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Stand: 29.06.2001
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Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse, beim "Leibniztag" der "Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften" am 29. Juni 2001 in Berlin

Redemitschnitt

Berlin, 29.06.2001

Thema: "Unordentliche Gedanken zur gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft"

Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

Professor Simon hat mich auf angenehme Weise entlastet. Ich brauche und soll keinen wissenschaftlichen Vortrag halten. Er hat dann aber allerdings ein paar Girlanden geflochten, die mich wieder unter Druck setzen. Vor diesem Auftritt haben wir miteinander gesprochen. Professor Simon sagte da schon, ich solle auf keinen Fall über Wissenschaft sprechen, sondern quer durch die Politik eine ‚Tour d Horizon' vornehmen. Ich will das auch versuchen und beginne mit einer Beobachtung. In den letzten Wochen - ich bin ja Betroffener - las ich besonders viel über den Bedeutungsverlust des Parlaments. Viele Beobachtungen scheinen diesen Eindruck zu bestätigen. Nun bin ich der Meinung, dass das nichts ganz Neues ist. Es gibt krisenhafte Situationen der Politik, des Politischen, die viel tiefer gehen, als das, was am Parlament kritisch beobachtet wird. Ich nenne das die Wahrnehmung einer sich verschärfenden Diskrepanz zwischen dem Tempo und der Reichweite ökonomischer Prozesse und Entscheidungen einerseits und dem Tempo und der Reichweite politischer Institutionen und Entscheidungen und Prozesse andererseits.

Um das - ich soll ja nicht wissenschaftlich reden - wenigstens mit einem Schlaglicht zu belegen, erinnere ich an einen Vorgang, an dem wir alle als Zuschauer teilgenommen haben, nämlich die Schlacht vor eineinhalb Jahren etwa, um die Fusion von Vodafone und Mannesmann. Auf der Vorderbühne gab es die Anzeigenschlacht, die selber sehr teuer war und viele Millionen kostete. An der konnten wir Anteil nehmen. Und auf der Hinterbühne, unseren Blicken verborgen, fand die eigentliche Titanenschlacht statt zwischen dem Management dieser beiden großen Konzerne. Und wenn ich es richtig in Erinnerung habe, war diese Schlacht innerhalb von Wochen, von wenigen Monaten geschlagen, die Entscheidung getroffen. Es ging um das Schicksal von mehreren Zehntausend Menschen und um viele Milliarden Bilanzsumme. So schnell könnten ökonomische Prozesse und vor allem Entscheidungen ablaufen. Damit verglichen, agiert demokratische Politik sehr mühselig. Seit Jahren haben wir uns befasst mit den großen Themen Steuerreform, Gesundheitsreform, Rentenreform usw. usf. In quälend langen Prozessen kommt Demokratie nur mühselig voran mit ihren Entscheidungen.

Diese Wahrnehmung einer sich verschärfenden Diskrepanz zwischen den unterschiedlichen Tempi des Ökonomischen, des Politischen, erzeugt eine zunehmende Ungeduld gegenüber der Politik. Es kommt hinzu, dass mit dem, was wir schlagwortartig Globalisierung nennen, ja auch die Wahrnehmung einer in den letzten Jahren dramatisch zugenommenen Dominanz des Ökonomischen verbunden ist. Wenn ich noch daran erinnern darf, ohne es ausführlich zu erläutern, das wir ja in einer Zeit eines geradezu heftig beschleunigten technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts leben, dann wird immer deutlicher, dass der Politik ihre Langsamkeit und ihre nationale Begrenztheit zum Nachteil gerät, jedenfalls in der Wahrnehmung der Bürger.

Das ist es, was ich das Krisenproblem des Politischen nenne. Denn der nach wie vor überwiegend national ausgerichteten Politik fehlt es bislang in vielen Bereichen noch an erfolgreichen, bewährten, internationalen Instrumenten, um die Chancen der Globalisierung zu nutzen, ihren Gefahren wirksam entgegentreten zu können. Das ist aber dringend notwendig. Gerade in jenen Fällen, in denen die rücksichtslose Verfolgung von Eigeninteressen aus dem Fehlen internationaler Regelungen Kapital schlägt. Es ist ja eine hübsche Pointe, dass ausgerechnet der Börsenspekulant Georg Soros in einem Buch genüsslich berichtet, wie er zusammen mit wenigen anderen die Asienkrise auslöste. Es spielt keine Rolle, ob er dabei übertreibt. Diese Krise brachte verschiedene Volkswirtschaften an den Rand des Zusammenbruchs. Sie ließ eine Vielzahl kleinerer und mittlerer Betriebe bankrott gehen, zahllose Handwerker ihre Arbeitsplätze, Bauern ihre meist geringen Ersparnisse verlieren. Wenige rücksichtslose Spekulanten erzielten dagegen immense Gewinne. Sores empfiehlt in seinem Buch indirekt selbst, die Politik solle seinesgleichen das Handwerk legen, weil sonst eines Tages die Weltwirtschaft in Trümmern liegen könnte. Eine dramatische Aufforderung. Dieser Rat ist auch, wenn er fast zynisch erscheinen mag, ernst zu nehmen: Um den problematischen Folgen der Globalisierung wirksam entgegentreten zu können, sind internationale Regelungen notwendig. Und es gehört mit zu den Pointen, die mich als Politiker immer erfreuen, wenn einer der großen Apostel der Deregulierung, Herr Henkel - ich habe das gerade gelesen - nach mehr internationalen Regeln verlangt. Was doch heißt, nicht Deregulierung ist die einfache Parole, sondern Reregulierung, vernünftige Regeln, weil alte offensichtlich nicht mehr ausreichend funktionieren.

Das Ziel einer - um ein großes Wort von früher zu verwenden - ‚Weltinnenpolitik' mag zwar auch heute noch idealistisch-utopisch klingen, aber, wird man bescheiden fragen können, wer hat vor fünfzig Jahren geglaubt, dass aus Montanunion und Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft einmal die Europäische Union mit einer gemeinsamen Währung und der Verpflichtung auf parlamentarische Demokratie und soziale Marktwirtschaft werden würde. Insofern kann die Europäische Union ein Modell für die Gestaltung regionaler und globaler Probleme werden. Die Entwicklung der Europäischen Union zu einem wirklichen politischen Gestaltungsraum - sie ist es ja bisher erst zu einem Teil - das könnte eine Antwort sein auf die vorhin beschriebene Diskrepanz. Es geht um die Entwicklung eines Gestaltungsraumes, der wieder in die Nähe der Handlungsspielräume des Ökonomischen käme.

