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Das Parlament
Nr. 28 - 29 / 11.07.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Karl-Otto Sattler

Die Macht der Richter

Straßburger Menschengerichtshof

Renate Jäger macht sich so ihre Gedanken. Seit Herbst 2004 sitzt die vormalige Bundesverfassungsrichterin in der erlesenen Runde des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs. Rasch wurde die Deutsche mit dem Alltag in der höchsten juristischen Instanz auf dem Kontinent konfrontiert: Die 45 Europarats-Richter drohen in einer Flut von jährlich an die 40.000 Klagen zu ersticken, Zehntausende von Verfahren warten in einem Rückstau noch auf ihre Abwicklung. Wie Präsident Luzius Wildhaber (Schweiz) verlangt auch Jäger von den Mitgliedsnationen des Staatenbunds eine bessere finanzielle Ausstattung des Gerichtshofs, um dessen Effizienz zu steigern.

Bei einer Visite in Karlsruhe fügte sie dieser Forderung indes eine bemerkenswerte Überlegung an. Vielleicht, mutmaßte Jäger, sei es manchen Ländern als "Nebeneffekt" der Überlastung des Gerichts ja gar nicht unlieb, wenn Menschenrechtsverstöße "nicht oder nicht zeitnah untersucht und gerügt werden". Möglicherweise gebe es bei Regierungen, die wegen Verletzungen der Menschenrechtscharta zu Schadensersatz verurteilt werden, einen "Abschreckungseffekt" - mit der Konsequenz, dass den Staaten "Verlangsamung, Stillstand und Leerlauf" eventuell nicht unwillkommen seien.

Hoppla. Solche Worte lassen aufhorchen. Offenbar gehen Urteile des Gerichtshofs nicht wenigen Regierungen gehörig auf die Nerven. Das ist nicht verwunderlich, schließlich mischen die blauschwarzen Roben das Rechtssystem und teils auch die Innenpolitik in diversen Ländern zuweilen kräftig auf.

Urteile mit politischer Tragweite

Auch wenn der Europarat als politische Instanz um seinen Einfluss auf internationaler Ebene kämpfen muss: Der Gerichtshof kann über mangelnde Resonanz nicht klagen. Ganz im Gegenteil - Wildhabers Kollegium verbucht einen stetigen Machtzuwachs. So demonstrierte etwa das Verdikt, beim Prozess gegen den zu lebenslanger Haft verurteilten Kurdenführer Abdullah Öcalan habe die Türkei rechtsstaatliche Standards verletzt, erst unlängst die weitreichenden Wirkungen solcher Entscheidungen: Dieser Spruch provoziert Verwerfungen in der Innenpolitik am Bosporus und zeitigt sogar Konsequenzen für die europäische Architektur, würde doch ohne eine von Nationalisten heftig befehdete Neuauflage des Verfahrens gegen Öcalan die von der Türkei erhoffte EU-Aufnahme in weite Ferne rücken.

Das Gewicht der Europarats-Richter wurzelt im Doppelcharakter ihrer Urteile. "Politische" Entscheidungen verkünden sie natürlich nicht, das widerspräche rechtsstaatlichen Prinzipien. Gleichwohl haben die Urteile nicht selten auch eine große politische Tragweite, jedenfalls bei brisanten Klagen. In der Türkei wären wohl kaum Reformen bei Polizei und Justiz eingeleitet worden, wenn der Menschenrechtsgerichtshof Ankara nicht häufig zu drastischen Schadensersatzzahlungen verdonnert hätte. In Italien kamen Neuerungen im chronisch schwerfälligen Justizwesen vor allem deshalb in Gang, weil Straßburg unzählige Male eine extrem lange Prozessdauer anprangerte.

Als die Europarats-Richter einer sterbenskranken Engländerin den ersehnten vorzeitigen Tod verweigerten, hatte dieser aufsehenerregende Spruch europaweit Auswirkungen auf die Debatte über Sterbehilfe - und bei ihrer Frühjahrssession verwarf die Parlamentarische Versammlung des Staatenbunds jedwede Liberalisierung der "Euthanasie".

Eine Lanze für die Pressefreiheit brach Wildhabers Runde, als sie sich bei einem Konflikt zwischen zwei ukrainischen Präsidentschaftskandidaten und einer dortigen Zeitung auf die Seite der Journalisten schlug: In einer Demokratie müssten Politiker auch polemische Medienkritik hinnehmen, die sie als "unwahr und ehrverletzend" empfinden.

Die Liste der Beispiele für die Machtfülle der Europarats-Richter ließe sich fortsetzen. Ausgerechnet aus der Bundesrepublik, wo bislang nur selten Verstöße gegen die Menschenrechtscharta zu rügen waren, weht neuerdings Gegenwind. Seit Ende vergangenen Jahres schwelt zwischen Karlsruhe und Straßburg ein Streit um die Frage, welcher der beiden Instanzen Vorrang gebührt.

Konflikt mit Karlsruhe

Besonders gefuchst hat die roten Roben das "Caroline-Urteil", mit dem Wildhabers Kollegium gegen den Protest von Journalisten- wie Verlegerverbänden in die Pressefreiheit eingriff und eine entgegengesetzte Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts aufhob: In Medien, so Straßburg, dürfen Prominente bei privaten Aktivitäten im öffentlichen Leben wie etwa beim Shopping oder beim Reiten am Strand nicht mehr ohne ihre Zustimmung abgebildet werden.

Den Konflikt um einen Sorgerechtsfall nahm Karlsruhe dann zum Anlass, den Kollegen vom Europarat bei einer Retourkutsche in die Parade zu fahren: Deren Urteile müssten zwar von hiesigen Gerichten bei der Rechtsprechung berücksichtigt werden, doch habe die Menschenrechtscharta hierzulande nur den "Rang eines Bundesgesetzes". Im Klartext: Das Grundgesetz steht im Zweifelsfall über der Straßburger Konvention. Hans-Jürgen Papier, Präsident in Karlsruhe, pflegt seither immer mal wieder nachzulegen: Der Straßburger Gerichtshof, fordert er, solle sich gegenüber der deutschen Rechtsprechung zurückhalten und sich auf Grundsatzfragen beschränken.

Ein solch offener Widerstand eines nationalen Verfassungsgerichts ist in der Geschichte des Europarats ohne Beispiel. Wie dieser Machtkampf ausgeht, ist offen. Luzius Wildhaber besteht jedenfalls darauf, dass die Straßburger Urteile vollzogen werden. Nach dem Contra aus Karlsruhe berichtete Wildhaber von Anfragen aus anderen Staaten, "ob man sich wirklich in allen Punkten an unsere Entscheidungen halten müsse".

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