte, in wichtiger politischer Mission, der Vorsitzende des Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS, Joachim Gauck, - brachten Argumente aus Opfer-Perspektive in die Debatte ein: Sie plädierten leidenschaftlich für eine Öffnung der personenbezogenen Akten und deren Nutzung. Sie forderten eine Rehabilitierung der von Stasi-Willkür Betroffenen, sie wiesen hin auf die Notwendigkeit einer schonungslosen historisch-politischen Aufarbeitung - gegen alle Formen der damals gerade neu aufkeimenden Geschichtsklitterung. Und sie überzeugten mit dem Argument, dass die Akten dringend benötigt würden für die Überprüfung von Personen - von Personen, die im öffentlichen Dienst tätig sein wollen, von Personen, die politische Ämter übernehmen wollen, und von Personen, die - ob zu Recht oder Unrecht - des Verrats bezichtigt würden. Die Akten könnten also nicht nur helfen, Schuld nachzuweisen, sondern sie könnten auch Schutzfunktionen übernehmen. Sie könnten belegen, wie Menschen den Nachstellungen der Staatssicherheit widerstanden haben, und sie könnten den anstehenden Rehabilitierungsprozessen das erforderliche politisch-moralische und faktische Unterfutter liefern.

Joachim Gauck hat in der letzten Volkskammer in bewunderungswürdig unnachgiebiger und rhetorisch glänzender Weise für die Annahme des Stasi-Unterlagengesetzes geworben und am Ende fraktionsübergreifend, also auch von PDS-Seite, Zustimmung erfahren. Dass das Gesetz dann zu den ostdeutschen Konditionen und quasi im allerletzten Moment doch noch Bestandteil des Einigungsvertrages wurde - man kann es gar nicht oft genug würdigen - ist ein bleibendes historisches Verdienst der Bürgerrechtler, die sich dafür in den Hungerstreik begaben. Und es ist ein Verdienst von Jochen Gauck persönlich. Viele der frühen Kritiker dieses Gesetzes sind sich heute darin einig, dass es in seiner Abwägung von Opferinteressen, Staatsinteressen und Datenschutzgeboten einen wirklichen rechtsstaatlichen Fortschritt markiert.

Wir Ostdeutschen wussten, dass wir ein schlimmes Erbe mitbringen in die deutsche Einheit, aber wir haben eine Form des Umgangs damit gefunden, für die wir uns nicht zu schämen brauchen.

Unter der Führung ihres Namengebers hat sich die Gauck-Behörde im vergangenen Jahrzehnt zu einer national wie international geschätzten Institution der Geschichtsforschung bei gleichzeitiger Wahrung des Prinzips der Bürgernähe entwickelt. Die 14 Außenstellen sind dabei oft die ersten Ansprechpartner in den Regionen für alle Fragen, die mit der Struktur und Arbeitsweise des Staatssicherheitsdienstes und mit der Aufarbeitung von DDR-Geschichte zusammenhängen. Hier werden Akteneinsichten durchgeführt, Ersuchen öffentlicher und nichtöffentlicher Stellen beantwortet und politische Bildungsarbeit geleistet.

Es gibt heute ein massenhaftes Informations- und Gesprächsbedürfnis über den Alltag in der Diktatur: Nimmt man nur die Statistik zur Hand, dann lesen sich die Zahlen wie eine Erfolgsstory, man kann auch sagen, wie ein Vertrauensbeweis - ein Vertrauensbeweis an die Adresse der Behörde: Bis August 2000 sind 4,63 Millionen Anträge auf Akteneinsicht eingegangen, jeden Monat kommen ca. 10.000 neue Anträge hinzu. 1,57 Millionen Anträge von Privatpersonen wurden bislang bearbeitet, 2,7 Millionen Ersuchen öffentlicher und nichtöffentlicher Stellen auf Überprüfung erledigt.

Vergleichen wir den heutigen Stand der moralischen, juristischen, menschlichen Aufarbeitung der Stasi- und SED-Vergangenheit mit dem Stand von, sagen wir Ende 1991, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Stasi-Unterlagengesetzes, dann wird wohl niemand ernsthaft bestreiten, dass wir mit der Aufarbeitung unserer Geschichte ein gutes Stück vorangekommen sind. Die Gauck-Behörde hat daran einen bedeutenden Anteil, wenngleich natürlich die Akten nicht das ganze Leben erzählen, sondern immer im jeweiligen Kontext gelesen werden müssen. Joachim Gauck selbst gilt heute vielen Menschen als Integrationsfigur, als jemand, der gegen das Verdrängen von SED-Unrecht predigt, der zugleich aber auch leidenschaftlich auf die Anerkennung der Leistungen seiner ostdeutschen Landsleute pocht, die durch die friedliche Revolution 1989 der "Nation neue Würde gewonnen" haben. In seinen zahlreichen öffentlichen Auftritten warnte er zugleich vor zu viel westdeutscher Selbstgerechtigkeit: Viele Westdeutsche, so Gauck, hatten einfach nur das Glück, im "richtigen" System gelebt zu haben und nicht in polizeistaatliche Entscheidungssituationen gedrängt worden zu sein.