Wegweisende Versuche, den Primat der Politik zurückzugewinnen, hat es im Übrigen auch über Europa hinaus im vergangenen Jahrzehnt genug gegeben: die Umweltkonferenz zur Nachhaltigkeit 1992 in Rio, den Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen oder die Pekinger Weltfrauenkonferenz im gleichen Jahr 1995 mitsamt ihren jeweiligen Nachfolgekonferenzen. Aber auch an die inzwischen regelmäßig stattfindenden G-7- und G-8-Gipfel und den Berliner Reformgipfel 2000 mit Regierungschefs und Staatspräsidenten aus vier Kontinenten sei hier erinnert. Diese Ansätze zu einer neuen Internationalisierung der Politik gilt es fortzuentwickeln, so mühselig das auch erscheint.

Es stellt sich allerdings immer wieder neu die Frage: was soll geschehen, solange der Aufbau international abgestimmter Politik noch im Gange ist, noch unvollendet ist? Das Beispiel der Umsetzung bzw. im Falle der USA Nichtumsetzung des Kyoto-Abkommens zum Schutze der Bio-Atmosphäre verdeutlicht, wie leicht notwendiges internationales Handeln durch egoistische nationalstaatliche Interessen blockiert werden kann. Und nur unverbesserliche Optimisten werden glauben, dass sich daran kurzfristig Grundlegendes ändern wird. Das ist übrigens ein interessantes Beispiel für die wirkliche Mühsal von Politik. Wie viel Jahre ist an der Vorbereitung des Kyoto-Gipfels gearbeitet worden. In wie unendlichen Sitzungen haben Wissenschaftler, Politiker, Fachleute zusammengewirkt, um dies zustande zu bringen. Und dann reicht es, dass ein Regierungswechsel im wichtigsten Land der Erde stattfindet, man Rücksicht nehmen muss auf bestimmte wirtschaftliche Interessen und alle Mühsal scheint vergebens. Das darf nicht sein. Ich hoffe jedenfalls, dass in Bonn in diesem Sommer nicht alles beerdigt wird, sondern dass man unbeirrt weiterfährt in dem, was man im Kyoto-Protokoll vereinbart hat.

Wie kann, meine Damen und Herren, das bestehende Handlungsvakuum gefüllt, die Notwendigkeit international abgestimmter Politik in den einzelnen Nationalstaaten und Regionen unseres Globus verstärkt bewusst gemacht werden? Ich glaube, dass hier die Wissenschaft eine Rolle spielen kann - schließlich ist die Wissenschaft neben der Wirtschaft längst zum ‚global player' geworden; viel mehr als die Politik. Ohne den Fortschritt im Bereich der Telekommunikation zum Beispiel gäbe es die weltwirtschaftlichen Verflechtungen im heutigen Ausmaß gar nicht. Wie für die Wirtschaft haben allerdings auch für die Wissenschaft die Globalisierungstendenzen gewiss Licht und Schatten. Den Möglichkeiten weltweiter Wissenschaftskommunikation und -kooperation stehen nämlich durchaus problematische Tendenzen gegenüber. Auch hier wird von manchen - seien es nun Institute, Konzerne oder einzelne Nationalstaaten - das bestehende rechtliche oder politische Vakuum für die Verfolgung durchaus fragwürdiger Interessen genutzt. Indem man z.B. Forschungsinstitute in andere Länder oder auf andere Kontinente verlagert, sind nationalstaatliche Regelungen leicht zu umgehen. Ethische Probleme werden so zu Standortfragen bzw. durch diese relativiert Weil in anderen Ländern etwas getan wird, mache es keinen Sinn, es bei uns nicht zu tun. Auch dies ist ein gängiges Argumentsmuster: was bei uns moralisch oder rechtlich nicht erlaubt ist, das machen wir eben woanders.

Wer so handelt oder solches Handeln in Kauf nimmt, muss auch an die Verantwortung für die Folgen denken. Wirtschaftsminister Müller hat dies in seiner lapidaren Art kürzlich so ausgedrückt (ich zitiere):

"Globalisierung vollzieht sich in Räumen, für die noch keine Strukturen der Kontrolle und Rechenschaft gefunden sind. (...) Deshalb müssen sich weltweit tätige Unternehmen der Forderung nach Rechenschaft über ihre Standards auch in anderen Teilen der Welt stellen."

Meine Damen und Herren, das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern ebenso für die Wissenschaft. In ihrem Fall tritt allerdings noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Die Entwicklungssprünge in verschiedenen Bereichen sind so atemberaubend, dass sie unser Menschenbild insgesamt verändern. Fachliche Indifferenz, aber auch kurzsichtige Berufung auf die angebliche Wertfreiheit der Forschung dürften in einer entgrenzten Welt endgültig fatale Folgen haben. Die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft ist durch die Globalisierung weiter gewachsen. Diese Verantwortlichkeit muss neu bestimmt werden - und dazu will ich Ihnen eine paar "unordentliche", also unwissenschaftliche Gedanken vortragen.

