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Das Parlament
Nr. 27 / 04.07.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Susanne Balthasar

Dreiklang in Moll

Die Seelenlage der Deutschen und der Kummer mit dem eigenen Sein
Was ist los mit unserem Land?, fragte Roman Herzog 1997 in seiner berühmten Ruck-Rede. Herzogs Antwort: "Der Verlust wirtschaftlicher Dynamik, die Erstarrung der Gesellschaft, eine unglaubliche mentale Depression - das sind die Stichworte der Krise. Sie bilden einen allgegenwärtigen Dreiklang, aber einen Dreiklang in Moll." Sieben Jahre später scheint sich nichts geändert zu haben. Im Gegenteil. Der Dreiklang ist zu einem Klagelied geworden. Ein niederschmetternder Grundton zieht durch das Land, immer hörbar, mal gedämpft, doch meistens ein anschwellend stoßseufzender Basston: das Jammern der Deutschen.

Arbeitslosigkeit, Hartz IV, PISA, die Vergreisung der Republik, die Wirtschaftsflaute, die Rentennullrunde, die Heuschrecken, nun die Neuwahl - eine Nachricht gibt den Rhythmus vor und die Nation verfällt, orchestriert von den Medien, dem Singsang in Moll mit der kaum vernehmbaren Hoffnung auf Besserung: Arbeitslosengeld-II-Empfänger können ihren Sommerurlaub nicht mehr bezahlen, Rentner sich die Zähne für die Brötchen nicht mehr leisten und was wird die Wahl schon bringen? Und dann sind da noch die Talk-Shows, in denen besser verdienende Politiker und Wirtschaftsmenschen unter fachkundiger Anleitung von Sabine Christiansen und Maybritt Illner den Untergang des Wohlfahrtsstaates tiefschwarz heraufziehen sehen. Die am häufigsten gebrauchten Worte sind auf politischer Ebene der Luxus, "den wir uns nicht mehr leisten können", die Abstriche, "die alle machen müssen", denn so gehe es wirklich nicht mehr weiter. Der Wirtschaftsstandort ist tagtäglich in Gefahr, auch wenn manche Zahlen das Gegenteil belegen. Auf der Volksebene wird die Botschaft übersetzt in: Alles wird teurer, früher war's besser, heute möchte ich nicht mehr jung sein, und deshalb gibt's auch keine Kinder mehr. Die sind doch ohnehin nur noch dazu da, den bundesstaatlichen Abstieg von der Bezirks- in die Kreisliga abzuwenden. Zukunft? Ham wa nich'.

Die Depression ist nicht nur eine gefühlte. Dass die Deutschen tatsächlich ein Volk von Pessimisten sind, hat nun eine internationale Studie des Gallup-Institutes belegt: Gerade mal ein Viertel der Bundesbürger sieht mit Optimismus in die Zukunft - in den USA sind es 65 Prozent. Einen Konjunkturanstieg erwarten schwache acht Prozent, ebenso wenige halten die Politik der Bundesregierung für sozial gerecht, gegenüber satten 90 Prozent, die den Politikern misstrauen, ein Drittel hat Angst vor Arbeitslosigkeit. Damit sind die Deutschen weltweit Spitzenreiter im Schwarzsehen, die Nation versinkt im mentalen Desaster. Pascale Hugues, Korrespondentin einer französischen Wochenzeitung hat "eine Art perverse Freude der Deutschen am Jammern" festgestellt: "Der ganze Alltag ist ein Jammern. In diesem Land ist es schick zu jammern." Teutonische Tristesse - und was sagt uns das über die Deutschen?

