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15. Wahlperiode
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   5. Sitzung

   Berlin, Donnerstag, den 1. Dezember 2005

   Beginn: 9.00 Uhr

   * * * * * * * * V O R A B - V E R Ö F F E N T L I C H U N G * * * * * * * *

   * * * * * DER NACH § 117 GOBT AUTORISIERTEN FASSUNG * * * * *

   * * * * * * * * VOR DER ENDGÜLTIGEN DRUCKLEGUNG * * * * * * * *

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Die Sitzung ist eröffnet.

(Ludwig Stiegler (SPD): Guten Morgen, Herr Präsident!)

Einen wunderschönen guten Morgen!

   Ich habe gleich zu Beginn eine besonders erfreuliche Mitteilung zu machen. Der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber feiert heute seinen 70. Geburtstag.

(Beifall)

Er ist nicht nur einer der mit weitem Abstand dienstältesten, sondern darüber hinaus auch einer der nettesten und beliebtesten Kollegen im Hause.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Kombination ist schon aus statistischen Gründen besonders selten. Deswegen möchte ich ihm zu diesem besonderen Anlass meine persönlichen Glückwünsche und gleichzeitig die Gratulation des ganzen Hauses aussprechen.

   Bevor wir in die Tagesordnung eintreten - - Die Verwaltung ist Gott sei Dank schnell genug, um übersehene Ereignisse rechtzeitig nachzuholen. Ich werde nämlich gerade darauf aufmerksam gemacht, dass die Kollegin Petra Sitte ihren 65. Geburtstag feiert.

(Beifall - Zurufe)

- Entschuldigung, es ist der 45. Geburtstag.

(Heiterkeit)

Frau Kollegin Sitte, wir werden ein geeignetes Verfahren finden, um diesen Fauxpas wieder auszugleichen, zumal dafür Wahlgänge nicht erforderlich sind.

   Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, begrüße ich den Kollegen Hermann Josef Scharf sehr herzlich, der gestern für den ausgeschiedenen Kollegen Peter Müller die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat.

(Beifall)

   Ich möchte noch auf eine Änderung des zeitlichen Ablaufs der heutigen Tagesordnung aufmerksam machen. Interfraktionell ist vereinbart, den Themenbereich Kultur mit den Themenbereichen Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zu tauschen,

(Ute Kumpf (SPD): Verbinden! - Volker Kauder (CDU/CSU): Esskultur!)

gemäß der berühmten brechtschen Parole: „Erst kommt das ... “ - Sie wissen schon -„ und dann die Moral.“ - Ich sehe, Sie sind mit dieser Vereinbarung einverstanden. Dann verfahren wir so.

   Wir setzen die Aussprache zur Regierungserklärung der Bundeskanzlerin fort und ich rufe daher Tagesordnungspunkt 1 auf:

Regierungserklärung der Bundeskanzlerin

mit anschließender Aussprache

   Ich erinnere daran, dass wir gestern für die heutige Aussprache zehn Stunden vereinbart haben. Wir beginnen heute mit dem Bereich Wirtschaft.

   Außerdem rufe ich den Zusatzpunkt 2 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Thea Dückert, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Hongkong als Zwischenschritt einer fairen und entwicklungsorientierten Welthandelsrunde

- Drucksache 16/86 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Michael Glos.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ziel der Bundesregierung für diese Legislaturperiode ist eindeutig: Wir wollen, dass wieder mehr Menschen Arbeit in Deutschland haben. Dazu brauchen wir wirtschaftliches Wachstum. Um wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen, brauchen wir geeignete Rahmenbedingungen und vor allen Dingen wieder mehr Zuversicht bei den Menschen. Nur Wachstum, das über die Beschäftigungsschwelle hinausgeht - wir hoffen, dass die Beschäftigungsschwelle durch die Maßnahmen, die die Bundesregierung insgesamt trifft, auf 1 Prozent gesenkt wird -, bringt neue Arbeitsplätze.