Bei der Frage nach der öffentlichen Verantwortung von Wissenschaft gehe ich nicht von der durch C. P. Snow eingeführten Aufteilung in die sog. "zwei Kulturen" Natur- und Geisteswissenschaften aus, die sich angeblich nicht mehr verständigen könnten. Diese künstliche Trennung ist - so hat es Wolfgang Frühwald formuliert - ein "gewollter Mythos". Vielmehr hängt auch in der Wissenschaft - wie sagt man immer - alles mit allem zusammen und nicht erst infolge der Globalisierung. Eine Aufteilung nach unterschiedlichen Erkenntnisformen und methodischen Verfahrensweisen ist zur wissenschaftlichen Differenzierung sicherlich sinnvoll. Sie hat jedoch den Blick dafür verstellt, dass es sich im Grunde um zwei - wenn man mit Wolf Lepenies die Sozialwissenschaften als dritte betrachtet - sogar um drei Ausprägungen einer Wissenschaftskultur handelt. Um diese Einheit der Wissenschaft gerade in ihrer gesellschaftlichen Verantwortung geht es. Immerhin hat die für viele bequeme Trennung in Grundlagen- und Anwendungsforschung, aber auch die Unterscheidung in ökonomisch nützliche und unnütze Disziplinen, eine wichtige Funktion der Wissenschaft mehr und mehr in den Hintergrund treten lassen - nämlich die Aufgabe, Probleme bewusst zu machen, Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und damit Gesellschaft und Politik auch Orientierung zu geben. Es mag sein, dass dies neben der puren Erkenntnisvermehrung theoretisch gar nicht gewollt ist. Aber die Wissenschaft wäre blind, würde sie diese Funktion, diese Erwartung ignorieren.

In den früheren Jahrhunderten waren erst die Theologen und später die Philosophen das, was man heute salopp Gurus nennt. In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts waren es dann die Soziologen und Politologen. Die Gurus der 90er Jahre und des neuen Jahrhunderts sind dagegen (bislang) die Börsenanalysten und die Unternehmensberater. Ich glaube allerdings nicht, dass die Dominanz ökonomischen, betriebswirtschaftlichen Denkens eine wirklich menschenwürdige Gesellschaft begründen kann. Wenn denn den Börsenspekulanten und Betriebswirten allein die Gestaltung der Gesellschaft überlassen würde, wenn in der entgrenzten Welt nur noch Gewinnmaximierung zählte, dann drohte ein Verlust an sozialem Zusammenhalt mit schwerwiegenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen. Ich hoffe, es gibt genügend Kraft, mit der wir uns gegen die Reduktion des Menschen auf seine beiden marktgemäße Rollen, nämlich Arbeitskraft und Konsument zu sein, wehren.

Die Entwicklung der globalisierten Welt jedenfalls darf nicht ausschließlich von Marktgesetzen bestimmt werden. Deshalb stehen gerade Forschung und Wissenschaft in der Verantwortung, die "commune bonum" (wie Leibniz es genannt hat) wieder verstärkt in den Blick zu nehmen und immer neu zu definieren - wenn wir uns darauf einigen können, dass unter dieser "commune bonum" die klassischen Werte der bürgerlichen Demokratie zu verstehen sind. Ganz konkret: Ich möchte, dass jede künftige Gesellschaft demokratisch ist, selbstverständlich, dass sie die Würde, die körperliche Unversehrtheit, das Leben jedes einzelnen Menschen schützt, dass sie größtmögliche und zugleich gleiche Freiheit gewährleistet, dass sie niemanden diskriminiert und dass es in ihr sozial einigermaßen gerecht zugeht. Für diesen Zustand unserer Gesellschaft, für die Funktionsfähigkeit unserer Demokratie sind nicht nur die Politiker verantwortlich, sondern natürlicherweise alle Bürger. Gerade Wissenschaftler müssen sich auch und wohl wieder stärker als ‚Citoyens' verstehen und sich gesellschaftlich engagieren. Dabei kommt allen Wissenschaftsbereichen Verantwortung zu - und sie können ihr nur gemeinsam gerecht werden.

Unter den neuen Bedingungen einer entgrenzten Welt werden, so denke ich, zwei allgemeine Handlungsmaximen von verantworteter ‚Wissenschaft als Beruf' immer wichtiger. Damit meine ich,

1. dass in der Wissenschaft über die fachinterne Forschungsarbeit hinaus eine intensivere Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen stattfindet, die unter interdisziplinären - oder richtiger - wie Jürgen Mittelstraß formuliert hat -: "transdisziplinären" Anknüpfungsperspektiven erfolgt - also nicht als unverbindlicher Meinungsaustausch zwischen den Fächern, sondern als fächerverbindende Zusammenarbeit,

und

2. eine verstärkte Beteiligung an den öffentlichen Debatten über gesellschaftlich relevante Probleme durch Vermittlung der Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit und das Einfordern politischen Handelns. Um ein altvertrautes Beispiel zu nehmen: Der Treibhauseffekt belegt, dass Wissenschaftler über Probleme meist früher und besser informiert sind als die notwendigerweise langsamere und Interessen gebundenere Politik. Die Erfassung von der vermeintlich wertfreien wissenschaftlichen Erkenntnis, die die Durchsetzung notwendigen Handelns anderen überläßt, wird besonders problematisch in einer Welt, die sich in vielen Fällen noch nicht auf international abgestimmtes Handeln einigen kann. Hier kann die Wissenschaft, denke ich, eine gewichtige Funktion übernehmen.

Eine solche, durchaus aufklärerische Ausrichtung der Wissenschaft setzt jedoch voraus, dass neben dem fachinternen, nach Kant dem "privaten", ebenso der "öffentliche Gebrauch der Vernunft" wieder selbstverständlich wird. Und das, was damit gemeint sein könnte, will ich an drei sehr unterschiedlichen Beispielen ein bisschen zu erläutern versuchen.

Das erste Beispiel ist naheliegender Weise die öffentliche Diskussion, die sich derzeit vor allem dem Thema Genforschung und Genmedizin widmet. Die breite Debatte zu diesem Thema ist ein ganz gutes Beispiel dafür, wie ein gesellschaftlich bedeutsames Thema eingehend diskutiert wird. Nicht nur Fachleute, sondern ebenso die sogenannten Laien, die sich - wie z.B. Politiker - um wachsende Sachkunde bemühen, nehmen engagiert Stellung. Vertreter fast aller gesellschaftlichen Gruppen von der Wirtschaft über die Kirche zu den Behindertenverbänden beteiligen sich an der Diskussion - übrigens nicht nur aus ethischen Überzeugungen, sondern auch mit erkennbaren Interessen. Durch die Berichterstattung der Medien ist hier ein, man kann sagen, einigermaßen differenzierter gesellschaftlicher Dialog in Gang gekommen. Das ist ein gutes Zeichen, denn nur eine informierte Gesellschaft kann verantwortlich handeln. Und auf der Basis einer solchen Debatte müssen wir Politiker entscheiden.

