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06/2001
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Streitgespräch

Dialog

Streitgespräch zur Arbeitsmarktpolitik

Kein Recht auf Faulheit?

Ein Kanzlerwort hat Deutschland erregt: "Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft", verkündete Gerhard Schröder und verlangte, wer arbeiten könne, solle es auch tun. Doch was ist mit jenen, die arbeiten wollen, aber keinen Job finden? Liegen Millionen Arbeitslose als Drückeberger im sozialen Netz? Und: Was kann der Staat für mehr Beschäftigung tun? Darüber führte Blickpunkt Bundestag ein Streitgespräch mit der Parlamentarischen Geschäftsführerin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Birgit Schnieber-Jastram und dem stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Franz Thönnes.

Blickpunkt Bundestag: Herr Thönnes, ist der Generalverdacht des Kanzlers berechtigt: Leben wir in einem Land von Arbeitsscheuen und Sozialabstaubern?

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Franz Thönnes.
Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Franz Thönnes.
franz.thoennes@bundestag.de

Franz Thönnes: Der Kanzler hat keinen Generalverdacht ausgesprochen, sondern an eine Selbstverständlichkeit erinnert, nämlich dass Solidarität keine Einbahnstraße sein darf. Das klappt im Wesentlichen auch gut. Wir haben im letzten Jahr an die 7 Millionen Arbeitslosenmeldungen gehabt, 3,5 Millionen Arbeitslose sind vermittelt worden. Das zeigt, dass im Arbeitsmarkt eine unheimliche Dynamik steckt. Und es zeigt die Bereitschaft derer, die Arbeit suchen, Arbeit auch anzunehmen.

 

Blickpunkt: War, Frau Schnieber-Jastram, die Kanzlerschelte insofern falsch und ablenkend?

Die Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Birgit Schnieber-Jastram.
Die Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Birgit Schnieber-Jastram.
birgit.schnieber-jastram@bundestag.de

Birgit Schnieber-Jastram: Beschimpfungen nützen gar nichts. Besonders im Osten müssen sie wie purer Zynismus wirken. Die Regierung Schröder wollte zwei Schwerpunkte setzen: den Aufbau Ost und die Senkung der Arbeitslosenzahl auf 3,5 Millionen. Beide Ziele sind bisher nicht erreicht. Das ist bedauerlich. Die Regierung scheint auf das Recht zur Untätigkeit zu bauen, das sie nicht hat.

 

Blickpunkt: Wenn Arbeitsämter nur rund 90.000 Arbeitslose als Drückeberger mit Sperrzeiten bei der Unterstützung belegt haben, muss dann die Schmarotzerfrage nicht als Randbereich des Arbeitslosenproblems gesehen werden?

Thönnes: Wir müssen tatsächlich aufpassen, dass die von der Union angezettelte Debatte über eine Arbeitslosenpolizei, die Arbeitslose auf ihre Pflichten hin überwacht, nicht ins Zentrum rückt. Es geht darum, Arbeit zu schaffen. Das haben wir nach unserem Regierungsantritt durch eine vernünftige Verzahnung von Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik eingeleitet. Wichtig war dabei, die Lohnnebenkosten zu senken. Jetzt sehen wir die Erfolge dieser Politik: eine Million neuer Jobs in zwei und den Abbau der Arbeitslosigkeit um gut 560.000 in drei Jahren.

 

Im Gespräch: Birgit Schnieber-Jastram...
Im Gespräch: Birgit Schnieber-Jastram...

Blickpunkt: Bei jetzt 3,9 Millionen Arbeitslosen bleibt die Frage: Wie kann man mehr Arbeitslose wieder in Arbeit bringen?

Schnieber-Jastram: Richtig. Und da schaue ich mir an, was der Bund und die Bundesanstalt für Arbeit als zentrale Vermittlungsbehörde mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln – immerhin 46 Milliarden Mark – erreicht hat. Wofür werden die ausgegeben und wie viele Menschen wurden damit in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt? Die Bilanz ist ernüchternd: Die meisten Arbeitslosen befinden sich weiter in der so genannten Drehtür, das heißt, sie gehen von einer Maßnahme in die andere, ohne feste Verankerung auf dem Arbeitsmarkt. Das ist kein guter Einsatz der vielen Milliarden aus dem Aufkommen der Beitragszahler.

Blickpunkt: Einverstanden Herr Thönnes? Was ist Ihr Rezept zum Abbau der Arbeitslosigkeit?

Thönnes: Erstens: Wir haben durchaus wichtige Erfolge – Stichwort 3,5 Millionen vermittelte Arbeitslose. Zweitens: Wir brauchen mehr frischen Wind in der Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen zügiger vermitteln, passgenauer Qualifikation und Nachfrage zusammenbringen, eine bessere Wirkungsforschung betreiben. Konkret heißt das, wir müssen die Menschen noch stärker befähigen, ihre Beschäftigungsfähigkeit durch Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen aufrecht zu erhalten. Das gilt sowohl für ungelernte als auch für ältere Arbeitnehmer, die nicht zum alten Eisen gehören, sondern enorme Kompetenzen für die Wirtschaft haben. Dies alles sind Punkte in unserem "Job-Aktiv"-Gesetz.

