*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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3.3.2.2    Wettbewerb und Entwicklungsländer

Die klassische Außenhandelstheorie des „komparativen Kostenvorteils“ folgert, dass freier Handel zu einer Steigerung der gesellschaftlichen Wohlfahrt für alle Handels­ partner führen würde. Deshalb werden Handel und Liberalisierung, transantionale Konzerne und internationale Institutionen als hilfreich zur Überwindung des Rückstandes und der Armut in Entwicklungsländern angesehen.

Die Gegenmeinung geht indes davon aus, dass nachhaltig positive Auswirkungen der Beteiligung am Handel und dem internationalen Wettberwerb einen gewissen bereits vorhandenen Stand der Entwicklung der heimischen Wirtschaft voraussetzen. Die früher verfolgte Spezialisierung von unterentwickelten Ländern auf Produktion und Export von unverarbeiteten Primärgütern verstärke ihre Abhängigkeit von schwankenden Weltmarktpreisen sowie das vorhandene Technologiegefälle. Diese Situation hemme eine Entwicklung, die zu einer höheren Produktivitätsentwicklung führt.37

Ob günstigere Erwartungen begründet seien, wenn im internationalen Wettbewerb ein Entwicklungsland den Zuschlag als dezentraler Produktionsstandort eines transnationalen Unternehmens zur Weiterverarbeitung industrieller Produkte erhielte, könne dahingestellt bleiben. Auf der einen Seite ließe sich argumentieren, dass transnationale Unternehmen im Rahmen ihrer globalen Wertschöpfungskette i.d.R. überall den aktuellen Stand der Technik einsetzen. Dieser erfordere eine Höherqualifizierung der lokalen Arbeitskräfte. Dadurch entstehen verschiedene positive Spill-over-Effekte in der lokalen Wirtschaft hinsichtlich Produktivität, Ausbildung, Arbeits- und Sozialstandards. Die Ausschöpfung dieses Potenzials durch die Entwicklungsländer gelingt umso besser, je höher bereits der Stand der heimischen Wirtschaft sowie der sozioökonomischen Infrastruktur ist. Im Idealfall eines „Wettbewerbs auf gleicher Augenhöhe“ komme es zu einer fairen Aufteilung der Außenhandelsgewinne auf die Beteiligten. Diese Entwicklung ergebe sich jedoch nicht zwangsläufig. Wie entwicklungspolitische Analysen zeigten38, komme die Realisierung der erwarteten „spill-over-Effekte“ nur unter günstigen Bedingungen zustande. Es bestehe die Gefahr, dass Projekte transnationaler Unternehmen keine weitergehenden Effekte auf die Gesamt­ ökonomie des betreffenden Landes ausüben, wenn deren lokale, regionale oder nationale Vernetzung so gering ausgeprägt ist, dass sie einen Entwicklungsprozess nicht zu tragen oder nur zu initiieren in der Lage sind.

Auch die Probleme der ökonomisch-politischen Vermachtung zeigen sich in besonderer Weise in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Multinationale Unternehmen, die in Entwicklungsländern agieren, haben dort in der Regel eine ungleich stärkere Position als in den OECD-Ländern. Auch wenn die grenzüberschreitenden M&A-Aktivitäten vor allem auf Unternehmen in den ent    wickelten Ländern konzentriert waren, ist doch auch in den Schwellenländern eine beträchtliche Merger-Aktivität zu verzeichnen, an denen hauptsächlich multinationale Unternehmen aus den Industrieländern beteiligt sind (Singh, Dhumale 1999; Singh 2001).

Die internationale Handelspolitik mit ihren Voraussetzungen von Meistbegünstigung, Gegenseitigkeit und Gleichbehandlung inländischer und ausländischer Firmen entspricht nach Meinung vieler Autoren (z.B. Ajit Singh und Walden Bello) nicht der Interessenlage der Entwicklungsländer.39 Sie wird als Ausdruck einer für Entwicklungsländer schädlichen Machtmanifestation (Singh) angesehen, dem durch ein „Special and Differential Treatment“ der Entwicklungsländer entgegen gewirkt werden könne: Letztlich geht es bei der Diskussion um das „Special and Differential Treatment“ der Entwicklungsländer darum, grenzüberschreitende Solidarität und die konstitutiven Elemente der Welthandelsordnung – Meistbegünstigung, Reziprozität und Inländerbehandlung – in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Ein Vorschlag, der in diese Richtung zielt, ist die von Pakistan auf der Ministerkonferenz von Doha eingebrachte Forderung nach einem Rahmenabkommen zum „Special and Differential Treatment“. Hier geht es darum, den Entwicklungsländern ihren Entwicklungsbedürfnissen entsprechende grund­ sätzlich abweichende Regelungen im Rahmen der WTO zu ermöglichen, so wie sie in der Präambel zur WTO mit der Erklärung von Marrakesch, als Bestandteil des GATT und auch bereits in der Havanna Charta enthalten waren. Die EU z.B. betreibt mit ihrer „Everything but Arms“-Ini­ tiative oder auch mit der Gewährung von Präferenzen an die AKP-Staaten nichts anderes als ein eigenes „Special and Differential Treatment“. Angesichts des Ausbleibens von Wohlstandserfolgen für zumindest ein Drittel der Menschen (Weltbank 2002) halten viele Entwicklungsländer im Rahmen der WTO befristete und degressiv ausgestaltete, entwicklungsförderliche Ausnahmen bei der Reziprozität und der Inländerbehandlung für erforderlich. Sie berufen sich dabei im Grunde auf das „Infant Industry“-Argument, das den heutigen Industrieländern erst ihre Entwicklung ermöglicht habe.