Differenzierung ist gerade beim komplexen Thema Gentechnologie unverzichtbar. Schließlich ist der weitaus größte Teil der Gentechnologie, der modernen Biologie durchaus unbedenklich und sehr zukunftsträchtig. Es ist deshalb keineswegs per se unmoralisch, an heutige und zukünftige Arbeitsplätze zu denken. Aber es kann bei diesem Thema selbstverständlich nicht allein um wirtschaftliches Wachstum gehen - insbesondere dann nicht, wenn dies mit der Frage nach der Achtung der Menschenwürde zusammenhängt. Hier prallen Gegensätze aufeinander, die eine ausführliche Diskussion ohne Zeitdruck erfordern. Aber schon werden wir getrennt, wir Politiker. Möglichst gestern hätten wir schon entscheiden sollen, obwohl die Debatte erst richtig losgegangen ist.

In der Bürgergesellschaft dürfen Entscheidungen von solch grundlegender sozialer und ethischer Bedeutung, sage ich dann im scheinbaren Widerspruch zum bisherigen, nicht einfach an Experten delegiert werden. Um nicht missverstanden zu werden: Expertengremien und Ethikräte sind sinnvoll und nützlich, um die gesellschaftliche Diskussion zu fördern und um politische bzw. parlamentarische Entscheidungen umfassend vorzubereiten. Politik bedarf der Beratung. Gerade Politiker bedürfen der Beratung. Die Demokratie jedoch braucht, gerade weil sie alle Bürger als im Grundsatz und aus Überzeugung gleich mündig ansieht, mehr als andere Staatsformen den gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Michael Naumann, der ehemalige Staatsminister für Kultur, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass es - eine interessante These - dass es vor allem Expertenwissen so etwas wie "moralische Intuition" gibt, dass jeder - oder doch fast jeder - Mensch zumindest eine Ahnung davon hat, was man nicht tun darf. Es ist wichtig, dass auch diese Dimension alltagspraktischer Vernunft in die Debatte eingeht.

Zwei Anmerkungen zur spezifischen wissenschaftlichen Verantwortung: Bei einem gesellschaftlich so bedeutsamen Problem, das die Frage nach der Würde des Menschen berührt, sollte die Wissenschaft als Ganze in der Diskussion vertreten sein. Im Konzert der Stellungnahmen ist jedoch, wenn ich sie richtig verfolgt habe - mit Ausnahme der praktischen Philosophie - von den früher so bezeichneten Geisteswissenschaften insgesamt recht wenig zu hören. Dabei hätten gerade sie unter kulturhistorischer Perspektive Wesentliches zur Frage des Menschenbildes beizutragen.

Das glaube ich jedenfalls, vielleicht auch wegen meiner früheren Profession als Kulturwissenschaftler: Die Kulturwissenschaften könnten und sollten zeigen, wie sich unser Konzept von Menschenwürde historisch entwickelt hat, wie es sich verändert hat durch Wissenschaft, durch Technologie, durch Erkenntnisfortschritt, durch gesellschaftliche Debatte. Die Entwicklungen im Bereich der Gentechnologie sind geeignet, unser Verständnis vom Menschen grundlegend zu verändern. Nicht wenige, das ist ja ein Teil der Debatte und trägt sie mit, nicht wenige befürchten, dass dadurch stillschweigend das Paradigma vom perfekten Menschen in unser Denken und Handeln Einzug trägt. Eine gesellschaftliche Atmosphäre, in der Leben mit Behinderung zum verhinderbaren Leben wird, davor haben viele Angst - zurecht, wie ich finde. Deshalb ist auch die Wissenschaft als Ganze gefordert, der Gesellschaft Rede und Antwort zu stehen. Hieran haben sich alle Disziplinen zu beteiligen, nicht nur ein paar Wenige.

Eine zweite Anmerkung: Albert Einsteins Einsicht, dass alles Denkbare auch machbar ist, ist von Stanislaw Lem zugespitzt worden: das, was gedacht wird, wird irgendwann einmal auch gemacht. Dieser Fatalismus ist, wenn ich die Argumentation richtig verfolge, sehr verbreitet, auch in der gegenwärtigen Debatte. Man fragt: was soll das ganze ethische Reflektieren, ihr könnt doch sowieso nichts aufhalten. Die Wissenschaft, die Wissenschaftler die machen doch was sie wollen. Und was Geld bringt, wird sowieso gemacht. Wenn nicht hier, dann anderswo.

Aber kann es der Zweck der Wissenschaft sein, alles Denkbare machbar werden zu lassen? Müssen wir nicht zugleich die Frage reflektieren, ob und warum das Mögliche auch verwirklicht werden soll, ob der wissenschaftliche Fortschritt dem Menschen auch tatsächlich nutzt? Und benötigen wir dazu nicht auch und ganz besonders Wissenschaft? Wissen ohne Weisheit ist jedenfalls eine gefährliche Ware. Wir wissen es.
Ob man das Machbare in jedem Falle tun soll, ob die Folgen der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse für unser Menschsein und für künftige Generationen zu verantworten sind, darum kreist die aktuelle Debatte. Ich gehe von der Auffassung aus, dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Eizelle und Samen beginnt. Aber was folgt daraus? Ich gehe von dieser Bestimmung aus, weil keine andere überzeugende wissenschaftliche Definition, keine überzeugenden Argumente gegen diese Übereinkunft vorgelegt worden ist. Und wenn man sich so festlegt, das ist noch eine durchaus mehrheitlich vertretene Meinung, dann fragt man, was es heißt, dass ab diesem Zeitpunkt die Würde des Menschen unantastbar sein muss, wie es das Grundgesetz fordert. Darauf muss sich auch die Forschung - deren Freiheit ebenso grundgesetzlich geschützt ist - immer auf's Neue verpflichten lassen. Und deshalb sind diejenigen beweispflichtig, die einen späteren Zeitpunkt des Lebensbeginns ansetzen.