Wir müssen also dem Trend sinkender Wachstumsraten entgegentreten. Mit einem durchschnittlichen Wachstum von 1 Prozent in den vergangenen fünf Jahren sind wir nur halb so schnell gewachsen wie der OECD-Durchschnitt. Unser Ziel ist es, das aufzuholen.

   Das reicht natürlich nicht, um den Arbeitsmarkt insgesamt wieder flottzumachen. Wir müssen darüber hinaus Maßnahmen ergreifen. Diese werden wir auch im Laufe der Legislaturperiode nacheinander angehen. Nicht nur das, was im Koalitionsvertrag steht, wird gemacht. Ich hoffe vielmehr, dass das gute Klima, das sich zwischen den großen politischen Kräften entwickelt hat, dazu beiträgt, dass man mehr machen kann, und zwar insbesondere dort, wo es kein Geld kostet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Die größte Hypothek, gegen die wir ankämpfen müssen, ist die Tatsache, dass es bei uns im Land Zukunftspessimismus gibt. Diesen Zukunftspessimismus müssen wir überwinden. Es geht auch darum, die öffentlichen Haushalte zu sanieren. Denn wenn wir der jungen Generation immer mehr Schulden hinterlassen, dann schafft das nicht Optimismus, sondern Pessimismus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich bin, wie selten ein Wirtschaftsminister zu Beginn seiner Amtszeit, in der glücklichen Lage, dass ich heute sagen kann: Wenn das stimmt, was mir auf den Tisch geweht worden ist, dann haben wir das erste Mal seit zehn Jahren einen November, der eine steigende Erwerbstätigkeit und keine Zunahme der Arbeitslosigkeit mit sich gebracht hat.

(Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Na so was! Da haben Sie aber schnell gearbeitet!)

- Natürlich arbeiten wir schnell, gnädige Frau.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

Es hilft nichts; das müssen wir auch.

   Jetzt könnte ich zwar sagen: Dieses Ergebnis lag an dem günstigen Wetter im November, in dem es sonst oft schon kalt ist. Aber ich erinnere mich an die Zeit nach der ersten Wahl der rot-grünen Koalition, als der Bundeskanzler sagte, der Aufschwung, der ein Vierteljahr vorher eingesetzt hatte, sei sein Aufschwung. Jetzt haben wir eine breite Regierungsmehrheit. Seitdem gibt es im Land auch einen Aufschwung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir müssen insgesamt eine verlässliche Politik gestalten. Nur mit einer verlässlichen Politik, mit immer wieder konkreten Schritten lässt sich unser Land sanieren und reformieren. Dann wird auch wieder investiert. Das hat gestern auch Frau Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung dargelegt.

   Wir brauchen wieder eine solide finanzielle Basis. Wir müssen die öffentliche Neuverschuldung 2007 unter die 3-Prozent-Grenze des Maastricht-Vertrages drücken. Das wirkt natürlich darauf, welches Vertrauen unserem Land entgegengebracht wird und wie sich zum Beispiel die Zinsen bzw. das Rating deutscher Anleihen entwickeln. Auch das ist ungeheuer wichtig für unsere Zukunft.

   Sanieren allein reicht zur Stärkung der Wachstumskräfte nicht aus. Wir brauchen auch Reformen der sozialen Sicherungssysteme. Wir müssen also weiter an der Flexibilisierung und Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen arbeiten und dabei verstärkt Maßnahmen ergreifen, die keine zusätzlichen Haushaltsmittel binden, sondern da reformieren, wo es nichts kostet.

   Schließlich brauchen wir wieder mehr Investitionen. Nur so werden wir es schaffen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft zu stärken. Um die Wachstumsschwäche zu überwinden bzw. die Wachstumskräfte zu stärken, haben wir uns auf ein 25-Milliarden-Euro-Investitionspaket für die neue Legislaturperiode verständigt. Ich hoffe, dass es zu den privaten Investitionen, die wir wieder anregen wollen, hinzukommt und dass wir damit insgesamt einen Aufschwung erreichen.