Dem wird entgegengesetzt, dass die Argumentationslinien von Singh und Bello für ein „Special and Differential Treatment“ auf eine markt- und wettbewerbskritische Grundhaltung zurückzuführen sind. Im Ergebnis wird den Entwicklungsländern nahe gelegt, Wettbewerb selektiv nur dort zuzulassen, wo ihnen dies vermeintlich vorteilhaft erscheint, im übrigen aber die Kartellierung und sons­ tige Wettbewerbsbeschränkung nicht nur zu erlauben, sondern sogar strategisch zu praktizieren. Die Gefahren einer solchen Strategie dürfen aber nicht übersehen werden: Neben dem letztlich nicht lösbaren Problem einer Definition der jeweils optimalen Wettbewerbsintensität muss bedacht werden, dass auch eine bloß zeitweilige oder auch nur teilweise Abschottung von Märkten Unternehmensstrukturen fördert, die an Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit verlieren und so das entwicklungspolitisch erwünschte Aufholen dieser Länder behindert.

Das viel zitierte „Level Playing Field“ ergibt sich gerade aus der grundsätzlichen Akzeptanz der gleichen Spielregeln von allen für alle. Dass sich im Wettbewerb Spieler unterschiedlicher Qualität messen (und dabei gegenseitig stimulieren), ist vorgegeben und gewollt, damit auch das Transparentwerden von Stärken und Schwächen. Wettbewerbspolitik, die richtig verstanden Rechtsrahmen setzende Ordnungspolitik ist, kann deshalb in Fragen des Regelwerks für alle nur in engen Grenzen „Special and Differential Treatment“ gewähren.

Eine wirksame Wettbewerbspolitik setzt zu ihrer Durchsetzung einen gefestigten Rechtsstaat voraus (so auch Singh). Hauptmanko einer Vielzahl von Entwicklungsländern sind aber eher zu schwache rechtsstaatliche und administrative Strukturen. Viele Entwicklungsländer haben bisher keine ausdifferenzierten Wettbewerbsordnungen entwickelt, keine wettbewerbspolitischen Institutionen aufgebaut und wünschen dies derzeit auch nicht.



37 Schon im 19. Jahrhundert hat Friedrich List für eine aktive Rolle des Staates im nachholenden Entwicklungsprozess plädiert. Zeitweise sollte es sogar möglich sein, eine „nationale Ökonomie“ gegenüber unerwünschten Weltmarkteinflüssen (durch Einführung von „Erziehungszöllen“) abzusichern (temporäre und partielle Dissoziation). Eine solche Strategie jedoch, die noch in den 70er Jahren viele Fürsprecher unter Entwicklungspolitikern fand, ist seit den 80er Jahren infolge der finanziellen Öffnung der meisten Entwicklungsländer (ein Effekt der Schuldenkrise) nicht mehr umsetzbar. Daher sind komplexere Entwicklungsstrategien, die sich weder einseitig auf den Markt und die durch ihn herbeigeführte globale Arbeitsteilung noch auf die staatliche Regulierung verlassen, erforderlich: Es geht letztlich darum, die gesellschaftlichen Ressourcen zur Steigerung der „systemischen“ Wettbewerbsfähigkeit zu mobilisieren.

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38 Dies betrifft vor allem die Analysen von Rosenstein-Rodan, Nurkse, Hirschman und in neuerer Zeit auch Krugman, die gezeigt haben dass Entwicklungsprozesse nicht zuletzt auf Koppelungseffekten („linkages“) und Ausstrahlungseffekten („spill-over“) beruhen (Krugman 1986).

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39 Allerdings projizieren diese Autoren jene Sachverhalte oft auf die Wettbewerbspolitik. Dieses Vorgehen ist allerdings systemwidrig.

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