*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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1 Einleitung

Warum beschäftigen wir uns mit der Globalisierung?

Was bringt den Deutschen Bundestag zur Beschäftigung mit der Globalisierung? Nun, die Globalisierung ist zu einem der wichtigsten politischen Themen geworden. Sehr viele politische Streitfragen unserer Tage haben einen direkten oder indirekten Bezug zur Globalisierung. Der Streit um die beste Strategie zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, über die Verschuldung von Entwicklungsländern, über die optimale Steuerpolitik oder über Klimaschutz und Atomausstieg, fast alles wird heute im Zusammenhang der Globalisierung gesehen und diskutiert. Selbst die rein ethisch erscheinende Frage über den Import embryonaler Stammzellen ist zu einem erheblichen Teil über die Frage des Standorts Deutschland in einer globalisierten Forschungslandschaft abgehandelt worden.

Kein Wunder, dass die Globalisierung zu einem Schlagwort mit höchster Medienwirksamkeit geworden ist. Und das Schlagwort ist ziemlich neu, wie aus der Abbildung1-1 hervor geht.

Mit der Globalisierung verbinden sich bei den Menschen in allen Erdteilen Hoffnungen und Ängste. Auffällig ist Folgendes: Wer Einfluss auf das globale Geschehen hat, spricht typischerweise positiv bis enthusiastisch über die Globalisierung. Wer sich machtlos und ausgeliefert fühlt, und das ist wohl die Mehrheit, bei dem überwiegen eher die Ängste. Ist das ein Wunder? Nein, es ist selbstverständlich.

Wenn aber die Globalisierung mehr Menschen in den Zustand oder die Stimmung versetzt, sich machtlos zu fühlen, dann muss in einer Demokratie reagiert werden. Das Tatsachenfeld sowie die realistischen Möglichkeiten der Mitgestaltung müssen zunächst durchschaut und beschrieben werden.

Am Anfang der politischen Erörterung der Globalisierung soll daher eine Verständigung darüber stattfinden, wo die historischen Wurzeln der Globalisierung liegen. Und wir sollten uns darüber einigen, was wir heute unter dem Wort verstehen.

Zum historischen Hintergrund

Der europazentrierte Welthandel war eine Vorläuferstufe der Globalisierung. Er hatte seinen Ursprung in den Jahrhunderten der (europäischen) Seefahrer seit den großen Entdeckungen, der Eroberung der „neuen Welt“ und der Bildung von Kolonien und erlebte im 17. Jahrhundert eine erste Blüte. Er war zunächst sehr einseitig und bestand in der Hauptsache aus einer Ausbeutung der Kolonien durch europäische Mächte. Auch der Sklavenhandel war zeitweise ein quantitativ wichtiger „Handelssektor“.

Erst im Zuge der Entstehung von Manufakturen und Industriebetrieben in Europa intensivierte sich der Austausch über die nationalen Grenzen, ja über die Ozeane hinweg und führte zu jener vertieften Arbeitsteilung, durch die die Spezialisierung und daher die Effizienz der Produktion aller Handelspartner gesteigert werden konnte. Im späten 19. Jahrhundert dominierten den Welthandel der Export von Industrieprodukten aus Europa und etwas später aus den USA sowie der Import von „Kolonialwaren“ und Rohstoffen nach Europa (und die USA). Damit wurde die bezüglich der Vorteilsverteilung sehr asymmetrische internationale Arbeitsteilung zwischen Nord und Süd bestätigt. Zugleich entwickelte sich aber ein blühender Handel innerhalb Europas und über den Nordatlantik.

Einen Einbruch des internationalen Handels bedeutete die Zeit der Weltkriege zwischen 1914 und 1945. Während der Weltwirtschaftkrise von 1929 bis etwa 1933 versuchten fast alle Länder vergeblich, ihre interne Krise durch Autarkiepolitik, also durch die Abwehr von Importen sowie durch Währungsabwertungen zu meistern. Die Abschottungskrise hat sicherlich einen Teil zu den anschlie-ßenden politischen Katastrophen in Deutschland und Europa beigetragen.

  

Nach den Schrecken des 2. Weltkrieges bestand ein breiter Konsens in den Industrieländern, dass der kriegerische Nationalismus überwunden und die Völkerverständigung durch aktive wirtschaftliche Verflechtung abgesichert werden müsste. Allerdings fand dies vor dem Hintergrund der zunehmenden Blockkonfrontation statt, die als politischer Kitt für die Westintegration diente.

Seit dieser Zeit kann man weltweit beobachten, dass die wirtschaftliche Verflechtung und der Ausbau des Außenhandels zu einem vorrangigen politischen Ziel wurden. Die weltweit treibende Kraft für eine zunächst atlantische, dann aber globale Weltordnung war dabei zweifellos die USA. Hier wurden noch vor Ende des 2. Weltkriegs bei der Konferenz von Bretton Woods 1944 die institutionellen Grundlagen für die künftige internationale Wirtschaftszusammenarbeit gelegt. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) wurden gegründet. 1946, bei der Konferenz von Havanna, wurde eine Internationale Handelsorganisation (ITO) als Motor für den Freihandel konzipiert und die Charta von Havanna beschlossen, mit ihrer Zielsetzung für die künftige Weltwirtschaftsordnung: Wohlstand, Frieden, Beschäftigung. Artikel 7 der Charta forderte ausdrücklich faire Sozialstandards! Sowohl die ITO wie die Charta scheiterten jedoch am Ratifizierungsverfahren im US-amerikanischen Kongress. Anstelle der ITO wurde dann das „schwächere“ Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT gegründet.

Das GATT wurde zwar zunächst als Provisorium betrachtet, übernahm aber immer mehr die Funktion eines multilateralen Rahmens für den internationalen Handel. In insgesamt acht „Runden“ des GATT wurden unter den Mitgliedsstaaten die Zölle in fast allen Marktsegmenten entscheidend gesenkt und nicht-tarifäre Handelshemmnisse abgebaut. Abbildung 1-2 zeigt den Erfolg der GATT-Runden bezüglich der Industriezölle.

Die politische Unterstützung für den Außenhandel sowie der technische Fortschritt beim Verkehr und der Kommunikation haben die wirtschaftliche Verflechtung der Staaten, Regionen und Erdteile immer enger werden lassen. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, dass – wertmäßig – über 80 Prozent des internationalen Handels zwischen den Industrieländern getätigt wird. Und davon ist wiederum der größte Teil Handel innerhalb der regionalen Wirtschaftszonen, insbesondere der EU. Die stark zunehmen-de Binnen-Verflechtung der Wirtschaftsregionen Europa, Nord-amerika und Japan/pazifischer Raum sowie deren geografische Erweiterung war vielleicht die stärkste Trieb-kraft bei der Zunahme des Handels.