Nun hat Hubert Markl, der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, vor einer Woche genau zu diesem Thema einen hoch interessanten, sehr lesenswerten und mich jedenfalls zugleich irritierenden Vortrag gehalten. Ich kann hier nicht die zu einem guten Teil brilliante Argumentation nachzeichnen; ich will nur auf einen Punkt eingehen. Eine zentrale These von Markl ist (ich zitiere:) "Jede geborene menschliche Person ist etwas einmalig Neues, das sich aus einer befruchteten menschlichen Eizelle entwickelt hat. Aber deshalb ist diese befruchtete Eizelle noch lange kein Mensch. Jedenfalls nicht als eine naturwissenschaftlich begründete Tatsache."

Und dann heißt es etwas weiter:

"Der Begriff 'Mensch' das ist kein Etikett der Natur, sondern eine selbstbezügliche Redeweise von Menschen, deren Bedeutung nicht die Natur festlegt. Der Begriff 'Mensch' ist ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen und ist keine rein biologische Tatsache."

'Mensch', so die These von Hubert Markl, Mensch ist ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff und Menschenwürde eine kultursozial begründete Attribution. Aus dem Begriff 'Menschenwürde', das ist die Pointe von Markls Argumentation, lasse sich deshalb, weil er selber eben historischer Natur ist, keine absolute, keine endgültig fixierte Grenze für wissenschaftliches Handeln ableiten. Es sei eben kein Rubikon, wie Bundespräsident Rau bildhaft gesagt hat, der nicht überschritten werden dürfte. Vielmehr sind, so Markl, Notwendigkeit und Freiheit der Erkenntnissuche zur Bewältigung der Lebensprobleme unverzichtbarer Teil unserer Menschlichkeit und Menschenwürde. Forschungsfreiheit ist dann Voraussetzung dafür, dass Kultur und Staat zu existieren vermögen.

Was mich an dieser Argumentation irritiert, ist ohne Zweifel die Relativierung von Menschenwürde durch das Forschungsinteresse, durch die guten Absichten der Forscher, für die sich Markl verbürgt. Die Freiheit, gerade auch die Freiheit zur Grenzüberschreitung sei das wesenhaft Menschliche, von der Menschenwürde her zu bestimmen sei. Genau dies ist die Frage. Ist daraufhin Menschenwürde, weil sie Zuschreibung ist, weil sie zugeteilt wird, ist sie dann auch teilbar? Wie kann man einer solchen Konsequenz dieser Argumentation begegnen? Wer so redet - und das ist das, was mich am meisten irritiert hat an diesem Text - wer so redet, redet ohne Gedächtnis, ohne Erinnerung - zum Beispiel an die Wissenschaftsgeschichte. Mir jedenfalls fiel bei der Lektüre ein, dass derselbe Prof. Markl erst ein paar Wochen zuvor Forschungsberichte entgegengenommen hat zur Verbrechensgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Nazizeit. Ich glaube, nur ohne geschichtliches Gedächtnis kann man den Begriff "Mensch", den Begriff "Menschenwürde" zu einer relativen, auf Übereinkunft beruhenden Zuschreibung machen, sie gewissermaßen für den aktuellen Forscherdrang passfähig und gefügig machen. Ein Wort noch, meine Damen und Herren, zu den viel diskutierten Heilungschancen für bisher unheilbare Krankheiten. Gerade in diesem Punkt werden die wissenschaftlichen Gegensätze immer deutlicher. Und das ist auch gut so. Als hingebungsvoller Zeitungsleser beginne ich zu verstehen, dass es fachlich höchst unterschiedliche Auffassungen über die Entwicklung neuer Heilungsmöglichkeiten gibt, insbesondere über den Zeitraum ihrer Realisierbarkeit. Für mich ist das ein zusätzliches Argument, keine allzu forschen, allzu schnellen Entscheidungen zu treffen. Und die Tatsache, dass in einzelnen anderen Ländern aus ökonomischen Gründen weniger abwartend verfahren wird, kann ja kein wirklich systematischer Anlass sein, ihnen auf diesem Weg unbedacht nachzueilen.

Ich komme zu einem zweiten, ganz anderen Beispiel. Die gewachsene gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft zeigt sich ebenso in anderen Bereichen des globalen Wandels, z.B. bei der Frage nach der zukünftigen Entwicklung unserer Demokratie in einer vernetzten Welt. Sie findet unter dem Stichwort "E-Governance" zunehmend Aufmerksamkeit. Die neuen Kommunikationsformen eröffnen vielversprechende Chancen: durch umfassende, in Echtzeit erfolgende Informationsvermittlung, dadurch kann eine weltweite kritische Öffentlichkeit entstehen. Neue Möglichkeiten der Meinungsbildung tun sich auf, neue Formen der Bürgerbeteiligung entwickeln sich, neue Perspektiven der politischen Partizipation deuten sich an. Gestern Nacht, nach dem dritten Teil der Sendung über den Rechtsextremismus in Deutschland, habe ich bis Mitternacht - wie heißt das - gechattet, eine sehr unmittelbare Art von Kommunikation mit jungen Leuten. Ich kann das nicht als einen Vorgang der Entdemokratisierung empfinden, es handelt sich vielmehr um eine intensive politische Kommunikation. Diese Chancen der politischen Partizipation müssen - wie die Frage einer elektronischen Stimmabgabe bei Wahlen zeigt - in positiver wie in negativer Hinsicht sorgfältig geprüft und kritisch überdacht werden.

Der Deutsche Bundestag wird in einem Modellversuch gemeinsam mit dem Bundesinnenministerium und Wissenschaftlern der Goethe-Universität Frankfurt erstmals den Prozess der Entstehung und Verabschiedung eines Gesetzes von Anfang bis zum Ende im Internet dokumentieren - natürlich mit der Einladung zur Kommunikation. Von diesem "Feldversuch" erwarten wir wichtige Hinweise zu den Möglichkeiten der Darstellung parlamentarischer Arbeit im Medienzeitalter. Neben mehr Transparenz geht es dabei ebenso um mehr Bürgerbeteiligung am politischen Geschehen.