Das Jammern ist so alt wie die deutsche Sprache. Jammern kommt vom Mittelhochdeutschen "Jämer" und geht auf das Wort jämar, traurig, zurück. Die Jammerei ist allerdings keine deutsche Angelegenheit, sondern eine wertvolles Kulturgut, das in allen Gesellschaften seit Urzeiten existiert. Denn: Jammern ist grundsätzlich nicht verkehrt. Die Systemtherapeutin und Sozialpädagogin Claudia Schwirtz behauptet sogar: "Jammern ist das A und O. Wer nicht jammert, lebt nicht lange." Gelegentliches Lamentieren ist also eine psychologisch anerkannte Technik. Und auch Paul Watzlawick hat schon konstatiert: "Machen wir uns nichts vor: Was oder wo wären wir ohne unsere Unglücklichkeit. Wir haben sie bitter nötig; im wahrsten Sine des Wortes." Statt den Kummer in der eigenen Seele zu beerdigen, wird er in einem vitalen Befreiungsakt an die frische Luft gelassen: je lauter desto besser. In südlichen oder arabischen Ländern wird seelischer Schmerz in exzessiven Klagelauten ausgelebt. Während ein volltönender Schmerzlaut durchaus kathartisch sein kann, weil der lärmend Klagende sein Leid als aktives Subjekt bewältigt, sind solche archaisch-lautstarken Riten in den Industriestaaten verpönt. Der Schmerz um die Toten ist einem fast geräuschlosen Trauern gewichen, die Unzufriedenheit mit der Welt im allgemeinen entweicht als leiser Nörgelton. Doch wo es klagende Opfer gibt, gibt es auch immer Täter: Die Ossis, die Wessis, die Alten, die Jungen, der Staat, die Gesellschaft, die Rechten, die Linken, die da oben, die da unten - einer hat immer Schuld. Handlungskompetenz abgeben, Trost einsacken, fertig. Ohjeh. Symptome einer Depression. Seltsam nur ist, dass das Ausland die Deutschen ganz anders sieht - nicht als stets lammentierende Weltenbürger, sondern dort mag man sie. Nach einer gerade vom PEW Research Center in Washington veröffentlichten Studie steht Deutschland bei anderen europäischen Ländern ganz vorne in der Beliebtheitsskala. Aber selbst im Libanon (85 Prozent), in Russland (79) und in Kanada (77) genießen die Deutschen einen guten Ruf. Kaum zu glauben, denn nur 51 Prozent der Deutschen selbst glauben, dass sie in der Welt gemocht werden, 43 Prozent sind gar der Überzeugung sie seien unbeliebt. Und natürlich, die eigenen Lebensverhältnisse werden auch nach der PEW-Studie schlecht eingeschätzt. 73 Prozent der Deutschen sind damit unzufrieden.

Warum wird gerade in Deutschland so viel gejammert? Weil das Wetter oft nass und der Wald auch im Juli so dunkel ist, dass die Welt draußen vor dem Fenster meistens aussieht wie ein Seufzer in graubraun? Weil die Deutschen das Volk der Dichter und Denker und nicht der Macher und Tuer sind? Andrea Abele-Brehm, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Erlangen sieht einen Zusammenhang: "Das Stereotyp von den Deutschen ist, dass sie tiefgründig sind und nicht lustig und fröhlich." In der grauen Volksseele hat sie einen Grund für die Dauermeckerei ausgemacht, den anderen in der Geschichte: "In den letzten 150 Jahren haben die Deutschen ein negatives Bild von sich bekommen: Der verlorene Krieg 1870/ 71 und dann die beiden Weltkriege." Am Ende bleibt ein frustriertes Selbstbewusstsein und das Gefühl kläglichst benachteiligt zu sein. Kürzlich hat der Minderwertigkeitskomplex die Landesgrenze ins eigene Innere überschritten. Seit die Sozialleistungen schrumpfen schleicht sich die Idee, dass selbst die Deutschen mal besser dran waren, ins bundesbürgerliche Bewusstsein. Die Konsequenz: Der Frust kommt als Selbsthass daher. Pascale Hugues hat beobachtet: "Man jammert sogar darüber, dass man jammert." Typisch Deutsch. Aber vielleicht der einzige Ausweg aus der Kummerkrise. Ist nicht die Miesmacherei Schuld an der Konsumflaute? Geht es uns Deutschen nicht immer noch gut? Jammern wir nicht auf unglaublich hohem Niveau? Gibt es nicht auch tausend gute Gründe für den Aufschwung? Immer mehr Politiker fordern ein Ende des Lamentos und eine neue Mentalität des Anpackens.

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