Ins Gewicht fällt noch der Handel der Industrieländer mit den Schwellenländern einschließlich der ölexportierenden Staaten. Nur 15 Prozent des Welthandels spielt sich jedoch zwischen unterschiedlichen Erdteilen ab, und weniger als 3 Prozent des Welthandels berührt Afrika! Die hier sichtbar werdende Asymmetrie vergrößert sich dadurch, dass ein großer Teil der Exporterlöse der Entwicklungsländer für den Schuldendienst aufgezehrt wird.

Zollabbau, technischer Fortschritt und Handels-Deregulierung haben den Handel zunehmend rascher wachsen lassen als die Produktion, wie Abbildung 1-3 zeigt.

Den größten Sprung machte der Handel im Vergleich zum Wirtschaftswachstum in den 90er-Jahren, also dem Jahrzehnt, in dem man angefangen hat, über die Globalisierung zu sprechen. Zu dieser sprunghaften Entwicklung haben mehrere längerfristige Trends und zwei unvermittelt eingetretene Entwicklungen beigetragen.

Die Entwicklungsstränge, die zu dem neuen, als Globalisierung bezeichneten Phänomen geführt haben, sind:

–    der bereits in 1-2 dargestellte Abbau von Zöllen sowie von anderen Handelsbarrieren über die acht GATT-Runden; dabei hat die letzte Runde, die Uruguay-Runde von 1986–1994 mit der Einbeziehung von Dienstleistungen und geistigen Eigentumsrechten (Patente, Urheberrechte u.a.) – Stichworte GATS und TRIPs – eine gegenüber früheren Runden deutlich größere Auswirkung; die anschließende Gründung der Welthandelsorganisation WTO mit einer größeren Verbindlichkeit als GATT symbolisierte die Bedeutung der Uruguay-Runde;

–    der starke Anstieg der ausländischen Direktinvestitionen insbesondere in den 80er-Jahren;

  

–    die vornehmlich durch die USA und die EU voran getriebene Politik der Liberalisierung der Märkte einschließlich der Kapitalmärkte sowie der Trend zur Zurückdrängung des öffentlichen Sektors;

–    die Bildung regionaler Wirtschaftsblöcke, wobei die EWG – EG – EU den Anfang machte und anderen Weltregionen als Vorbild diente;

–    laufend abnehmende Transportkosten, vielfach durch die öffentliche Hand subventioniert.

Hinzu kamen mehr oder weniger plötzlich, aber für die immense Beschleunigung entscheidend,

–    der Zusammenbruch der Sowjetunion und des Comecon 1989/90 und damit das Ende des Systemwettbewerbs zwischen Ost und West;

–    die rasante Entwicklung und galoppierende Verbilligung der Kommunikation und die fast schlagartig einsetzende kommerzielle Nutzung des Internet (vgl. Abbildung 1-4).

Die Intensivierung des Welthandels hatte zwei Folgen, die die Globalisierungstendenzen entlang der Wertschöpfungsketten nochmals verstärkten.

Zum einen wurde auch die Produktion zunehmend globalisiert. Die Welthandelskonferenz (UNCTAD) zählt mittlerweile mehr als 63000 transnationale Konzerne und folglich einen breiten Strom von grenzüberschreitenden Direktinvestitionen. Die große Masse der Direktinvestitionen konzentriert sich auf die Industrieländer. Doch auch für Entwicklungsländer können Direktinvestitionen transnationaler Unternehmen ein wichtiger Teil für ihre Entwicklung sein. Generell hat die Globalisierung der Produktion jedoch ganz zweifellos zu einer Verschärfung des Anpassungsdrucks an globale Standards („benchmarks“) an den jeweiligen „Standorten“ geführt.

Zum anderen folgte der Intensivierung der Handelsbeziehungen die Herausbildung globaler Finanzmärkte. Zu-nächst entstanden diese im „Schlepptau“ der transnationalen Konzerne zur Finanzierung von Direktinvestitionen. Mit der Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte seit den 70er-Jahren aber konnten sich diese mehr und mehr verselbständigen, sodass die globalen Finanztransaktionen noch um ein Vielfaches schneller expandieren als Weltproduktion und Welthandel. In den späten 90er-Jahren wurden auf den Weltdevisenbörsen täglich bereits an die 1200 Milliarden US-Dollar gehandelt, wovon allenfalls 5 Prozent der Finanzierung von Handelsgeschäften und Direktinvestitionen dienten. Der große Rest ist Interbankenhandel.

  

Die Liquidität der globalen Finanzmärkte ist enorm gestiegen. Über die Wirkung gibt es unterschiedliche Auffassungen. Einerseits, so sagen manche, ist die hohe Liquidität ein Faktor der Stabilität, da Liquiditätsengpässe nicht zu Krisen führen müssen. Andererseits, so andere Stimmen, ist das liquide, zumeist höchst kurzfristige Kapital immer „auf dem Sprung“, dorthin transferiert zu werden, wo die kurzfristigen Renditen am höchsten sind. Diese so genannte „Volatilität“ macht langfristige Entwicklungsplanung in Entwicklungsländern schwierig, und auch für kleine und mittlere Unternehmen in den Industrieländern entstehen Probleme, da für sie die Liquiditätsbeschaffung zu langfristig kalkulierbaren Konditionen schwieriger geworden ist.

Finanzmärkte sind schon deshalb prinzipiell instabil, weil Anlageentscheidungen immer mit dem Risiko verbunden sind, dass die in der Zukunft unterstellten Erträge nicht zustande kommen. Schuldner geraten dann in Schwierigkeiten, zunächst in eine Liquiditätskrise, dann aber auch nicht selten in eine Insolvenzkrise. Die „Schuldenkrise der Dritten Welt“ in den 80er-Jahren hat vielen verschuldeten Ländern ein „verlorenes Jahrzehnt“ beschert; so charakterisiert die Wirtschaftskommission der UNO für Lateinamerika und die Karibik die Schuldenkrise lateinamerikanischer Länder. Die Finanzkrisen der 90er-Jahre haben nicht so viele Länder wie die Schuldenkrise ein Jahrzehnt zuvor betroffen. Dafür haben sie heftiger gewütet: in Mexiko 1994/95, in Asien 1997, in Russland 1998, in Brasilien 1999, in der Türkei 2000 und in Argentinien 2001/ü 2002. Die Weltbank schätzt, dass die Kosten der Krisen mehr als 20 Prozent des jeweiligen Sozialprodukts betragen haben.