Auch in anderen Bereichen gibt es positive Tendenzen. Durch den weltweiten Informationszugang via Internet können die Machthaber in radikal-islamischen Staaten oder in brutalen afrikanischen und asiatischen Militärdiktaturen ihre Bürger immer weniger von ungeschönten Informationen abschirmen. Ich war vor ein paar Monaten im Iran. Dort besuchte ich auch ein Internet-Café. Es ist kurze Zeit später geschlossen worden. Der Zugang zu weltweiten Informationen, die Wirkung solcher globaler Kommunikation ist offensichtlich diktaturfeindlich. Manchmal überlege ich, wie das mit der Sowjetunion und mit dem Kommunismus gegangen wäre unter den gegenwärtigen technischen kommunikativen Bedingungen. Der Kommunismus ist auch an dem Widerspruch zugrunde gegangen, dass er sich einerseits der globalen Kommunikation verweigert hatte, aber sie andererseits zugleich brauchte um des wissenschaftlich-technischen Fortschritts willen.

Nicht nur Staaten, müssen sich zum Glück zunehmend umstellen. So können z.B. Chemiekonzerne ihren Restmüll, Ölproduzenten ihre alten Bohrplattformen nicht länger unbemerkt in die Weltmeere versenken, denn die Nachricht von solchen Vorhaben hat inzwischen immer häufiger Folgen. Das Internet eröffnet insofern die Möglichkeit weltweiten Fortschritts für die Ausbreitung der Demokratie, für die Einhaltung der Menschenrechte und die Förderung von sozialer Gerechtigkeit. Aber leider haben das Internet und die anderen modernen Medien - egal, ob sie miteinander verschmelzen oder nicht - auch negative Momente. Sie können nämlich die demokratische, die bürgerliche Öffentlichkeit auch zerstören. Das wäre eine Zerstörung durch Zerstreuung, die ein einigendes Wertbewusstsein, einen Konsens über die Unterscheidung von falsch und richtig, gut und böse einer orientierungslosen Beliebigkeit preisgeben könnte. Und es wäre beruhigend, wenn es darauf Antworten geben könnte aus den Sozialwissenschaften - woher sonst?

Ansonsten könnte nach Ralf Dahrendorff ein "autoritäres Jahrhundert" drohen, das von politischer Fremdbestimmung durch transnational agierende Wirtschafts- und Medienkonzerne geprägt wird. Bestimmt von einer Haltung kritikloser Unterwürfigkeit, bevölkert von "leistungsbewussten Mitläufern", wie Oskar Negt sie genannt hat. Der immense Zuwachs an Informationen aus aller Welt muss nämlich nicht unweigerlich zur Förderung von Wissen und politischer Mündigkeit führen. Im Gegenteil zeigt sich immer häufiger, dass durch ein Übermaß an Information die wirklich wichtigen Nachrichten zugeschüttet werden. Wer über alles informiert ist, ist längst noch nicht in der Lage, sich daraus ein Gesamtbild zu machen oder gar mit dem Wissen Sinnvolles anzufangen.

Es gibt auch in diesem Bereich Probleme, die zeigen, dass die Regelungsmöglichkeiten internationaler Politik mit der globalen Entwicklung noch nicht Schritt halten können. So fürchten nicht wenige Bürgerinnen und Bürger den Verlust regionaler und nationaler kultureller Eigenheiten. Das fängt bereits bei der Sprache an. Die linguistisch gesehen bizarre Debatte um die Anglizismen in der deutschen Sprache hat im Vordringen des Englischen als Sprache der Globalisierung in unserer Alltagswelt eine wesentliche Ursache. Nicht zufällig ist die Angst vor dem Verlust an Vertrautheit ein wichtiger Ansatz für rechtsextremistische Nutzer des Internets. Wie so oft haben sie am schnellsten die neuen Möglichkeiten eines elektronischen Populismus erkannt und ziehen aus dem Fehlen rechtlicher Regelungen ihren propagandistischen Nutzen. Wenn hier nicht internationale Regelungen gefunden werden, erschließt sich rechtsextremistischen Drahtziehern ein gefährliches Einfallstor in unsere Gesellschaft, gerade in die junge, Internet-begeisterte Generation. Leider sind die Aussichten auf gemeinsame politische Maßnahmen und Regeln gering, solange z.B. die USA daran kein wirkliches Interesse haben und kein wirkliches Problem darin sehen, sondern rechtsextremistische Aufrufe als von der Meinungsfreiheit geschützt betrachten.

Im Sinne der "commune bonum" ist es eine gesellschaftlich wichtige Aufgabe der Wissenschaft, Konzepte zu entwickeln, wie die globale Kommunikation, die neue Medienvielfalt in unserer Lebenswelt zur Stärkung und Fortentwicklung der Demokratie genutzt werden kann. Gerade die Sozialwissenschaften haben die Politik, wie ich finde, rechtzeitig auf das Problem der gesellschaftlichen Kohäsion im Zeitalter der Globalisierung aufmerksam gemacht - ohne dass die Politik jedoch bisher zu umfassenden Lösungsansätzen genau dazu gekommen wäre. Politologen und Soziologen halten deshalb die Politik ja ohnehin für nur begrenzt beratungsfähig und fühlen sich gelegentlich als bloße Legitimationsinstanz ausgenutzt. Nun ist die Politik wegen der unvermeidlichen Langsamkeit demokratischer, parlamentarischer Prozesse kaum einmal in der Lage, wissenschaftliche Empfehlungen unmittelbar umzusetzen. Zudem muss man als Wissenschaftler in aller Regel auch nicht über politische Mehrheiten oder über Legislaturperioden, gar über die nächsten Wahlen nachdenken. Aber die Wissenschaft braucht sich, darf sich nicht als politisches Feigenblatt instrumentieren lassen. Im Gegenteil, wir brauchen sie in ihrer Kritikfunktion, wenn sie nicht zu einer "Echo-Wissenschaft" (Oskar Negt) werden will.

