*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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4             Arbeitsmärkte1

   4.1          Ausgangslage und Perspektiven

In der öffentlichen Diskussion wird häufig die Grundsatzfrage gestellt, ob und in welchem Umfang die gewachsene Wirtschafts- und Gesellschaftskultur der „sozialen Marktwirtschaft“ in Deutschland zu Gunsten eines globalisierungsangepassten neuen Leitbildes einer reinen oder weitgehend deregulierten Marktwirtschaft aufgegeben werden muss.2

Die bisherige Entwicklung der deutschen Volkswirtschaft ist vor allem durch eine starke Industrieorientierung mit hohem Exportanteil sowie durch hohe Löhne bei zugleich hoher Produktivität gekennzeichnet. Typisch sind weiterhin eine eher korporatistische Arbeitsverfassung und Sozialpartnerschaft und die verhältnismäßig strenge Regulierung des Arbeitsmarktes nicht zuletzt durch eine noch immer hohe Bedeutung von Tarifverträgen. Allerdings nimmt die Tarifvertragsbindung insbesondere in den östlichen Bundesländern ab. In einigen Bereichen wurden auch Sozialstandards abgebaut. Die tägliche Arbeitszeit ist vergleichsweise kurz; infolgedessen sind Eigenarbeit weit verbreitet und persönliche Dienstleistungen weniger entwickelt. Die sozialen Differenzierungen sind –gemessen z.B. an den Verhältnissen in den angelsächsischen Ländern – relativ gering, das Niveau der sozialen Sicherung noch immer hoch. Als Schattenseiten wird die relativ hohe Abgabenbelastung des Faktors Arbeit angesehen, die zunehmend einseitig die abhängig Beschäftigten trifft. Dazu kommt eine im internationalen Vergleich geringe Erwerbsquote und eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit.

Gerade die soziale Marktwirtschaft verfügt jedoch über spezifische Produktivitätsreserven, die auch im globalisierten Wettbewerb mit Erfolg genutzt werden können. Eine Gesellschaft, die auf sozialen Ausgleich und Chancengleichheit achtet, kann letztlich ihr Humankapital besser entwickeln als eine zwangsläufig zur sozialen Segmentierung tendierende unregulierte Marktgesellschaft.

Die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft muss allerdings mit Blick auf die effizientere Nutzung des einheimischen Arbeitskräftepotenzials verbessert, der Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt flankierend begleitet und so das sozialstaatliche Modell gesichert werden. Folgende Aufgaben stehen in einem inneren Zusammenhang und können nur gemeinsam gelöst werden:

   Verbesserung der makroökonomischen Steuerung der Volkswirtschaft,

   Beseitigung des Rückstaus an öffentlichen Infrastrukturinvestitionen,

   Stärkere Anstrengungen in der Bildungs- und Qualifikationspolitik,

   Verbindung von Flexibilität und Sicherheit der Arbeitswelt einschließlich innovativer Formen der Arbeitszeitverkürzung,

   Schaffung neuer Beschäftigungschancen für die mutmaßlichen Verlierer der Globalisierung,

   Erhöhung der Frauenerwerbsquote

   Erweiterung der auf nationalstaatlicher Ebene weitgehend eingeschränkten arbeits- und sozialpolitischen Handlungsfähigkeit des Staates

Eine erfolgreiche Beschäftigungspolitik ist insbesondere von den makroökonomischen und demografischen Bedingungen in Deutschland abhängig, die im Folgenden kurz skizziert werden. Projektionen des Arbeitsmarktes für die nächsten Jahrzehnte sind zwar mit großen Unsicherheiten behaftet und setzen eine Vielzahl von Annahmen voraus (Hof 2001: 106 ff., Prognos 1998). Trotz aller Unwägbarkeiten darf man von folgenden Entwicklungen ausgehen:

Das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland wird wegen der Zuwanderung und der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen wahrscheinlich noch ca. zehn Jahre lang leicht zunehmen. In dieser Phase dürfte auch die Zahl der Erwerbstätigen – von Konjunkturschwankungen abgesehen – weiter leicht ansteigen. Auch künftig ist nicht mit „beschäftigungslosem Wachstum“ zu rechnen.

