*) Eingesetzt durch Beschluss des Deutschen Bundestages vom 15. Dezember
1999 - entspricht der Bundesdrucksache 14/2350

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9.2.1.2    Indirekte Einflussfaktoren auf das Bevölkerungswachstum

Indirekte Faktoren

Die Verwirklichung der vorgenannten Potenziale hängt von den indirekten Einflussfaktoren ab, zu denen u.a. Armut im weitesten Sinne – insbes. geringe formale Bildung und Gesundheitsversorgung –, Kultur, Religion, rechtliche und politische Rahmenbedingungen, Grad der Urbanisierung sowie Diskriminierung von Mädchen und Frauen gehören. Der Einfluss dieser indirekten Faktoren auf die Bevölkerungsentwicklung lässt sich schon im Hinblick auf ihre komplexe Interdependenz schwerlich quantifizieren. Der Stand der Forschung lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Die besondere Bedeutung von Familienplanungs­ diensten

In den letzten Jahrzehnten ist die durchschnittliche Kinderzahl in allen Entwicklungsregionen gefallen, wobei diese Entwicklung in Afrika nur sehr viel langsamer verläuft. Parallel dazu greifen immer mehr Frauen und Männer auf moderne Verhütungsmittel zurück. Diese beiden Entwicklungen hängen kausal zusammen. Verschiedene umfangreiche Analysen kommen gleichermaßen zu dem Ergebnis: das Sinken der Geburtenrate in Entwicklungsländern ist allen verfügbaren Untersuchungen zufolge fast ausschließlich auf erhöhte Anwendung von Familienplanungsmethoden zurückzuführen (z.T. geht die verringerte Fertilität auch auf erhöhte Abtreibungszahlen zurück).

Änderung der Fertilitätspräferenzen

Eine qualitative und quantitative Verbesserung des entsprechenden Angebots und Zugangs zu Familienplanung reicht nicht aus, um eine Stabilisierung der Bevölkerungszahl zu erreichen, da Familienplanungsangebote haupt­ sächlich auf die Verringerung der Zahl ungewollter Schwangerschaften und Zeitpunkt sowie Abstand zwischen den Geburten (“spacing”) wirken. Erst bei durchschnittlich zwei Kindern je Paar (Ersatzniveau der Fertilität 2,1) ist eine Stabilisierung der Weltbevölkerungszahl langfristig möglich. Die von den Eltern gewünschte Kinderzahl liegt in zahlreichen Entwicklungsländern (noch) oberhalb dieses Niveaus. Darum ist für eine Verwirklichung der mittleren UN-Projektion und    eine Stabilisierung der Weltbevölkerungszahl zusätzlich eine weitere Veränderung der Fertilitätspräferenzen Voraussetzung, die nur begrenzt durch Familienplanungsprogramme erreicht werden kann.

Sinkende Fertilitätspräferenzen beeinflussen nicht nur die Nachfrage nach Familienplanung und, soweit Familienplanung nicht verfügbar ist, nach Abtreibung; vielmehr hat umgekehrt erhöhte Familienplanungspraxis offenbar (Rück-) Wirkungen auf die durchschnittlichen Fertilitäts-präferenzen (Cleland 2002: 8f.). Das hängt auch damit zusammen, dass mehr Familienplanung auch unmittelbar Verbesserungen der Gesundheit und eine Reihe anderer sozioökonomischer Indikatoren bewirkt.3

„Die Bereitstellung flächendeckender Familienplanungsangebote stellt eine der vielversprechendsten Investitionen in das gegenwärtige und zukünftige Wohlergehen der Menschen dar.“ UNICEF

Bildung

Formal weniger gebildete Menschen haben nicht nur in Entwicklungsländern in der Regel mehr Kinder. Dabei steht ein höherer Bildungsgrad der Mutter stärker in Zusammenhang mit geringerer Kinderzahl als ein höheres Bildungsniveau des Vaters (Cleland 2002: 8f.). Darum wurde lange Zeit meist als erwiesen unterstellt, dass sich die Verbesserung des Bildungsniveaus – insbesondere dasjenige von Frauen – auch stark fertilitätsmindernd auswirkt (Gelbard, Haub 1999: 25), und dies prägt bis heute die entwicklungspolitische Debatte. Mehrere neue­ re empirische Untersuchungen hingegen belegen, dass die Verbesserung der statistisch erfassbaren Bildung keineswegs generell und überall unabdingbare Vorbedingung für einen starken Rückgang der Fertilität ist und dass die Wirkung vermehrter Bildung stark kontextabhängig ist. Die engste nachweisbare Verbindung zwischen Grad der Bildung und der Fertilität ist die Nutzungsquote von Kontrazeptiva: höher gebildete Frauen nutzen häufiger Verhütungsmethoden und haben i.d.R. weniger Kinder. Dabei ist die Verbindung zwischen Bildung und Verhütung nicht    monokausal, sondern interdependent verknüpft und von weiteren Faktoren beeinflusst. Höhere Bildung geht in der Regel mit höherem Einkommen einher. Menschen mit höherem Bildungsniveau wohnen überproportional oft in Städten, wo der Zugang zu Mitteln und Maßnahmen für Familienplanung einfacher ist. Dort haben Menschen in Entwicklungsländern schon bei niedrigerem Bildungs- und Einkommensniveau durchschnittlich geringere Kinderzahlen als Menschen mit vergleichbarem Einkommens- und Bildungsniveau im ländlichen Raum. Selbst wenn wegen der Komplexität der Zusammenhänge die kausale Beziehung zwischen Bildung und Kinderzahl in der Bevölkerungswissenschaft hinterfragt wird, ist eine bessere Bildung von Mädchen und Frauen auch bevölkerungspolitisch geboten.