Politisches Handeln - diese Erfahrung machen gegenwärtig immer mehr Wissenschaftler - kann man auch auf anderen Wegen als durch ‚reine', traditionelle ‚Politikberatung' fördern. Forscher, die in der Politik kein Gehör finden, engagieren sich schon heute in Nicht-Regierungs-Organisationen, die in hohem Maße auf fachwissenschaftlichen Sachverstand angewiesen sind. Oder man schlägt über Medien Alarm, um der Politik Beine zu machen. Diese Veränderungsprozesse im wissenschaftlichen Habitus sind ein zivilgesellschaftlicher Fortschritt, meine ich. Zunehmend wird in Wissenschaftskreisen deutlich, dass das Schreiben eines weiteren Fachbuches nicht immer der geeignete Schritt ist, um politisches oder gesellschaftliches Handeln anzustoßen. Es kommt ebenso auf den Transport der Erkenntnisse in die Gesellschaft durch den Forscher selbst an. Das hat nichts mit der fachintern oft verpönten Öffentlichkeitssucht zu tun, sondern mit der Notwendigkeit öffentlichen Vernunftgebrauchs - wenn das Fachwissen nicht folgenlos für das Gemeinwohl bleiben soll. Umgekehrt ist aber natürlich auch die Politik gefordert, sich noch stärker und ernsthafter in den Dialog mit der Wissenschaft zu begeben und ihre Ergebnisse anzunehmen.

Zu meinem dritten Beispiel: Im Unterschied zu den Perspektiven der Biotechnologie und der neuen Medien scheint die Bedeutung von geisteswissenschaftlichen Forschungen gesellschaftlich gering zu sein. Und so werden sie traditionell von vielen eingeschätzt oder fehleingeschätzt: Von den Ökonomen, die an den Ergebnissen fachwissenschaftlicher Untersuchungen etwa zu Literatur, Malerei, und Musik keine Gewinnmöglichkeiten erkennen können, von Politikern, die der intellektuellen Sphäre nicht selten misstrauisch gegenüberstehen wie von weiten Teilen einer Gesellschaft, für die diese Wissenschaftsbereiche je nach Gusto 'Orchideenfächer' oder schlicht 'l'art pour art' sind.

Besonders bedenklich ist der Anschein, dass viele Geisteswissenschaftler diese Einschätzung verinnerlicht haben und sich ganz in ihre fachwissenschaftliche Arbeit zurückziehen. Dabei hätten sie spätestens seit der Neuorientierung als Kulturwissenschaften Grund, sich in der entgrenzten Welt wieder stärker mit öffentlich relevanten Themen auseinander zusetzen. Allerdings dürfen sie sich nicht den gängigen Kosten-Nutzen-Rechnungen, zumindest nicht denen kurzfristiger Art, unterwerfen. Gegenstand der ‚neuen' Kulturwissenschaften ist, wie ich gelesen habe, die Gesamtheit aller menschlichen Arbeits- und Lebensformen. Als ehemaliger Germanist muss ich sagen: Da haben sich meine Kolleginnen und Kollegen ja einen gewaltigen Arbeitsbereich aufgeladen! Neben der sehr sinnvollen Annäherung an die Sozialwissenschaften dürfte diese Gegenstandsbestimmung allerdings auch zu einer Inflationierung des Kulturbegriffs beitragen. Schließlich wird, so betrachtet, fast alles von der Entwicklung der Siegerländer Bergwerkskarre bis zum polynesischen Hahnenkampfritual zum Kulturphänomen - und das ist es ja letztlich auch. Aber es dürfte klar sein, dass nicht alle Kulturelemente gleich bedeutend sind, nicht jeder Untersuchungsgegenstand gleich aussagekräftig sein kann. So differenziert macht die Öffnung Sinn. Schließlich kann uns gerade die Untersuchung der Alltags-, Arbeits- und Minderheitenkulturen viel verraten über soziale Verhältnisse, über gerechte oder ungerechte Lebensverhältnisse, über Integrationsformen und Ausgrenzungsmechanismen, über menschenwürdige und -unwürdige Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens - früher wie heute. Unter kulturhistorischer Perspektive nach- und vorzudenken, wie gesellschaftliches Zusammenleben heute und morgen aussehen könnte, das wäre eine Aufgabe für Geistes- und Sozialwissenschaften.

Dazu eine kleine Reminiszenz an meine eigene kulturwissenschaftliche Vergangenheit - die ja durchaus mit der Arbeit dieser Akademie verbunden ist: Ich habe einige Jahre am Konzept, an den Vorarbeiten zu einem "Wörterbuch ästhetischer Grundbegriffe" mitgewirkt am Institut für Literaturgeschichte der früheren Akademie der Wissenschaften der DDR. Es sollten fünf große dicke Bände werden. Aus der Sicht der new economy wäre das ein wissenschaftliches Werk, das die Welt nicht braucht: es verkauft sich nur in kleinen Stückzahlen und ist als Fachbuch nicht unbedingt flott lesbar. Wer außer wenigen Spezialisten will schon nachdenken über den Begriff des Schönen, über Wahrnehmung, über Geschmack, über Kunst, über Avantgarde usw. usf. Trotzdem glaube ich, dass solche Art Nachdenken und Nachforschen sinnvoll und nützlich ist, die Forschung über die Geschichte und die Geschichtlichkeit unseres Denkens, unserer Wahrnehmung, unseres Geschmacks über den erstaunlichen Umstand, dass wir Heutigen, zum Beispiel antike Kunstwerke noch immer verstehen, schön finden können, aber dass wir dies vermutlich durchaus anders tun als die alten Griechen. Geschichtliche und kulturelle Verstehensfragen sind in der globalisierten Welt wichtiger denn je, sind gesellschaftlich wie politisch notwendig und nützlich. Schillers "Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" sind zugleich einer der bedeutendsten politischen Texte unserer Geschichte.

Die gesellschaftliche Bedeutung der Kulturwissenschaften - und damit auch ihre Verantwortung - ist viel größer, als es Odo Marquards "Kompensationsfunktion" wahrhaben will. Die Kulturwissenschaften sind keine Entspannungswissenschaften, die dem immer schnelleren Fortschreiten der Moderne beschönigend hinterherlaufen. Vielmehr ist es ihre Aufgabe, diesen Fortschritt auch kritisch zu reflektieren, ihn auf seine Menschenverträglichkeit hin zu befragen, Politik und Gesellschaft durch das Wachhalten von geschichtlichem und kulturellem Gedächtnis und das Eröffnen von Fragehorizonten Handlungsorientierungen zu liefern. Kultur, Geschichte, Traditionen geben uns Halt, sie liefern uns ein Bewusstsein der Möglichkeiten ethischen Handelns, eröffnen Chancen, trotz der immer schneller ablaufenden Veränderungen das Bewahrenswerte zu erhalten. In den Beschleunigungsprozessen der Gegenwart sind Räume und Zeiten der Verlangsamung, der Reflexion unverzichtbar. Wir brauchen so etwas wie menschenverträgliche Ungleichzeitigkeit.

