*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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6.2.4       Vereinbarkeit von Arbeit und Lebensgestaltung16

Das Aufrechterhalten des männlichen Ernährermodells ist kontraproduktiv, da es nicht mehr den realen Lebensbedingungen vieler Familien entspricht. Die veränderten Erwerbsmuster von Frauen sind nicht rückgängig zu machen. Notwendig ist vielmehr eine Anpassung des Systems an veränderte, moderne Gesellschaften. Neue Formen von Arbeitsgestaltung und Arbeitsorganisationen (Flexibilisierung, projektbezogene Arbeit, Anforderungen an Präsenzbereitschaft im Betrieb etc.) haben zur Folge, dass das Bild von traditioneller Arbeitsteilung längst verzerrt und die klassische Trennung von Arbeits- und Lebensspähre zunehmend aufgehoben wird. Daraus erwachsen einerseits neue individuelle Handlungsspielräume und Zukunftsoptionen, anderseits entstehen neue Zwänge zur Flexibilisierung und Ökonomisierung der Lebensorganisation. Bei den Auswirkungen auf die alltägliche Lebensgestaltung von Individuen und Familien geht es nicht mehr um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern insgesamt um das Thema „Work-Life-Balance“ – die Balance von Erwerbstätigkeit und privater Lebensführung in alltagspraktischer und berufsbiographischer Perspektive. Die Entstrukturierung gesellschaftlicher Abläufe, die individuell zu bewältigende Intensivierung von Arbeit und Aufgaben und die zunehmenden räumlichen und zeitlichen Mobilitätsansprüche stellen Individuen und Familien vor ganz neue Probleme.

Die Erhöhung der Frauenerwerbsquote ist aufgrund der längerfristigen Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials und im Hinblick auf die demografische Entwicklung in Deutschland von großer Bedeutung. Diese Zusammenhänge haben auch in der öffentlichen Diskussion bereits zu einem Umdenken geführt. Eine Schlüsselfunktion bei der Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit spielt die Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, damit Männer und Frauen Beruf und Familie besser vereinbaren können (vgl. Kapitel 4.4).

Neben Belgien, Dänemark und Frankreich sind die Niederlande, Norwegen und Finnland zu „Pionierländern“ geworden, in denen eine forcierte Enttraditionalisierung der familiären Arbeitsteilung beobachtet werden kann (Goldmann 2002). Vergleicht man die Situation in den europäischen Ländern, so zeigt sich, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Frauenerwerbsquote und der Zahl der Kinder existiert. Die nordischen Länder, die seit langem egalitäre Erwerbsmuster institutionell unterstützen, haben eine hohe Erwerbsquote und eine hohe Geburtenrate (z. B. Finnland 1,7; Dänemark 1,75; Schweden 1,7 (Eurostat 2001), während die südlichen Länder mit einer niedrigen Frauenerwerbsquote in den letzten Jahren einen drastischen Rückgang der Geburtenzahlen zu verzeichnen haben. So fielen etwa die Geburtenraten in Spanien von 1,56 in 1986 auf 1,15 in 2000 und in Portugal von 1,66 (1986) auf 1,44 (2000). Die Geburtenrate in Deutschland liegt mittlerweile auf einem Tief von 1,4. Es besteht weiterer Forschungsbedarf zur Frage, welche Konsequenzen neue Arbeitsformen und die Veränderungen im Verhältnis von Erwerbsarbeit und Arbeit in anderen Lebensbereichen für beide Geschlechter haben, welche neuen Inklusions- und Exklusionsprozesse sich damit verbinden und welche Konsequenzen daraus für eine moderne wohlfahrtsstaatliche Politik auf europäischer sowie internationaler Ebene resultieren.

Ein wichtiges Thema in einer Folge-Enquete-Kommission in der nächsten Legislaturperiode sollte sich mit der Frage beschäftigen, inwieweit die Beschleunigung von wirtschaftlichen Prozessen auch gesamtgesellschaftlich eine Erhöhung des Zeitdrucks nach sich zieht und damit bestehende Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern weiter vertieft werden. Dies zeigt sich beispielsweise in Führungspositionen, in denen die unterschiedlichen zeitlichen Anforderungen von Beruf und Familie schwieriger zu vereinbaren sind.

Aber der erste Schritt auf dem Weg zu einer anderen Prioritätensetzung in der globalen Ökonomie ist ein verändertes Verständnis von Ökonomie und Politik.



16 Dieses Kapitel basiert auf einem Gutachten von Goldmann (2002).

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