Heiratsalter

Aus welchen Gründen auch immer – je später im Leben ein Mädchen/eine junge Frau ihr erstes Kind bekommt, umso weniger Kinder bekommt sie im Laufe ihres Lebens insgesamt (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung 1998b: 25). Dem entspricht, dass kulturelle Traditionen, die eine frühe Heirat begünstigen, einer Verringerung der Geburtenrate entgegenwirken. (Vermutlich ist der Zusammenhang jedoch komplizierter und keine monokausale Verbindung. Lebendige kulturelle Traditionen sind oft Ausdruck einer insgesamt geringeren „Modernisierung” im westlichen Sinn, die sich auch in Fertilitätspräferenzen, Situation von Frauen usw. ausdrückt und in der Summe Einfluss auf Fertilitätspräferenzen und Zugang zu Familienplanung haben kann.) Die Bedeutsamkeit des Faktors frühe Heirat ist jedenfalls gut belegbar, z.B. im arabischen Raum, wo die durchschnittlichen Kinderzahlen von ungefähr sechs in den letzten Jahrzehnten in einigen Ländern auf unter drei, in anderen jedoch fast überhaupt nicht gefallen sind: der vollkommen unterschiedliche Rückgang korreliert stark mit Unterschieden bei der Heraufsetzung des Heiratalters im Zusammenwirken mit anderen bevölkerungspolitischen Maßnahmen (Gelbard, Haub 1999: 22f.). Im Übrigen ist der Einfluss kultureller Traditionen zu komplex, als dass sich zu ihrer Bedeutung für die Bevölkerungsentwicklung quantitative Aussagen belegen ließen. Es ist jedoch kaum bestreitbar, dass traditionelle Wertvorstellungen in Entwicklungsländern die Fertilitätspräferenzen und die Möglichkeiten von Frauen, ihr Recht auf reproduktive Selbstbestimmung auszuüben, beeinflussen.

Wirkungen auf Familienebene

Je höher die Anzahl der Kinder in einer Familie, umso schlechter ist auch der Gesundheitszustand der Kinder, wobei diese negativen Folgen Mädchen infolge ihrer Diskriminierung i.d.R. überproportional treffen (O‘Neill, MacKellar, Lutz 2001: 101). Bei späterem Gebäralter, größerem Abstand zwischen den Geburten und geringerer Kinderzahl je Familie sind die Mütter-, Kinder- und Säuglingssterblichkeit in Entwicklungsländern geringer, und dies gilt unabhängig von der Versorgung mit sauberem Trinkwasser, Bildungsgrad der Eltern, dem Wohnort (Stadt oder Land) usw. (Leisinger 1999: 101). Darum besteht weitgehende Einigkeit, dass eine Ausdehnung der Familienplanung von herausragender Bedeutung für die Verbesserung der Gesundheitssituation in Entwicklungsländern und für die Situation von Frauen und Mädchen in allgemeiner Hinsicht ist (O’Neill, MacKellar, Lutz 2001: 101, Global Health Commission 2001: 16, Leisinger 1999: 101).

In den meisten Ländern, in denen sich hohes Bevölkerungswachstum mit anderen Erscheinungsformen von Armut paart, ist das öffentliche Gesundheitswesen bereits heute überfordert. In einer zunehmenden Zahl afrikanischer Länder ist zudem in Folge der Ausbreitung von HIV/AIDS ein Zusammenbruch des Gesundheitswesens absehbar; mittelfristig ist auch für andere Weltregionen wie z.B. Asien eine rapide Ausbreitung der Pandemie zumindest nicht auszuschließen.4 Die fürchterlichen Folgen für alle gesellschaftlichen Bereiche sind in immer mehr der am stärksten von HIV/AIDS betroffenen Länder bereits ersichtlich. Die Belastungen des Gesundheitswesens durch HIV/AIDS summieren sich in immer mehr Ländern mit den durch hohes Bevölkerungswachstum steigenden Belastungen und mit weiteren Erschwernissen für eine Verbesserung der Gesundheitssituation. Hinzu kommt der steigende Anteil alter Menschen an der Weltbevölkerung; auch diese demographische Veränderung hat global weitreichende belastende Folgen für das Gesundheitswesen.



3 Dazu Shane 1997: 21.

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4 Vgl. dazu u. a. Garrett 2000: 475; vgl. ferner UNAIDS 2001: 13f.

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Abbildung 9-1