   Schon ein halbes Prozent mehr Wachstum würde zu höheren Steuereinnahmen von 2,5 Milliarden Euro und zu Mehreinnahmen von 2,3 Milliarden Euro jährlich bei den Sozialversicherungssystemen führen. Hier zeigt sich also der Zusammenhang von Wachstum und öffentlichen Einnahmen.

   Wir müssen schauen, dass die Investitionen anspringen. Deswegen enthält die Koalitionsvereinbarung steuerpolitische Anreizmaßnahmen wie zum Beispiel die Anhebung der degressiven Abschreibung von derzeit 20 auf 30 Prozent. Das Ganze wird dann zum 1. Januar 2008 von einer Unternehmensteuerreform abgelöst, die die Rahmenbedingungen für investierende Unternehmen insgesamt verbessern soll.

   Wir werden die Verkehrsinvestitionen in dieser Legislaturperiode um 4,3 Milliarden Euro erhöhen und verstetigen. Damit verbessern wir nicht nur die Leistungsfähigkeit unserer Verkehrssysteme, sondern stärken auch die Nachfrage und sichern Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft, die sich ungeheuer schwer tut.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Insgesamt erreichen wir eine Senkung der Lohnzusatzkosten um 1 Prozentpunkt. Ich glaube, das ist ein wichtiger und richtiger Schritt.

   Natürlich wollen wir die mittelständischen Unternehmen ins Zentrum unserer Wirtschaftspolitik rücken. Deshalb starten wir eine breite Mittelstandsoffensive, die sich, wie ich meine, sehen lassen kann.

   Wir werden durch eine Änderung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrechts die Unternehmensnachfolge erleichtern. Für jedes Jahr der Unternehmensfortführung soll die Erbschaftsteuerschuld für das übertragene Unternehmen reduziert werden. Wenn das Unternehmen mindestens zehn Jahre fortgeführt wird, entfällt die Steuer ganz. Ich halte das für ungeheuer wichtig, um einem Konzentrationsprozess entgegenzuwirken. Es macht keinen Sinn, wenn wir mittelständische Firmen, die oft hoch innovativ sind, bzw. deren Anteilseigner aufgrund der Schmälerung der Kapitalbasis durch die Erbschaftsteuer zum Verkauf zwingen. Die großen, international tätigen Konzerne oder Fonds, die diese Firmen dann kaufen, tun dies oft nur wegen der Marktzugangskanäle und des Know-hows. Die Arbeitsplätze landen aber letztlich anderswo. Deswegen ist der Mittelstand immer noch der beste Garant für möglichst viel Beschäftigung im Inland.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Um auch etwas für die kleineren Unternehmen zu tun, werden wir im Rahmen einer Sofortmaßnahme die Umsatzgrenze für die Istbesteuerung in den alten Bundesländern von 125 000 Euro auf 250 000 Euro jährlich anheben. In den neuen Bundesländern werden wir die entsprechende Regelung über das Jahr 2006 hinaus verlängern.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Wir wollen vor allen Dingen investitionshemmende Kapitalengpässe aus dem Weg räumen, indem wir das Angebot an Beteiligungskapital für den breiten Mittelstand weiter ausbauen. Wir haben gestern Abend im Mittelstandsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau intensiv darüber diskutiert. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau wird entsprechende Programme dafür anbieten.

   Ich meine auch, dass es ein wichtiger Schritt ist, Aufwendungen für Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen im Privathaushalt bei der Einkommensteuer künftig begrenzt absetzbar zu machen. Wir hoffen, dass dies zu Beschäftigung insbesondere im Handwerk und bei den haushaltsnahen Dienstleistungen führt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Ein Punkt, den wir in dieser Legislaturperiode verstärkt angehen müssen - das taucht immer wieder auf wie das Ungeheuer von Loch Ness; trotzdem muss man stetig dagegen anarbeiten -, ist der Abbau der Bürokratie. Wenn kleine Unternehmen zwischen 4 und 6 Prozent ihres Umsatzes für Bürokratie ausgeben müssen und dieses Geld dann nicht für Investitionen oder als Gewinn zur Verfügung steht, dann läuft da etwas falsch. Deswegen müssen die Entbürokratisierungsmaßnahmen verstärkt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Wir müssen die wachsende Überregulierung bekämpfen. Dazu jetzt Einzelheiten auszuführen würde zu weit führen. Ich freue mich, dass dieser Bereich direkt beim Bundeskanzleramt angesiedelt sein wird, um entsprechend Druck auf alle Ressorts ausüben zu können. Das Wirtschaftsministerium wird seinen Teil dazu beitragen.