Werden jedoch die spezifischen Reflexionsangebote der Kulturwissenschaften wegrationalisiert, dann droht gesellschaftlicher Gedächtnisverlust, gehen historische und ästhetische Verstehenshorizonte sowie ein unersetzlicher Fundus an anthropologischem Wissen verloren. Dabei werden sie gerade in der entgrenzten Welt für die Verständigung zwischen den Kulturen immer wichtiger. Wie wollen wir die in unserer Mitte lebenden Minderheiten verstehen und integrieren, wenn wir uns nicht mehr mit ihren kulturellen Eigenheiten und Prägungen auseinandersetzen können, weil wir deren Geschichte überhaupt nicht mehr kennen. Und wie soll der politisch, aber auch wirtschaftlich dringend notwendige "interkulturelle Dialog' gelingen, wenn wir uns nicht mehr genügend mit unserer eigenen kulturellen Tradition und Herkunft auseinandersetzen?

In der entgrenzten Welt ist die "Einbeziehung des Anderen" in dem von Jürgen Habermas beschriebenen Sinne eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben (ich zitiere):

"Das postmoderne Misstrauen gegen einen rücksichtslos assimilierenden und gleichschaltenden Universalismus (...) bringt im Eifer des Gefechts jene relationale Struktur von Andersheit und Differenz zum Verschwinden, die ein wohlverstandener Universalismus gerade zur Geltung bringt. ("Einbeziehung des Anderen") heißt ...nicht Einschließen ins Eigene und Abschließen gegens Andere. (Sie) besagt vielmehr, dass die Grenzen der Gemeinschaft für alle offen bleiben - auch und gerade für diejenigen, die füreinander Fremde sind und Fremde bleiben wollen."

Die Auseinandersetzung mit den Folgen der Globalisierung ist also keineswegs nur eine Aufgabe für die Natur- und Sozial-, sondern ebenso für die Kulturwissenschaften. Insofern kann man gegen Odo Marquards bekannte Formel formulieren: je globaler die globalisierte Welt wird, um so unverzichtbarer sind die Kulturwissenschaften - nicht als gesellschaftliche Kompensationsstube, sondern als kultur-historisch fundiertes Reflexionszentrum für eine menschengemäße Gestaltung von Gegenwart und Zukunft.
Natürlich, meine Damen und Herren, ist das im weiteren Sinn eine Aufgabe von Wissenschaft insgesamt. Im Zeitalter der Globalisierung ist deshalb die Vernetzung der einzelnen Wissenschaften endgültig unverzichtbar geworden. Nur wenn die Aufteilung in Forschungssegmente mit begrenzter Zuständigkeit und Kompetenz überwunden wird, kann Wissenschaft wieder zu einem gewichtigen Orientierungsfaktor für Gesellschaft und Politik werden. Damit sie diese Funktion erfüllen kann, brauchen wir nicht weniger, sondern mehr Bildung, mehr Forschung, mehr Wissenschaft. Es ist deshalb ein wichtiges Zeichen, dass im Bundeshaushalt 2002 der Etat für Bildung und Wissenschaft auf 16,41 Milliarden DM steigen wird - gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung von 2,7 %, gegenüber dem Etat der Vorgängerregierung eine Steigerung um 15,5 %. Damit unterstreicht die Bundesregierung den hohen Stellenwert von Forschung und Bildung für unsere Gesellschaft. Da wir hier in Berlin sind, wünsche ich mir, dass jeder neue Senat begreift, dass bei aller Konsolidierungsnotwendigkeit die Landespolitik die Stärken dieser Stadt fördern muss. Und die heißen nun mal Bildung, Wissenschaft und Kultur - und sonst fast nichts. Ich hoffe, es gelingt.

Zum Schluss, meine Damen und Herren: Unsere Gesellschaft benötigt neben Vermittlungsinstanzen auch Vermittlungsorte, an denen der Dialog gefördert wird. Die Akademien waren in Antike und früher Neuzeit bedeutende Schnittpunkte der Kommunikation zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Diese Funktion ist in der jüngeren Zeit etwas in den Hintergrund getreten. Die "Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften" will sich jedoch - so habe ich es in den "Visionen der Akademie" von Prof. Simon gelesen - wieder verstärkt an der "Artikulation zentraler gesellschaftspolitischer Fragen beteiligen", eine neuhochdeutsch so bezeichnete "Interface-Funktion" zwischen den Wissenschaftsbereichen, aber ebenso zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik wahrnehmen. Das ist ein Vorhaben, dem man Erfolg und weite Resonanz wünschen kann.

Die zentrale Herausforderung in der immer stärker entgrenzten Welt bleibt die Rückgewinnung des Politischen. Dies gesellschaftlich bewusst zu machen, ist auch eine Aufgabe für Wissenschaftler. Und solange es international abgestimmte Politik noch nicht in ausreichendem Maße gibt, hat neben der Wirtschaft die Wissenschaft eine besondere Verantwortung dafür, ob sich die Globalisierungstendenzen zu unser aller Nutzen entwickeln oder ob sie vorhandene Probleme, Ungleichheiten (und damit Spannungen) in der Welt verschärfen werden. Diese Frage ist derzeit noch nicht entschieden - und sie wird es vermutlich noch eine Weile bleiben. Aber eins scheint mir schon heute sicher: ohne eine Wissenschaft, die ihre gesellschaftliche Verantwortung fächerübergreifend wahrnimmt, werden wir diese Herausforderung nicht bestehen können.

Ich danke fürs Zuhören.

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Quelle: http://www.bundestag.de/bic/presse/2001/pz_0106296
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