Dies verweist schon darauf, dass finanzielle Stabilität ein „hohes öffentliches Gut“ ist, das durch geeignete Regeln zu bewahren ist. Denn seine Abwesenheit ist extrem teuer und die Kosten der finanziellen Stabilisierung sind höchst ungleich verteilt. Darauf kommen wir unten noch zurück.

Das Wort „Globalisierung“ hat viele Bedeutungen

Allzu überraschend ist es nicht, dass die genannten Faktoren zusammen genommen eine dramatische Veränderung der Weltlage mit sich gebracht haben. Was zeichnet die Weltlage aber aus? Was ist der Gehalt und was ist die Funktion des Wortes „Globalisierung“?

Die neue Lage hat einen äußerst tief greifenden Einfluss auf die Art des Wirtschaftens. Die elektronische und die stark verbilligte telefonische Kommunikation haben den Preisvergleich und die globale Disposition außerordentlich erleichtert. Hieraus ist zugleich eine erhebliche Verschärfung des Wettbewerbs entstanden. Da in vielen industriellen Gütermärkten die Produktionskapazität mittlerweile weit oberhalb der realen Nachfrage liegt, gestaltet sich der Wettbewerb mehr und mehr als Kostenwettbewerb. In diesem geben die international operierenden Unternehmen den Kostendruck oft noch verschärft an die zumeist kleinen, lokalen Zulieferer weiter.

Rücksichten auf Kultur, Umwelt und soziale Ausgewogenheit drohen unter dem Druck des Kostenwettbewerbs in den Hintergrund gedrängt zu werden. Und die internationale Arbeitsteilung geschieht streckenweise nach dem Gesichtspunkt, an welcher Stelle der Welt diese Rücksichten die geringste Rolle spielen! Die Verhandlungsposition der schwächsten Glieder der Weltgesellschaft und ihrer politischen Vertretungen ist bedrohlich unter Druck geraten. Auffallend und besorgniserregend ist die Tatsache, dass vielfach insbesondere Frauen zunehmend in neue, oft bedrohliche und entwürdigende Abhängigkeiten geraten.

Globalisierung wirkt zum Teil sehr ungleich auf die konkreten Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Frauen und Männern, wodurch insbesondere viele arme Frauen in Entwicklungsländern Gefahr laufen, sowohl kurz- als auch langfristig eher zu den Verliererinnen der Globalisierung zu zählen.

Gestärkt wurde dem gegenüber die Position der Kapitaleigner und des Managements. Die verstärkte Verhandlungsposition zeigt sich sowohl gegenüber Staaten und Parlamenten wie gegenüber den Gewerkschaften, der organisierten „Zivilgesellschaft“ und den Medien.

Aus der neuen Sachlage ergeben sich denn auch recht unterschiedliche Funktionen, ja Instrumentalisierungen des Wortes Globalisierung. Jenseits der zusammenfassenden Beschreibung der oben genannten neuen Phänomene dient das Wort auch für allerlei weitere Zwecke:

–    Führende Vertreter von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden verwenden das Wort seit etwa 1993, um auf den verschärften internationalen Wettbewerb hinzuweisen, der den Spielraum für Abgaben, Lohnsteigerungen, Bürokratiekosten, Sponsoring oder den Erhalt der Belegschaft ihrer Auffassung nach begrenzt. Das war der Kern der Anfang der 90er-Jahre anfänglich noch ohne das Wort Globalisierung gestarteten „Standort-Deutschland“-Kampagne.

–    Verbunden mit dieser Gedankenführung wird das Wort als Ansporn zu erhöhter Leistung angesichts verschärften Wettbewerbs eingesetzt. Insbesondere leistungsbezogene Auslese- und Anreizstrukturen im Bildungswesen und Arbeitsmarkt rechtfertigen sich gerne durch den Verweis auf die Globalisierung.

–    Die neoklassische Ökonomie stellt die verschärfte „Spreizung“ bei Arbeitsentgelten und Vermögenserträgen als eine Art wirtschaftsgesetzliche Folgeerscheinung der Globalisierung dar: die „Prämien“ für Pionierleistungen auf dem globalen Markt sind riesig, besonders wenn es zu zeitweiligen Monopolsituationen kommt („The winner takes all“); umgekehrt schwächt die Ersetzbarkeit einfacher und weniger stark nachgefragter Leistungen die Verhandlungsmacht ihrer Anbieter.

–          Globalisierungskritische Akteure fassen mit dem Wort die Gesamtheit dessen zusammen, was sie an der skiz-zierten Entwicklung als bedrohlich empfinden. Für sie ist die „Gesetzlichkeit“ der „Spreizung“ eine interessengesteuerte Behauptung, welcher man politisch begegnen muss, und sei es zu Lasten gewisser Gewinne an „Effizienz“.

  

–    Vertreterinnen und Vertreter von Entwicklungsländern weisen auf die scharfe Kluft zwischen Süd und Nord hin, die sich im Zuge der Globalisierung eher noch vertieft hat.

–    Die weltweite Vermehrung der Bevölkerung, die Zunahme des Konsums und die Globalisierung des Verkehrs sowie der Wirtschaftskreisläufe haben den Druck auf die globale Umwelt (z.B. Klima, Weltmeere) und auf eine Vielzahl von lokalen und regionalen Öko-systemen derart vergrößert, dass heute vielfach von einer globalen Umweltkrise gesprochen wird.

Für die Enquete-Kommission oder zumindest für die Mehr-heit ihrer Mitglieder dient das Wort mit allen seinen Facetten als Herausforderung für die soziale und ökologische Gestaltung des neuen Prozesses, nicht zuletzt auch für die Stärkung demokratischer Kräfte, die als Gegengewicht zu den Spreizungstendenzen wirksam werden können.

In der Arbeit der Kommission hat immer wieder die Frage eine Rolle gespielt, ob sich die verschiedenen Akteure unter den neuen Bedingungen verantwortlich verhalten. Von den Staaten wird immer wieder eine gute Regierung (good governance) eingefordert. Recht analog wird von den erstarkten international tätigen Unternehmen eine „good corporate governance“ erwartet. Die OECD hat hierzu Richtlinien erarbeitet, die nun in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden müssen.