   Wir wollen ein einfacheres und moderneres Vergaberecht. Dabei werden wir insbesondere auf die mittelstandsgerechte Ausgestaltung achten, zum Beispiel auf die Aufteilung der Lose, um die Mittelständler nicht zu Unterauftragnehmern großer Konzerne zu machen, die den Rahm bereits abgeschöpft haben.

   Wir werden, wie es neudeutsch so schön heißt, One-Stop-Anlaufstellen schaffen,

(Ute Kumpf (SPD): Das ist bayerisch!)

- bayerisch ist es nicht; aber in Bayern können wir zum Teil auch Englisch -, damit Existenzgründer nicht länger durch den Behördendschungel entmutigt werden, bevor sie überhaupt ihre Geschäftsideen verwirklichen können.

   Wir wollen vor allen Dingen auch, dass die Jugendlichen wieder mehr Chancen bekommen. Deswegen werden wir den Ausbildungspakt, den mein Vorgänger, Minister Clement, angeregt hat, weiter ausbauen und verstärken. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als in der Jugend, am Beginn des Erwerbslebens arbeitslos zu sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vor allen Dingen wollen wir natürlich vermeiden, dass dann ansonsten staatliche Maßnahmen einsetzen. Das kostet wieder nur Geld, verursacht Bürokratie und bringt im Prinzip keinen weiteren Ausbildungsplatz.

   Kreativität und Innovation, das sind zentrale Stichworte für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Deshalb werden wir den Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis 2010 in kontinuierlichen Schritten auf mindestens 3 Prozent des Bruttosozialproduktes anheben. Bisher sind wir bei zweieinhalb Prozent. Auch das ist eine gewaltige Anstrengung in Zeiten, in denen die öffentlichen Mittel sehr knapp sind. Ich glaube, das ist ganz wichtig.

   Ein erster Aufgabenbereich, bei dem dies zur Anwendung gebracht werden soll, kommt schon am Wochenende auf mich zu - Frau Bulmahn hat das Ganze noch in die Wege geleitet; inzwischen liegt die Raumfahrt in der Zuständigkeit des Wirtschaftministers -: Es ist die ESA-Konferenz. Für die, die es nicht wissen: Das heißt European Space Agency.

(Ute Kumpf (SPD): Danke!)

- Schauen Sie, wir Bayern können Englisch.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Außerdem bin ich Franke.

   Das ist ein Beispiel für die Verpflichtungen, die zu erfüllen sind. Dies umfasst vielleicht ein paar kleine neue Beteiligungen an Hochtechnologieprogrammen, die wir als Europäer nicht nur den Amerikanern oder Chinesen überlassen dürfen. Dass es überhaupt wieder möglich wird, etwas zu zeichnen, hängt damit zusammen, dass wir natürlich die Erhöhung der Forschungsmittel einplanen, die dann nicht nur dem Forschungsministerium, sondern auch dem Wirtschaftsministerium zugute kommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es geht nicht um Ressortegoismus, sondern es geht darum, unser Land insgesamt weiterzubringen.

   Wir brauchen auch Leuchtturmprojekte, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Technologiestandortes -

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bayern!)

