*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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4.5.4.1    Immunisierung des Sozialsystems gegenüber dem Standortwettbewerb

Bei der Immunisierung geht es um Maßnahmen, die keiner internationalen Absprachen bedürfen, sondern auf der nationalstaatlichen Ebene getroffen werden können. Anders als die üblicherweise empfohlenen Anpassungsstrategien zielt die Immunisierung jedoch nicht oder jedenfalls nicht primär auf Senkung der Arbeitskosten und auf Deregulierung, sondern darauf, das Sozialsystem so umzugestalten, dass es von möglichen Abwanderungen oder Abwanderungsdrohungen der Eigentümer mobiler Produktionsfaktoren weniger tangiert und/oder vom Verteilungskonflikt zwischen Arbeit und Kapital unabhängiger wird. Es geht also hier nicht um Abbau, sondern Umbau des Sozialstaates.

Bemühungen, das Sozialsystem zu immunisieren, gehen von der Tatsache aus, dass die Systemkonkurrenz zwischen den Ländern primär darauf abzielt, die Kosten der immobilen Produktionsfaktoren – vor allem die Arbeitskosten – zu senken, um dadurch den Standort für die mobilen Produktionsfaktoren attraktiver zu machen. In dieser Situation, so die Überlegung, kann es sinnvoll sein, wenigstens das Sozialsystem vom Faktor Arbeit teilweise oder ganz abzukoppeln und auf diese Weise zu erreichen, dass die Kosten der sozialen Sicherung nicht auf die Lohnkosten durchschlagen und die Standortqualität beeinträchtigen.

In erster Linie käme hierzu in Betracht:

–   Spezielle Beitragsentlastung für niedrige Arbeitseinkommen, um die Auswirkungen der Kosten der sozialen Sicherung speziell für geringproduktive Arbeitsplätze zu neutralisieren.

–   Generelle Umfinanzierung der Sozialversicherungssys­ ­teme von Beitrags- auf Steuerfinanzierung und/oder Entlassung der Unternehmen aus der Beitragspflicht zur Sozialversicherung.

Zum ersten Punkt ist bereits in Kapitel 4.4.1Stellung genommen worden, und zwar in dem Sinne, dass solche Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen auf kurze und mittlere Sicht sinnvoll sein können, um zum Abbau der bestehenden strukturellen Arbeitslosigkeit beizutragen. Als Dauerregelung sind sie eine für Deutschland wenig sinnvolle Entwicklungsstrategie.

Bei der Umfinanzierung der Sozialversicherung steht die Überlegung im Vordergrund, dass der Nationalstaat inmitten der globalisierten Wirtschaft bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherung freier wäre und auch ein höheres Sicherungsniveau realisieren könnte, wenn die Sozialkos­ ten nicht unmittelbar die Arbeitskosten tangieren würden. Würden Sozialkosten entweder von den Arbeitnehmern allein oder – im Falle der Finanzierung über indirekte Steuern – von den Konsumenten getragen, dann wäre, so die Hoffnung, die soziale Sicherung standortneutral. Dieser Gesichtspunkte ist ernsthaft zu prüfen, jedoch sind erhebliche Relativierungen angebracht. Vor allem ist es wichtig, nicht nur einseitig in mikroökonomischer Perspektive die Kostenbelastung zu betrachten, sondern die Gesamtheit der Faktoren zu berücksichtigen, die auf die Wettbewerbsfähigkeit bzw. auf das Arbeitsmarktgeschehen einwirken. Zudem relativieren auch volkswirtschaftliche Überwälzungsprozesse die Effekte einer Umfinanzierung der Sozialversicherung. Von Bedeutung sind folglich vor allem zwei Zusammenhänge:

–   Es gibt keinen Beleg dafür, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands generell durch die Kostenbelastung mit Sozialbeiträgen beeinträchtigt wird. Denn zum einen kommt es nicht auf die Sozialbeiträge allein an, sondern auf die Lohnkosten insgesamt und auf ihre Relation zur Arbeitsproduktivität. Zum anderen liegt die deutsche Lohnstückkostenentwicklung international im Mittelfeld und wird im Übrigen offensichtlich, wie die Exportüberschüsse zeigen,    durch andere Faktoren der Wettbewerbsfähigkeit wie z.B. die Qualität der Produkte kompensiert. Außerdem zeigen empirische Studien, dass für das im international exponierten Sektor der Volkswirtschaft erreichbare Beschäftigungsniveau die Höhe der Abgabenquote nur eine geringe Rolle spielt (Scharpf 2002: 11f.).

–   Die Tatsache, dass die Sozialversicherungsbeiträge den Faktor Arbeit belasten, relativiert sich, denn es geht nicht um die juristische Zahlungsverpflichtung, sondern um die tatsächliche ökonomische Lastentragung, wobei Überwälzungsvorgänge zu berücksichtigen sind. Entgegen der landläufigen Lohnnebenkos­ tendebatte wären keine grundlegenden Änderungen zu erwarten, wenn die Sozialbeiträge statt auf den Löhnen auf den Gewinnen oder auch auf den Konsum­ ausgaben lägen. Eine höhere Belastung der Gewinne würde nach aller Wahrscheinlichkeit auf die Löhne oder auf die Preise überwälzt, und wenn die Sozialausgaben über indirekte Steuern finanziert würden, so könnte dies keinesfalls ohne Konsequenzen auf die Lohnhöhe bleiben.

Aus beidem folgt, dass die auf dem Faktor Arbeit liegenden Sozialkosten für die Standortqualität nicht so entscheidend sind, wie häufig vermutet wird. Deshalb wäre auch mit der Umfinanzierung der Sozialkosten die erhoffte Standortneutralität der sozialen Sicherung nicht oder jedenfalls nicht in dem erhofften Ausmaß erreichbar.




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