Viele weitere Phänomene können der Globalisierung zugerechnet werden. Dazu gehören die Internationalisierung der Medien und der Internet-Kommunikation, des Tourismus sowie von Kultur und Wissenschaft ebenso wie die grenzüberschreitende Ausbreitung ökologischer Krisenerscheinungen und ansteckender Krankheiten. Die Etablierung des Englischen als globales Verständigungsmittel, die Vereinheitlichung der Konsumgewohnheiten und die Marginalisierung kultureller Minderheiten sowie die zunehmende Dominanz des US-amerikanischen Denk- und Rechtsstils in der Wirtschaft sind weitere Aspekte der Globalisierung. Nicht alle diese Aspekte ließen sich in den zwei Jahren seit der ersten Arbeitssitzung der Kommission analysieren. Manches hat gemäß dem Mandat der Kommission eine untergeordnete Rolle in der Kommissionsarbeit gespielt, anderes ist am Ende der jeweiligen Kapitel alskünftige Aufgabe vorgemerkt.

Es gibt Gewinner und Verlierer

Der Grund für die unterschiedliche Sichtweise der Globalisierung liegt hauptsächlich darin, dass es sowohl Gewinner als auch Verlierer gibt, und zwar sowohl innerhalb nationaler Volkswirtschaften als auch zwischen diesen.

Die Enquete-Kommission musste sich mit dieser Situation auseinander setzen. Dabei ergibt sich ein unvermeidlicher Intensitätsunterschied der Behandlung: Bei den Verlierern ist der politisch kompensatorische Handlungsbedarf naturgemäß größer als bei den Gewinnern der Globalisierung.

Was macht Firmen, Staaten, Kulturen oder Einzelpersonen zu Verlierern oder Gewinnern? Stark vereinfacht gesagt sind es Unterschiede bezüglich der Macht, des verfügbaren Kapitals sowie der Anpassungsfähigkeit. Die Globalisierung geht mit einer starken Beschleunigung des Strukturwandels einher. Länder, Unternehmen, Kulturen und Sozialschichten, die beim beschleunigten Strukturwandel nicht mithalten können und die weder über Macht noch Reichtum noch weltweit benötigte Ressourcen verfügen, sind in Gefahr, abgehängt zu werden und dann als definitive Verlierer da zu stehen. Gewinner sind umgekehrt diejenigen, die sich nicht nur rasch anpassen können, sondern womöglich die Richtung des Strukturwandels – zu ihren Gunsten – bestimmen oder mitbestimmen können.

Die Globalisierung ist natürlich kein „Nullsummenspiel“. Es ist zumindest nach der herrschenden Lehre anzunehmen, dass vermehrter Wettbewerb und zwischenstaatlicher Freihandel zur Vermehrung des Wohlstands führen. Dieser steht theoretisch für die Verteilung in aller Welt zur Verfügung.

Die Frage ist allerdings, wer von der Vergrößerung des Kuchens profitiert. Die Schwächung der Verhandlungsposition derer, die ohnehin die Schwächeren gewesen sind, führt dazu, dass die Verteilungsungleichheit zunimmt. Auch die Anpassungsfähigkeit ist zu einem erheblichen Teil eine Machtfrage. Wer muss sich an wen anpassen? Diese Frage wird von den Stärkeren meist gar nicht erst gestellt. Sie haben eine Tendenz, den Strukturwandel für naturgegeben bzw. rein technologiebedingt zu halten, obschon sie ihn durch ihre Prioritäten bei Forschung und Entwicklung wesentlich mitgestalten.

Ein weiterer Anlass zur Besorgnis und zu politischem Handeln resultiert daraus, dass in diesem Prozess auch allgemeine Werte und Prinzipien geschwächt oder unterminiert zu werden drohen. So etwa das demokratische Prinzip in Wirtschaft und Gesellschaft, die ökologische Nachhaltigkeit, die Menschenrechte, die soziale und Verteilungsgerechtigkeit, die kulturelle Vielfalt oder die Geschlechtergerechtigkeit. Sicher scheint zu sein, dass die Beschleunigung des Strukturwandels die mit Langsamkeit und Langfristigkeit einhergehenden menschlichen und sozialkulturellen Tugenden sowie der ökologischen Regeneration der Ökosysteme in Gefahr bringt.

Immer wenn es um Machtfragen und die Charakterisierung von Gewinnern und Verlierern geht, tun sich politische Kontroversen auf. Sie sind auch in der Enquete-Kommission nicht ausgeblieben. Die im vorliegenden Bericht in Kapitel 11 wiedergegebenen Minderheitenvoten legen hiervon Zeugnis ab.

Wir kommen auf diese Fragen alsbald zurück, wollen uns aber zuvor mit der spezifisch deutschen Situation befassen.

Deutschland ist seit den sechziger Jahren in kontinuierlich wachsendem Maße in die Weltwirtschaft – mit Schwerpunkt westliches und südliches Europa – eingebunden. Der seit den sechziger Jahren beobachtete Außenhandelsüberschuss ist ein zentrales Element der deutschen Erfolgsgeschichte. Er hat sich auch nach der deutschen Einheit nach einer kurzzeitigen Abschwächung fortgesetzt, wie Abbildung 1-5 zeigt.  

Selbst in Zeiten weltwirtschaftlicher Schwäche (z.B. 2001) blieb der Außenhandelsüberschuss erhalten, wobei die sich abzeichnende Osterweiterung als ein neuer Motor diente. Die deutsche Wirtschaft kann, so lässt sich dieses Bild lesen, insgesamt als Gewinner der Globalisierung angesehen werden.

Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in Deutschland zahlreiche Verlierer gegeben hat.

Aus Globalisierung und beschleunigtem Strukturwandel ergeben sich besondere Herausforderungen für kleine und mittlere Unternehmen. Dass sich die Politik um ihren Schutz und um Anpassungserleichterungen kümmern muss, hat die Enquete-Kommission ausführlich und weitestgehend unkontrovers diskutiert und in Empfehlungen zum Ausdruck gebracht.

Auch in Deutschland sind die Probleme der Firmen und die Wirkungen der Beschäftigungslage nicht die einzige Sorge. Die oben erwähnte Verschiebung von Macht und von Werten und Prinzipien ist auch in Deutschland ein politisches Thema von hoher Aktualität.