- Herr Kuhn, ich nehme Ihren Zwischenruf gleich auf - Deutschland und damit auch Bayern stärken. Ich freue mich, dass Herr Kuhn immer wieder auf Bayern hinweist. Er hat Angst, ich würde es vergessen. Aber ich bin deutscher Wirtschaftsminister und habe mich natürlich in allererster Linie um die deutsche Wirtschaft zu kümmern. Die Bayern sind so tüchtig, dass sie das immer schon selber getan haben.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich sprach über Leuchtturmprojekte. Damit habe ich nicht nur den bayerischen Wirtschaftsminister gemeint, sondern den Bau einer Referenzstrecke des Transrapid. Die Bayern sollen nicht alle nach China fliegen müssen, um ein Stück im Transrapid zu fahren, so wie ich das in Schanghai einmal getan habe.

   Wir wollen die Brennstoffzellentechnologie weiterentwickeln und wir wollen vor allen Dingen auch die Entwicklung von konventionellen, hocheffizienten Kraftwerken mit dem Ziel der Nullemission vorantreiben. Ich glaube, das ist gerade in einem Land, in dem sehr viele Kohle verstromt wird, sehr wichtig.

   Wir werden insbesondere in den Bereichen Bio- und Gentechnik, Informations- und Kommunikationstechnologie, Chemie, Medizin und Pharmazie sowie Energie und Verkehr die Rahmenbedingungen innovationsfreundlicher gestalten. Es muss Schluss damit sein, dass durch Technikfeindlichkeit Forschung und Arbeitsplätze aus Deutschland in Konkurrenzländer vertrieben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Wir wissen auch, dass junge und besonders innovative Technologieunternehmen oft nicht über die ausreichenden Sicherheiten verfügen, um ihre Ziele zu verwirklichen. Deswegen müssen wir Anreize für Risikokapital schaffen, um dies zu unterstützen. In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir diese verbessern werden. Daran wird rasch gearbeitet. Auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat zugesagt, sich hier einzubringen.

   Lassen Sie mich noch ein Wort zur Energiepolitik sagen. Die jüngste Entwicklung auf den Energiemärkten hat uns drastisch vor Augen geführt, wie eng die Verbindung zwischen Energie und Wachstum ist. Wir wissen auch, dass hohe Energiepreise die realen Einkommen reduzieren, dass sie die Möglichkeiten für andere Ausgaben einschränken und dass sie vor allen Dingen ein Produktionskostenfaktor für die Wirtschaft sind.

Auch die Energiepolitik muss sich insbesondere diesem Wachstumsziel, das wir erreichen wollen, anpassen. Wir setzen große Hoffnungen in die neu erfolgte Regulierung des Strom- und Gasmarktes, um auf die Netzentgelte und damit auch auf die Preise Druck zu ermöglichen.

   Ich werde in der kommenden Woche nach Russland reisen, um beim ersten Spatenstich für die neue Erdgaspipeline dabei zu sein, die gebaut werden muss, weil wir unsere Rohstoffversorgung auch langfristig sichern müssen. Das Erdgas aus Russland gehört ganz sicher dazu. Insofern gibt es auch ein Stück Kontinuität in der Politik mit Russland.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Zum Beispiel habe ich meinen russischen Kollegen Gref auch schon in Hamburg getroffen, wo sich EADS bemüht, auch Russland in die Airbus-Kooperation einzubeziehen.

   Ich bin besonders dankbar, dass ich jetzt wieder für die Luft- und Raumfahrt und somit auch für Airbus zuständig bin. Denn am Beginn meiner parlamentarischen Laufbahn stand die Berichterstattung für das Wirtschaftsministerium im Haushaltsausschuss und die Durchsetzung der Entscheidung für die ersten Airbusse. Dann einmal ein solches Flugzeug, einen Airbus wie den A 380, zu sehen und zu erleben, das war für mich schon ein bewegender Augenblick, wenn ich das einmal sagen darf.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aha!)

Wir müssen bei solchen Projekten vorne mit dabei sein; oft haben sie ja erst nach Jahren oder Jahrzehnten zur Folge, dass in Deutschland neue Arbeitsplätze entstehen.