Das derzeit noch hohe gesamtwirtschaftliche Arbeitsplatzdefizit wird erst längerfristig abgebaut. In diesem Jahrzehnt dürfte der Abbau der Arbeitslosigkeit – sofern nicht wirksamer gegengesteuert wird – nur sehr langsam vonstatten gehen, weil zwar die Zahl der Erwerbstätigen steigt, aber auch das Erwerbspersonenpotenzial noch leicht zunimmt. Erst anschließend, wenn das Erwerbspersonenpotenzial zurückgeht, kann die Arbeitslosigkeit rascher abgebaut werden.

In etwa zehn Jahren ist aus demografischen Gründen mit einem deutlichen Rückgang des Arbeitskräftepotenzials zu rechnen. Zuwanderung kann diesen Trend zwar abmildern, aber nicht ausgleichen. Da der Wohlstand in Deutschland aber eng verknüpft ist mit einem hohen Beschäftigungsstand müssen dann noch stärker bis dahin im Arbeitsleben unterrepräsentierte Frauen und Ausländer ins Erwerbsleben einbezogen werden. Die Verknappung des Arbeitskräftepotenzials wird trotzdem möglicherweise als Wachstumsgrenze wirksam werden. Allein aus demografischen Gründen wird sich Vollbeschäftigung allerdings nicht automatisch einstellen, sondern nur dann, wenn es gelingt,    die dann vorhandenen Arbeitskräfte auf hohem Niveau zu qualifizieren. Wird dies versäumt, dann droht empfindlicher Arbeitskräftemangel bei gleichzeitig hoher struktureller Arbeitslosigkeit.

Daraus ergeben sich wichtige Schlussfolgerungen:

Wenn das Wirtschaftsgeschehen allein den Marktkräften überlassen wird, werden die Wachstumsraten nicht reichen, um den hohen Sockel der Arbeitslosigkeit abzusenken. Auch die demografische Entwicklung bringt in diesem Jahrzehnt keine Entlastung. Deshalb ist eine an einem hohen Beschäftigungsstand ausgerichtete Wirtschaftspolitik unerlässlich. Dazu gehören eine stärker beschäftigungsorientierte Makropolitik einschließlich einer nachhaltigen Belebung der öffentlichen Investitionstätigkeit, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Verbesserung der aktiven Arbeitsmarktpolitik insbesondere durch die Stärkung des (Weiter-)Bildungssektors sowie die Umverteilung der Arbeit durch eine neu konzipierte Politik der Arbeitszeitverkürzung. Auf keines dieser Elemente sollte verzichtet werden.

Weil sich die Entwicklung wahrscheinlich in zwei deutlich voneinander getrennten Phasen abspielen wird, kann es in der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik zu Zielkonflikten kommen, die nicht leicht aufzulösen sind. Kurz- und mittelfristig, so lange die bestehende Arbeitslosigkeit noch nicht abgebaut ist, wäre es wenig sinnvoll, das Arbeitskräftepotenzial zu erhöhen. Langfristig aber kommt es umso mehr darauf an, das Arbeitskräftepotenzial so weit wie möglich zu steigern. So wird es von besonderer Bedeutung sein, arbeitsmarktpolitische Strategien zeitlich richtig zu terminieren, so dass sie ihre Wirkung dann entfalten, wenn die Lage es erfordert und nicht dann, wenn es kontraproduktiv wäre.



1 Vgl. hierzu auch das abweichende Minderheitenvotum von der FDPFraktion in Kapitel 11.2.2.6.

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2 In diesem Sinne plädiert, um eine zugespitzte Position zu nennen, die Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1996/97).

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