Wenden wir uns wieder der allgemeineren Frage der Verlierer und Gewinner zu. Plausibelerweise stehen die Kapitaleigner insgesamt eher auf der Gewinnerseite. Das Kapital ist strukturell besonders anpassungsfähig und gewinnt in der Globalisierung an Macht. Es ist äußerst mobil, insbesondere seit dem politisch herbei geführten Wegfall der meisten Kapitalverkehrskontrollen. Es kann sich die Orte und die Staaten weitgehend aussuchen, in denen es die höchsten Renditen erzielt. Die hohe Mobilität des Kapitals und korrespondierend dazu die eingeschränkte Mobilität der Arbeitnehmerschaft wirkt sich entsprechend negativ auf die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften aus. Die Globalisierung trägt also dazu bei, dass sich die Beziehungen der Tarifpartner zu Lasten der Arbeitnehmer verändern. Ihre Bindung an den jeweiligen Standort ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Dass der Globalisierung ein beträchtliches Bedrohungspotenzial inne wohnt, zeigt sich an der auch in Deutschland gang und gäbe gewordenen Praxis seitens der Unternehmerleitungen, ihren Belegschaften und Betriebsräten mit einer Verlagerung des Standortes ins Ausland zu drohen.

Aus der hohen Kapitalmobilität resultiert auch ein starker Druck auf die Staaten in ihrem Werben, in ihrer „Standortkonkurrenz“ um internationale Investoren. Als Ergebnis der gestärkten Verhandlungsposition des Kapitals gegenüber den Staaten beobachten wir eine systematische Senkung der Besteuerung des mobilen Kapitals. Das ist das Hauptmerkmal des Steuerwettbewerbs. Er kann als charakteristische Begleiterscheinung der Globalisierung angesehen werden.

Hoch kontrovers bleiben die Tatsachen der Steuerverlagerung und der Begünstigung des Produktionsfaktors Kapital und deren Bewertung. Daher wird mehrheitlich eine Harmonisierung der Gewinnsteuer, zunächst im Rahmen der Europäischen Union für dringlich gehalten.

Im Übrigen ist die Effizienz des Kapitaleinsatzes ohnehin nicht der einzige Maßstab für Vor- und Nachteile des Geschehens. Die Verteilung von Lebenschancen und die ökologische Situation sind nicht weniger wichtig. Und wir beobachten, dass sich weltweit der Abstand zwischen Arm und Reich laufend weiter vergrößert. Auf die Welt als Ganzes gesehen, hat sich der Abstand zwischen dem wohlhabendsten Fünftel und dem ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung in den letzten Jahrzehnten verdoppelt (vgl. 1-6).

Ein weiterer Aspekt der wachsenden Ungleichheit betrifft das Geschlechterverhältnis. Unter den Armen befindet sich weltweit ein weit überproportionaler Anteil von Frauen, nämlich 70 Prozent (UNIFEM 2000). Dem Gender Development Index (GDI) zufolge, der die Lebenserwartung und Bildungschancen sowie das preisbereinigte Pro-Kopf-Einkommen berücksichtigt, haben in keiner Gesellschaft der Welt Frauen die gleichen Chancen auf ein „gutes Leben“ wie Männer. Trotz der Selbstverpflichtung der Staatengemeinschaft auf zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebenssituation von Frauen in der Aktionsplattform von Peking (1995) ist eine Stagnation bzw. ein leichter Rückgang der Werte festzustellen (vgl. Abbildung 1-7).

Armut und Elend, zumal wenn sie (über die Globalisierung der Medien) mit unermesslichem Reichtum an anderer Stelle konfrontiert sind, können den Nährboden für ein   gewaltsames Auflehnen bilden, bis hin zu einer Mentalität, die den Terrorismus akzeptiert.

Allerdings hat die Vergrößerung des Abstands in den drei zurückliegenden Jahrzehnten recht unterschiedliche Grün-de gehabt. Manche lokale Verelendung hatte rein hausgemachte oder aber (in der Sahelzone) klimatische Gründe. Gerade in den afrikanischen Ländern wirken die Spät-Folgen der Kolonialisierung (willkürliche Grenzziehungen, Bürgerkriege, etc.). Daneben hat in den siebziger Jahren der sprunghafte Anstieg der Ölpreise in vielen Entwicklungsländern ohne eigene Ölvorkommen zu Wirtschaftseinbrüchen geführt.

Die insbesondere von der Weltbank und dem internationalen Währungsfonds als Rezept empfohlene oder durchgesetzte Exportorientierung von Entwicklungsländern hat, da sie in einer großen Zahl von Ländern gleichzeitig erfolgte, seit Anfang der achtziger Jahre zu einem Preisverfall insbesondere bei Rohstoffen geführt, was die Handelsrelationen (terms of trade) zu Ungunsten der meisten Entwicklungsländer deutlich verschlechterte. Dieser Effekt hat in den achtziger Jahren die Schere zusätzlich aufgerissen. Für viele Länder, besonders in Lateinamerika, die ihre Rohstofferschließung mit Krediten finanzierten, kam als verheerende Zuspitzung der Dollar-„Zinsschock“ von 1979 hinzu. Es trat eine Situation ein, in welcher die finanziellen Transfers aus dem „Süden“ in den „Norden“ zeitweise wesentlich höher waren als die gesamten Transfers durch Entwicklungshilfe!

Erst in den neunziger Jahren kann man die Zunahme des Abstands mit der Globalisierung in einen direkten Zusammenhang stellen. Das zusätzliche Aufklaffen der Schere steht zwar in einem ursächlichen Zusammenhang mit der in den vorstehenden Abschnitten skizzierten Machtverschiebung. Aber das bedeutet keineswegs, dass die Abkoppelung eines Landes aus der Internationalisierung dessen Lage verbessern würde. Wichtiger als die Frage der Weltmarktintegration scheint allerdings in allen Ländern die Frage der „good governance“, der für das Volk und für interne und externe Investoren guten Regierungsführung zu sein.

Mit diesen eher beschreibenden Worten ist natürlich noch wenig darüber gesagt, ob und welche Strategien es gibt, trotz der einseitig gewachsenen Macht des Kapitals im Rahmen der Globalisierung die Zahl der Gewinner wesentlich zu vermehren und die der Verlierer radikal zu verringern. Allerdings ist es nach aller historischen Erfahrung höchst unplausibel, dass dieses ohne eine politisch gewollte und durchgesetzte Kompensation der Machtverschiebung gelingen kann.