   Vor allen Dingen wollen wir auch unsere Außenwirtschaftspolitik vorantreiben, mit den Zielen der Schaffung weltweit offener Märkte und der Herstellung von Chancengleichheit für deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb. Das dient auch dem Ziel, den Entwicklungsländern weiterhin zu helfen. Deswegen hoffe ich, dass auf der WTO-Konferenz in Hongkong entsprechende Vereinbarungen getroffen werden. Dafür werde ich mich gemeinsam mit vielen Kolleginnen und Kollegen einsetzen, auch wenn ich persönlich leider nicht so lange dort bleiben kann.

   Natürlich ist es auch sehr wichtig, dass wir die Exportkreditgarantien für deutsche Lieferungen und die Garantien für deutsche Investitionen im Ausland dort weiterführen, wo sie - dadurch, dass wir Kunden gewinnen - bei uns für Beschäftigung sorgen.

   In Europa gibt es ungeheuer viel zu tun. Es ginge zu weit, jetzt über die Dienstleistungsrichtlinie zu diskutieren. Dieses Thema haben wir im Koalitionsvertrag niedergelegt; es wird noch sehr intensive Arbeit erfordern. Allerdings denke ich, dass wir bei der Zusammenarbeit zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Umweltministerium - hierfür bedanke ich mich beim Kollegen Gabriel - auf erste Erfolge verweisen können.

   Ich glaube, dass wir im Zusammenhang mit der Chemikalienrichtlinie REACH, nachdem sich an einem Tag der Wirtschaftsminister und am nächsten Tag der Umweltminister darum gekümmert haben, auf einem sehr guten Weg sind, um eine Lösung zu finden, die sowohl dem berechtigten Interesse an Verbraucherschutz als auch der Wettbewerbsfähigkeit unserer Chemieunternehmen dient. Auch hier wird es, wenn die britische Präsidentschaft dieses Vorhaben noch vorantreibt, bald zu einem guten Abschluss kommen.

   Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Wir müssen die Eigeninitiative stärken und den Ordnungsrahmen, der unsere Wirtschaftspolitik in Sachen soziale Marktwirtschaft von Beginn an getragen hat, wieder ausbauen, damit in viele Vorhaben, die anstehen, Ordnungspolitik hineingetragen wird. Dazu möchte ich gerne beitragen.

   Ganz zum Schluss möchte ich darum bitten - dazu fordere ich auch die Verbände der Wirtschaft und die Manager auf -, unser Land nicht nur schlecht zu reden und so zu tun, als stünden immer Tarifverhandlungen an.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie wissen, wovon Sie reden, Herr Glos! Sie sind ja Spezialist für das Schlechtreden!)

Je schlimmer man eine Lage darstellt, desto besser - so wird es erwartet - soll letztlich der Abschluss sein, je nachdem, für welche Seite.

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dass Sie da nicht rot werden!)

   Abschließend möchte ich - das wird mir noch gestattet sein - den Bundespräsidenten zitieren. Ich habe gestern eine Agenturmeldung gelesen, nach der er unter anderem gesagt hat, das Motto der Koalitionsvereinbarung „Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit“ solle alle angehen.

Er hat vor allen Dingen darauf hingewiesen, dass er von den Wirtschaftsführern das notwendige Einfühlungsvermögen erwarte, wo der verdiente Lohn des Tüchtigen ende und wo die pure Gier beginne, und hat gesagt, das solle man sich - man darf den Bundespräsidenten ja zitieren; ich hätte mich das gar nicht so zu sagen getraut - auch einmal hinter die Ohren schreiben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Wenn wir alle wieder zusammenhalten - und mit „alle“ meine ich die Großen und die Kleinen, die Starken vor allen Dingen, aber auch die Schwächeren -, damit unser Land insgesamt wieder weitergebracht wird, dann wird diese Koalition Erfolg haben.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rainer Brüderle, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Rainer Brüderle (FDP):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Minister Glos, zu Ihrer Ernennung zum Bundeswirtschaftsminister gratulieren und im Interesse des Landes alles Gute und viel Erfolg wünschen. Ich schätze Sie persönlich sehr. Aber Koalitionsvertrag, Regierungserklärung und Ihre Ausführungen erfordern klare Worte der Opposition.