Wohl wahr: Gauck hat weniger gespalten als vereint, auch wenn im Zuge der Berichterstattung über neue alte IM's mitunter ein anderer Eindruck entstanden sein mag. Gauck kann auf eine ansehnliche Schar von Gegnern verweisen, und zwar in allen politischen Parteien, in allen gesellschaftlichen Lagern. Auch in diesem, seinem "überparteilichen Engagement" wirkte Gauck eher integrierend denn trennend. Er warnte immer wieder vor dem "milden Blick auf die Diktatur" und bezeichnete seine Behörde in der ihm eigentümlichen bildhaften Sprache treffend als "Apotheke gegen Nostalgie".

Seit dem 3. Oktober sind - so sieht es die Rechtssprechung vor - die mittelschweren Straftaten aus DDR-Zeiten verjährt. Sehen wir es positiv: Dieser Verjährungspassus ist kein Argument für, sondern allenfalls ein Argument gegen das Ziehen eines Schlussstrichs, ein Argument gegen die Schließung der Archive. Die Akten können künftig, davon bin ich überzeugt, noch deutlicher als bisher der kulturellen Selbstverständigung über die Diktatur, der herrschaftsfreien, weil verfolgungs- und angstfreien Aufklärung dienen. Jedenfalls besteht diese Chance. Die Chance, dass wir häufiger auch außerinstitutionelle öffentliche Formen finden, in denen wir uns die bitteren Wahrheiten zumuten, über sie offen diskutieren, Motive, Zwangslagen, Illusionen zur Sprache bringen. Und zwar Opfer und Täter gemeinsam. Nicht selten - das wissen wir - verlief ja die Trennlinie zwischen beiden quer durch eine Biographie hindurch. Es gab nur ganz wenige große Täter und nur ganz wenige Heilige. Mir kommt es auf die Differenzierung zwischen den beiden Extremen an, ohne letztlich die Unterscheidung zu verwischen.

Gleichwohl, das wiederhole ich mit der nötigen Entschiedenheit, sollten wir uns davor hüten, die DDR-Vergangenheit auf Stasi-Geschichte zu verkürzen. Da war mehr, und vor allem: da war auch anderes. Suchen wir also weiterhin die Wahrheit im Diskurs!

Joachim Gauck hat sich zu keinem Zeitpunkt hinter den Aktenbergen versteckt, sondern war stets präsent in der öffentlichen Diskussion. In keinem der unzähligen Artikel, die in den vergangenen Wochen über ihn publiziert wurden, fehlt ein Hinweis auf seine mediale Wahrnehmung - als "moralische Autorität", als "moralische Instanz", als "Savonarola des Rechtsstaats", als "hartnäckiger Realo", als "Sankt Joachim". Das mag ihm geschmeichelt haben, übermütig werden ließen ihn derartige Zuschreibungen nicht. Allenfalls spendeten sie Zuspruch, kompensierten Feindseligkeit. Denn es gab und gibt ja auch die Kritiker, die ihn - den Überbringer der "schlechten Nachricht", ihren Interpreten - schmähten, verwünschten, ihn zum Gegner aller Integrationsbemühungen stempelten. Wenn es vielleicht auch schwer fiel: Gauck konnte damit umgehen. Er sah sich als Anwalt der Opfer, er sprach ja in ihrem Namen.

Dass ausgerechnet dieser Mann der erste "Verwalter" des Stasi-Erbes wurde, dass er die Behörde aufgebaut und die Maßstäbe für dieses gleichermaßen notwendige wie komplizierte Amt geformt hat, ist ein Glücksfall. Seine Nachfolgerin, Marianne Birthler, übernimmt eine Behörde, deren Ansehen in der Öffentlichkeit ständig gewachsen ist, eine Behörde, die den Prozess der staatlichen Einigung in einem schwierigen und komplexen Teilbereich gefördert hat, eine Behörde, die mit den klassischen Mitteln der Aufklärung den nach innen gerichteten Befreiungswillen der 89er Revolution kenntlich am Leben erhält.

Der Name Gauck - davon bin ich überzeugt - bleibt der Behörde erhalten, und zwar auf lange Sicht. Aber eben nicht als Aktenzeichen, wie manch ein Gegner von Gauck es gerne hätte, sondern als Markenzeichen für eine besondere Form des Umgangs mit historischer Verantwortung, als Qualitätssymbol, als Verpflichtung.

Ihnen, lieber Herr Gauck, wünsche ich eine gesunde, glückliche Zukunft. Und Ihnen, liebe Frau Birthler, wünsche ich einen guten, erfolgreichen Start in Ihrem verantwortungsvollen Amt. Ich bin sicher, dass Sie nicht nur die in der letzten Zeit viel beschworenen "großen Schuhe" Ihres Vorgängers auszufüllen vermögen, sondern dass Sie auch neue Akzente setzen werden - etwa im Bereich der politischen Bildung oder in der Außendarstellung der Behörde."

Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2000/pz_001011a
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