Der Staat schützt öffentliche Güter

Aus der durchaus kontroversen Charakterisierung von Gewinnern und Verlierern geht unter anderem hervor, dass die Marktwirtschaft nicht von alleine für das Wohl aller sorgt und sorgen kann. Es ist und bleibt die Aufgabe des Staates, für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen und sich um die soziale Lage der Menschen zu kümmern. Der Staat hat generell für die Sicherung und Finanzierung   der Rechts- und Sozialordnung und anderer „Öffentlicher Güter“ zu sorgen. Diese geraten teilweise durch den globalen Beschleunigungsdruck in Gefahr. Und ihre Finanzierung gestaltet sich schwieriger.

Der Begriff der Öffentlichen Güter ist nicht streng definiert. In der politikwissenschaftlichen Diskussion wird darunter u.a. verstanden: der Frieden, die Beachtung der Menschenrechte, eine intakte Umwelt (wobei das Klima und die globale Umwelt als globales Öffentliches Gut bezeichnet wird), soziale Gerechtigkeit, die durch den Rechtsstaat mit einem staatlichen Monopol gewährte persönliche Sicherheit, Teile der Infrastruktur sowie ein fairer Zugang zu derselben, die Bildung, die Pflege der Kultur und die Möglichkeit zur demokratischen Mitbestimmung. Zu den Öffentlichen Gütern gehört aber auch ein Mindestmaß an wirtschaftlichem Wohlstand.

Die Notwendigkeit der Pflege der Öffentlichen Güter durch den Staat nimmt durch die Globalisierung keineswegs ab. Ihre Sicherung wird jedoch unter dem Globalisierungsdruck schwieriger. Und der verschärfte wirtschaftliche Wettbewerb enthält Tendenzen der systematischen Vernachlässigung insbesondere der globalen Öffentlichen Güter.

In den USA und in breiten Kreisen der Wirtschaft hatte sich seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine bisweilen verächtliche Haltung gegenüber dem Staat ausgebreitet. Erst in jüngster Zeit, unter dem Eindruck eines bedrohlich gewordenen Verfalls der staatlichen Autorität in vielen Entwicklungsländern und manchen ehemaligen Ostblockländern sowie unter dem Eindruck der terroristischen Attacken vom 11. September 2001, wird vielerorts wieder eine stärkere Präsenz des Staates gefordert. Nicht gebessert hat sich hierbei aber die Finanzierungsperspektive vieler öffentlicher Aufgaben, nicht zuletzt auf kommunaler Ebene.

In der Gefährdung bzw. Vernachlässigung öffentlicher Aufgaben, Öffentlicher Güter liegt vielleicht die wichtigste Gefahr einer Globalisierung, welche sich hauptsächlich um die Mehrung der privaten Güter durch die globale Effizienzsteigerung dreht. Bei den Bemühungen um die Gestaltung der Globalisierung wird man in jedem Fall der Sicherung der Öffentlichen Güter hohe Priorität einräumen.

Um Fehlinterpretationen vorzubeugen, halten wir jedoch fest, dass eben auch ein breit verteilter privat verfügbarer Wohlstand im öffentlichen Interesse liegt. Ferner sei darauf hingewiesen, dass die Globalisierung einzelne Öffentliche Güter geradezu schützt und mehrt. Zum Beispiel scheinen Transparenz gegenüber Menschenrechtsverletzungen, die Verfügbarkeit moderner Umwelttechniken sowie demokratische Grundstrukturen durch die wirtschaftliche Verflechtung gestärkt zu werden.

Die Rolle des Staates erschöpft sich nicht in einer Pflege- und Schutzfunktion für Öffentliche Güter. Die politische Gestaltung und die internationale Politikkoordination gehö-ren weiterhin dazu. Im Kontext der Globalisierung ist hier zweierlei zu beachten:

–    Der globalisierungsbedingten Erosion des auf demokratischer Willensbildung fußenden Staates muss Einhalt geboten werden. Hierbei sind insbesondere Transparenz und neue gesellschaftliche Möglichkeiten zur Teilhabe erforderlich.

–    Die staatlichen Funktionen, insbesondere die Sicherung der Öffentlichen Güter müssen heute international begriffen und gestaltet werden. Die internationale Finanzmarktstabilisierung, die Sicherung oder Herstellung fairer Bedingungen auf Waren-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten sowie der Umweltschutz sind unwiderruflich Aufgaben, die den geographischen Rahmen des Nationalstaates sprengen.

Auch und gerade der Gestaltungsauftrag des Staates muss vermehrt im internationalen Raum gesucht werden. Alle Kapitel diesesBerichts handeln von diesem Auftrag in den unterschiedlichen Gegenstandsbereichen. Die gesellschaftspolitisch brisante Verschärfung des Ausleseprozesses ruft nach zumindest mildernden Eingriffen. Die Marginalisierung von Personengruppen – nicht zuletzt Frauen – mit unzureichendem Zugang zu Qualifikation, Bildung und modernen Geräten muss bildungs- und sozialpolitisch beantwortet werden. Der Raubbau an natürlichen Ressourcen muss eingedämmt werden.

Global Governance

Mit der Problembeschreibung konnte und wollte sich die Kommission nicht begnügen. Gesucht waren Lösungsansätze, die die wirtschaftlichen und politischen Vorteile der Globalisierung nicht in Frage stellen und geeignet sind, die aufgetretenen Ungerechtigkeiten und Gefahren zu überwinden oder zu mildern. Solche Lösungsansätze systematisch auszubauen und neue Lösungswege für globale Probleme zu finden, wird eine der größten Herausforderungen der Politik unter den Bedingungen der Globalisierung sein. Diese Aufgabe wird inzwischen mit dem Namen „Global Governance bezeichnet.

Global Governance weist in ihrer allgemeinen Form auf die Notwendigkeit zur politischen Gestaltung der Globalisierung hin. Deshalb wird Global Governance gelegentlich auch mit Globalpolitik oder Weltinnenpolitik übersetzt. Die Entwicklung solcher Ansätze ist zunächst einmal Aufgabe der Regierungen. Diese müssen sich durch vertragliche Vereinbarungen auf gemeinsame Rechtsnormen und Maßnahmen einigen. In vielen Fällen ist es erforderlich, auch internationale Sekretariate und Institutionen für die Verhandlungsbegleitung, und später für die Überwachung der Verträge einzurichten.