   Zunächst einmal zu den Arbeitsmarktzahlen. Die Zahl der Arbeitslosen ist gegenüber dem Vormonat um 25 000 gesunken, gegenüber dem Vorjahr aber um 274 000 gestiegen. Hier hat sich eine Tradition fortgesetzt; die Sozialdemokratisierung geht weiter: Die Statistik wurde geändert und fünf Tage vorgezogen, sodass das schlechte Wetter nicht berücksichtigt wird. Von Entspannung oder Tendenzwende kann also keine Rede sein.

(Beifall bei der FDP)

   Im Übrigen kann ich Ihnen sagen, dass das Wachstum im dritten Quartal ein Stück besser war. Das war die Periode, wo wir faktisch keine Regierung hatten.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)

Daraus resultiert der Hinweis: Halten Sie sich raus aus der Wirtschaft, geben Sie der Wirtschaft eine Chance, sich entfalten zu können!

(Beifall bei der FDP)

   Es stellt sich die Frage: Wo ist das wirtschaftspolitische Leitmotiv dieser Regierung? Es ist weit und breit nichts zu sehen; es muss ja mehr sein als die Konkursverwaltung von Rot-Grün. Rot-Grün hat bewiesen, dass sie es nicht können. Will es die CDU jetzt ebenfalls beweisen?

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie kann es besser als die FDP!)

   Die Regierung bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag dazu, die Fundamente der sozialen Marktwirtschaft zu stärken. Das ist lobenswert; nur so kommen wir zu mehr Wachstum und Beschäftigung. Doch die Vorstellungen, die die Regierung äußert, zeigen deutlich: Diese Absichtserklärung ist ein Lippenbekenntnis. Im Wahlkampf hat Frau Merkel die deutsche Maggie Thatcher gespielt; jetzt spielt sie die Frau Holle, die überall weiße Flocken auf die Problemfelder streut.

(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)

Wenn der Inhalt des Koalitionsvertrags umgesetzt wird, wird die Marktwirtschaft nicht gestärkt, im Gegenteil: Sie wird geschwächt. Die geplanten Steuererhöhungen entspringen einer übertriebenen Staatsgläubigkeit. Haushaltssanierung ist nicht zu beanstanden, im Gegenteil: Sie ist dringend notwendig. Aber die Bundesregierung sollte auf der Ausgabenseite sparen, statt zusätzliche Steuern wie die so genannte Reichensteuer zu erfinden. Damit leistet sie nur der Kapitalflucht ins Ausland Vorschub. Das Geld brauchen wir aber in Deutschland, es muss hier investiert werden.

(Beifall bei der FDP)

Es gab doch einen ganz primitiven Kuhhandel: Gibst du mir meine Mehrwertsteuer, bekommst du deine Reichensteuer; schluckst du meine Kröte, schluck ich deine. Aber das ist keine Strategie für mehr Wachstum. Mehr Steuern ist immer ein Weniger an Freiheit: weil ich weniger über die Verwendung dessen, was ich mir selbst hart erarbeite, entscheiden kann, sondern andere an meiner Stelle entscheiden, was damit geschieht. Das ist ein Abbau von Freiheit und nicht ein Mehr an Freiheit!

(Beifall bei der FDP)

   Trotz der derzeitigen Staatsquote in Deutschland maßt sich der Staat erneut an, dem Bürger tiefer in die Tasche zu greifen. Wir müssten weniger statt mehr Staatseingriffe haben. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist das Gegenteil. Herr Glos sprach von einer Offensive für den Mittelstand. „Offensive“ bedeutet Angriff - und das klingt nicht nur so: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist ein Angriff auf den deutschen Mittelstand.

(Beifall bei der FDP)

   Über die Verteilungswirkung der Mehrwertsteuer ist viel gesagt worden; aber einen Aspekt hat man bisher ausgeblendet, nämlich die Wirkung einer Mehrwertsteuererhöhung auf die Preisstabilität und die Beschäftigung. Wenn die Unternehmen die Steuererhöhung auf die Preise aufschlagen können, handeln wir uns Zweitrundeneffekte ein: Die Gewerkschaften haben schon angekündigt, höhere Löhne zu fordern, um kommende Preiserhöhungen zu kompensieren.