Schnieber-Jastram: Ich kann das hohe Lied auf den Erfolg der Arbeitsmarktpolitik nicht teilen. Deutschland liegt an einer der hinteren Positionen in Europa; die Zahl der Langzeitarbeitslosen sinkt nicht, und im Osten haben wir sogar ein Mehr an älteren Arbeitslosen. Deshalb: Lassen Sie uns mit dem Geld, das wir jetzt ausgeben für Qualifizierung, so zielgerichtet umgehen, dass wir den Menschen wirklich helfen, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Mit dem Versuch, neue Statistiken zu führen und dort bestimmte Gruppen auszugrenzen, kommen wir nicht weiter.

... und Franz Thönnes.
... und Franz Thönnes.

Blickpunkt: Warum sind die ursprünglichen Bemühungen um eine Reform des Arbeitsmarktes stecken geblieben? Warum gibt es kaum Niedriglohnjobs in Deutschland?

Thönnes: Wir haben verschiedene Modellversuche aufgelegt. Jetzt prüfen wir ihre Erfolge. Aber klar ist, dass das Heil nicht im Niedriglohnsektor liegen kann. Wichtiger ist, dass die Menschen qualifiziert werden, gerade angesichts des rasanten technologischen Wandels. Natürlich muss auch die Kooperation zwischen Arbeitsämtern und Sozialhilfeträgern verbessert werden, damit mehr Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden können.

Schnieber-Jastram: Mir ist das alles viel zu zögerlich. Wir brauchen weniger Versuche als konkrete Initiativen, etwa bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Bei zwei parallelen Systemen gibt es wenig Anreize, aus dem einen System auszusteigen.

 

Blickpunkt: Ist ein System faul, in dem der Staat an manche Arbeitslose mehr Unterstützung überweist als sie im Beruf verdienen würden? Müsste die Schere zwischen Lohn und Stütze nicht viel größer sein?

Schnieber-Jastram: Dass hier etwas nicht in Ordnung ist, sehen Sie an der Schwarzarbeit, die unverändert üppig blüht. Das hat sicher mit den hohen Lohnnebenkosten zu tun, aber auch damit, dass wir über unsere Sozialsysteme zur Zeit Untätigkeit finanzieren. Wir brauchen aber eine ausgewogene Tarierung von Leistung und Gegenleistung. Wer jung und leistungsfähig ist, muss dem Staat auch Leistung zurückgeben, wenn er Transferleistungen erhält. Deshalb sollten wir aus den zwei Systemen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe eins machen. Dadurch würden wir mehr Transparenz, gute Vergleichsmöglichkeiten und bessere Chancen bekommen, Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern.

Thönnes: Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass der Abstand zwischen dem verfügbaren Einkommen der unteren Lohngruppen und der Sozialhilfe, also das Lohnabstandsgebot, gewahrt wird. Auch wir sind dabei, Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung durch eine Optimierung der Zusammenarbeit der Behörden stärker zu bekämpfen. Aber man kann nicht in zweieinhalb Jahren all das aufräumen, was die alte Regierung versäumt hat.

Schnieber-Jastram: Oho. Richtig ist vielmehr, dass Rot-Grün viel zu untätig war.

 

Blickpunkt: Der Kanzler will die Zahl der Arbeitslosen im Wahljahr auf 3,5 Millionen senken. Ist das noch ein realistisches Ziel?

Thönnes: Ja, durchaus. Wir haben zwar jetzt eine Konjunkturdelle, die nicht zu einer Rezession niedergeredet werden darf, aber die Aussichten insgesamt bleiben gut. Mit unserem Gesetz verstärken wir zudem die Chancen und Möglichkeiten zur besseren und schnelleren Vermittlung von Arbeitslosen. Deshalb glaube ich, dass wir 3,5 Millionen Arbeitslose erreichen können.

Schnieber-Jastram: Auch ich wünschte, dass diese Zahl erreicht wird, weil jeder Arbeitslose weniger etwas Positives ist. Ich fürchte aber, dass sich die Regierung etwas vorgaukelt und nur mit Zahlen jongliert. In Wirklichkeit haben wir keinen zusätzlichen Aufbau von Beschäftigung, sondern jährlich 230.000 Menschen, die aus Altersgründen aus der Statistik herausfallen. Auch die 630-Mark-Jobs, die früher mitgezählt wurden, sind nicht mehr drin. Deshalb: Ich befürchte, hier wird nur positiv gedacht.

Quelle: http://www.bundestag.de/bp/2001/bp0106/0106064a
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