Alles, was wirklich globale Bedeutung hat, sollte im System der Vereinten Nationen untergebracht werden. Aber die Organisation der Vereinten Nationen, die UNO, ist bislang mit zu schwachen Mitteln ausgestattet, um ihrem Anspruch gerecht werden zu können. Allerdings muss das System der UNO auch strukturell reformiert werden, wenn es den in die Vereinten Nationen gesetzten Erwartungen gerecht werden soll.

Die Zahl der international anzupackenden Probleme hat ständig zugenommen. Folgerichtig nimmt die Zahl der internationalen Verträge und Organisationen laufend zu.   Abbildung 1-8 zeigt an einem für den Schutz Öffentlicher Güter wichtigen Beispiel die Zunahme von internationalen Umweltverträgen.

Allerdings kann man aus heutiger Sicht noch nicht von bedeutenden Erfolgen all dieser Verträge sprechen. Es sind ausgerechnet die Nationalstaaten, die sich nach Vertragsabschluss oft nur noch ungern an die eingegangenen Verpflichtungen erinnern lassen. Die Mühsal mit der Ratifizierung und Umsetzung des Kioto-Protokolls und der Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt sind vielleicht die bekanntesten Beispiele dafür. Das Thema globaler Umweltschutz zeigt auch eine institutionelle Schwäche im System der Vereinten Nationen. Längst hätte ein starker institutioneller Rahmen für den globalen Umweltschutz geschaffen werden müssen, wie er z.B. für Landwirtschaft (FAO), Gesundheit (WHO) oder Arbeit (ILO) seit langem existiert. Die Enquete-Kommission fordert deshalb die Aufwertung des heutigen Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) zu einer Weltumweltorganisation.

Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Global Governance sind regionale Staatenzusammenschlüsse. Das Vorzeigemodell hierfür ist die Europäische Union. In ihr ist bereits ein hohes Maß an Kompetenzverlagerung vom Nationalstaat auf die regionale Ebene erfolgt – nach dem Subsidiaritätsprinzip unter weitgehender Wahrung der nationalen, sub-nationalen und kommunalen Eigenheiten und Interessen.

Die EU hat auf verschiedenen Gebieten wichtige Schritte zur Gestaltung der Globalisierung im Interesse der Menschen und der Öffentlichen Güter getan:

–    Das Problem der Wechselkursinstabilität zwischen ü 12 EU-Mitgliedern wurde durch die Schaffung der Euro-Währungsunion gelöst.

–    Durch den Kohäsionsfonds und die Strukturfonds wurde ein Gegengewicht zum Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich geschaffen.

–    Durch gemeinschaftliche Richtlinien und ihr Engagement bei globalen Verhandlungen praktiziert die EU einen grenzüberschreitenden Umweltschutz.

–          Handelspolitisch drängt sie zunehmend auf das Beachten der Menschenrechte und sozialer Mindeststandards, so etwa im „Cotonou-Abkommen“ von 2001 über Entwicklungszusammenarbeit und Handel mit den afrikanischen, karibischen und pazifischen „AKP-Staaten“ sowie dem im Frühjahr 2002 verabschiedeten allgemeinen Zollpräferenzsystem (GPS).

Aus Europa, speziell aus Deutschland, stammt auch die Soziale Marktwirtschaft, die oft als Alternative zu einem auf dem reinen „Shareholder Value“-Prinzip fußenden Kapitalismus nach angelsächsischem Muster angesehen wird. Dass die Soziale Marktwirtschaft prägende Kraft für die EU – ja für ganz Europa – hat, wurde bereits vielfach und überzeugend dokumentiert. Hier unterscheidet sich die EU von anderen regionalen Wirtschaftsräumen wie NAFTA oder Mercosur. Abbildung 1-9 zeigt, dass die unterschiedliche Herangehensweise auch zu durchaus unterschiedlichen sozialpolitischen Zuständen geführt hat.

So vorteilhaft die EU im internationalen Raum dastehen mag, so sehr leidet auch sie unter einem massiven und von der kritischen Öffentlichkeit oft betonten Demokratiedefizit. Hier zeigt sich eine zentrale Herausforderung beim Ausbau einer Global Governance. Denn je größer der geographische Raum ist, auf den sich politische Entscheidungen beziehen, desto weiter ist die Entscheidungsebene von den Menschen entfernt und desto weniger autonom können nationale Parlamente entscheiden. Es muss dem Bundestag und seiner Enquete-Kommission darum gehen, Wege aufzuzeigen, wie auch in Zeiten der Globalisierung die Demokratie erhalten und gestärkt werden kann.

Für die globale Dimension sind praktikable Elemente demokratischer Vertretung noch nicht entwickelt. Es gilt, ihre Formen und Institutionen den globalen Bedingungen anzupassen. Viele Menschen fühlen sich bei den Verhandlungsrunden von demokratisch gewählten Regierungen über den Welthandel (etwa in Seattle), über die Zukunft der Europäischen Union (etwa in Göteborg) oder beim Weltwirtschaftsgipfel (etwa in Genua) nicht mehr vertreten. Auch Parlamente haben meistens nur geringen Einfluss auf Gegenstände und Ergebnisse der internationalen Verhandlungen.

  

Ein 105-köpfiger EU-Konvent, unter Beteiligung aller EU-Organe und der nationalen Parlamente, soll in den kommenden zwei Jahren Schlüsselfragen zur künftigen Entwicklung der Europäischen Union erörtern und beantworten helfen sowie einen weit gehenden Vorschlag für einen neuen EU-Vertrag bzw. eine mögliche Verfassung der EU erarbeiten. Ziel ist es, die innere und äußere Handlungsfähigkeit einer sich erweiternden Union in einer globalisierten Welt sicherzustellen und gleichzeitig auch die demokratische Legitimität und Transparenz der EU zu verbessern.

Global Governance muss zur Gewährleistung demokratischer Mitgestaltungsmöglichkeiten weit über die bis hier skizzierte konventionelle Regierungsdiplomatie hinaus reichen. Sie muss den konventionellen Dualismus zwischen dem Staat auf der einen und der Privatwirtschaft auf der anderen Seite überwinden. Die Globalisierung der Demokratie ist deshalb nicht realisierbar ohne eine weit gehende Einbeziehung einer dritten tragenden Kraft: der Zivilgesellschaft. Diese hat wie die Privatwirtschaft längst die nationalen Grenzen überwunden und agiert transnational. Ohne Kooperation mit einer organisierten Zivilgesellschaft, zu welcher insbesondere Gewerkschaften und Verbände, Nicht-Regierungs-Organisationen (Non-Governmental-Organisations; NGOs), Kirchen und Religionsgemeinschaften gehören, sind der Staat und die Staatengemeinschaft nicht in der Lage, die gefährdeten Öffentlichen Güter dauerhaft zu verteidigen. Tatsächlich ist die Zivilgesellschaft längst auf der internationalen Bühne präsent: 1-10 zeigt den rasanten Anstieg der Anzahl der internationalen NGOs seit Ende der siebziger Jahre.

Die Kirchen haben sich unüberhörbar in den Diskussionen um globale Gerechtigkeit zu Wort gemeldet, etwa mit der Erlassjahrkampagne für das Jahr 2000. Die Gewerkschaften spielen insbesondere bei der Gestaltung eines sozialen Europa eine konstitutive internationale Rolle. NGOs und soziale Bewegungen haben immer wieder die Möglichkeit, ihre Ziele zum Schutz öffentlicher Güter sowohl bei internationalen Verhandlungen als auch – über die öffentliche Meinungsbildung – in den Markt einzubringen. Hier entsteht ein zunehmendes Potenzial der politischen Teilhabe und Mitwirkung einzelner Bürgerinnen und Bürger an globalen Fragen. Mitwirkung ist das beste Mittel gegen Resignation.

Von Bedeutung ist ferner, dass die Globalisierung erhöhte Anforderungen an Frauen und Männer im Hinblick auf Mobilität, Bildung und Ausbildung stellt. Für die Gleichberechtigung von Frauen ist das von besonderem Belang.   Gut ausgebildeten Frauen eröffnen sich in der globalisierten Dienstleistungsgesellschaft neue Chancen. Andererseits haben Frauen weltweit die Hauptlast ökonomischer Wandlungsprozesse zu ertragen, wie Arbeitslosigkeit, ungleiche Arbeitsverhältnisse und die Schwächung staatlicher Transferleistungen (UNIFEM 2000). Zudem beschränkt die traditionelle Familienrolle besonders die Mobilität und Ausbildung von Frauen.

Hinsichtlich der Lösung einer globalen Gleichstellungspolitik für die Geschlechter stellten sich viele Fragen. Deshalb hat die Enquete-Kommission in ihrem Bericht Geschlechtergerechtigkeit („gender mainstreaming“) in allen Kapiteln berücksichtigt und sich in einem eigenen Kapitel mitdieser Problemstellung eingehend befasst.

Dem Staat kommt bei der Aktivierung der Zivilgesellschaft für die Ziele der Demokratie und für den Schutz ü der Öffentlichen Güter eine neuartige Rolle zu. Duldung oder Steuerbegünstigung (beim Nachweis entsprechender Zwecke nach der Abgabenordnung) reichen nicht aus. Von besonderer Wichtigkeit ist der freie Zugang zu Informationen, wie er in den USA Verfassungsrang hat. Für den im Globalisierungskontext wichtigen Bereich des Umweltschutzes ist in diesem Zusammenhang die Konvention von Aarhus 1998 bahnbrechend gewesen, die aber noch an der Schwäche eines auch in der EU äußerst schleppenden Ratifizierungsprozesses leidet.

Nicht weniger wichtig für eine gedeihliche Global Governance sind die privatwirtschaftlichen Akteure. Aus der Privatwirtschaft stammt schließlich der größte Teil des zur Verteilung kommenden Mehrwerts in Waren und Dienstleistungen. Es geht darum, die Berücksichtigung und Erhaltung der Öffentlichen Güter auch in der Privatwirtschaft stärker zu verankern. Ansätze hierfür gibt es bei der Entwicklung und Beachtung von Verhaltenskodizes – etwa der OECD – insbesondere für die global tätigen Unternehmen.

Die weltweite politische Gestaltung der Globalisierung – Global Governance – steht noch am Anfang. Das Abschlusskapitel dieses Berichts skizziert die Landkarte der Global Governance. Der Deutsche Bundestag wird sich nicht zuletzt mit diesem Kapitel auseinandersetzenmüssen.

Empfehlungen der Kommission und Ausblick

In den zehn Kapiteln dieses Berichts finden sich über 200 Handlungsempfehlungen. In der Mehrzahl haben ihnen alle Fraktionen und Mitglieder der Kommission zugestimmt. Manche, wie etwa Vorschläge zu einer stärkeren Regulierung der Finanzmärkte oder auch die Einführung einer Devisenumsatzsteuer, blieben kontrovers. Manche Empfehlungen gehen auch bewusst und deutlich über das hinaus, was heute in Deutschland und anderen Ländern Regierungshandeln ist. Die Kommissionsmehrheit ist von der Zuversicht getragen, dass sich in Deutschland, in Europa und der Welt zunehmende Unterstützung auch für die teilweise weiter gehenden Empfehlungen für Maßnahmen der sozialen, ökologischen und demokratischen Gestaltung einstellen wird.

Die Minderheitenpositionen zu den Texten und den Empfehlungen finden sich geschlossen am Ende des Berichts in Kapitel 11.

Die Arbeit am hoch aktuellen politischen Thema der Globalisierung ist noch in keiner Weise als beendet anzusehen. In den gut zwei Jahren, die zwischen der ersten Arbeitssitzung der Kommission und der Verabschiedung des Abschlussberichts lagen, konnte nur eine begrenzte Zahl der Fragen aus dem umfassenden Mandat bearbeitet werden, und auch diese nur mit einer gewissen Vorläufigkeit. Die Kommission hat am Schluss der jeweiligen Kapitel einvernehmlich die wichtigsten offen gebliebenen Fragen benannt. Dies betrifft sowohl Fragestellungen aus dem Einsetzungsbeschluss (Drs. 14/2350), die wegen der begrenzten Zeit nicht oder nicht ausreichend behandelt werden konnten, als auch neue Fragestellungen, die erst während der Arbeit der Kommission aufgeworfen wurden. Die Kommission empfiehlt dem neuen Bundestag, erneut eine Enquete-Kommission einzusetzen, die sich mit den hier benannten offen gebliebenen Fragestellungen beschäftigt.

Die Enquete-Kommission wünscht und hofft, dass die im Abschlussbericht dargelegten Ergebnisse ihrer Arbeit im politischen Raum ebenso wie in der Öffentlichkeit, auch im akademischen Rahmen, sowohl im Inland wie im Ausland aufgegriffen und erörtert werden.

  



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Abbildung 1-3








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Abbildung 1-8








































































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Abbildung 1-10