Schon die Erwartung einer höheren Inflation heizt Preissteigerungen an. Eine Folge davon sind letztlich auch höhere Zinsen.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Ich kann, so wie Herr Juncker, die Bundesregierung nur davor warnen, zu versuchen, Druck auf die Europäische Zentralbank auszuüben.

   Hält die gegenwärtige Konsumflaute an - das vermute ich -, dann können die Unternehmen die Mehrwertsteuererhöhung nicht auf die Abnehmer abwälzen. Dadurch verschlechtert sich die Gewinnsituation der Unternehmen. Der Mittelstand hat aber keine Polster, über die er das abfangen und so verkraften könnte. Die Steuererhöhung wird, da sie die Gewinne mindert, zum Abbau von Arbeitsplätzen führen. Diese Mehrwertsteuererhöhung wird zu einer stärkeren Preiserhöhung und weniger Beschäftigung führen. Das ist also kein Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung, das ist ein Programm zur Verhinderung von Wachstum und Beschäftigung.

(Beifall bei der FDP)

Die Schätzungen seitens der OECD bezüglich des Preiseffekts schwanken zwischen 0,6 Prozent bis 2 Prozent. Das ist jedenfalls kein Beitrag, um Deutschland voranzubringen.

   Sie wagen ein sehr gefährliches Experiment. Sie arbeiten, salopp formuliert, ein Jahr nach Keynes, greifen also nicht ein - schließlich stehen ja auch acht Wahlen an -, und danach nach Brüning. Das kann keine erfolgreiche Strategie sein. Wir haben in Deutschland im Kern strukturelle Probleme. Diese kann man nicht mit einem keynesianischen Ansatz bewältigen. Sie legen eine Roadmap vor, die ein Strohfeuer entfachen, aber nicht zur Überwindung unserer Probleme beitragen wird.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So ist es!)

   Die Japaner haben 1997 etwas Ähnliches gemacht wie das, was Sie jetzt vorhaben. Damals hat die Regierung Hashimoto kräftig die Mehrwertsteuer erhöht, um den Haushalt zu sanieren. Die Folge waren Jahre der Stagnation. Es folgte eine der schlechtesten Phasen für die japanische Volkswirtschaft.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So war es!)

Das kann nicht das Vorbild sein. Im Gegenteil: Das muss abschrecken. Sie sollten Ihre Strategie überdenken, erst mit Ansätzen nach Keynes anzufangen, um dann mit Ansätzen nach Brüning den Haushalt zu sanieren.

   Es gibt im Koalitionsvertrag kein Kapitel über Subventionsabbau. Stattdessen findet sich dort ein Bekenntnis zur Fortsetzung der Steinkohlesubventionen. 15 Milliarden Euro echte Einsparungen und 150 Milliarden Euro zusätzliche Steuererhöhungen bis 2009 bedeuten alles andere als eine Stärkung der Marktwirtschaft, alles andere als mehr Freiheit. Es bedeutet das Gegenteil davon.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die Freiheit der Unternehmen zu stärken, hieße, Güter- und Faktormärkte zu flexibilisieren, vor allem den Arbeitsmarkt. Was Sie im Bereich des Kündigungsschutzes machen, ist Augenwischerei. Schon bisher konnte die Probezeit bis zu 24 Monate dauern. Jetzt geben Sie dem einen neuen Titel. Das ist faktisch keine Veränderung.

   Die Philosophie dieser Regierung ist eher, Märkte abzuschotten, anstatt sie zu liberalisieren. Die Entsenderichtlinie auf Gebäudereiniger auszudehnen, ist ein Beispiel dafür. Die europäische Dienstleistungsrichtlinie ist der Koalition suspekt. Der europäische Binnenmarkt könnte ja zu mehr Wettbewerb führen. Der SPD wäre eine Dienstleistungsverhinderungsrichtlinie lieber, sie könnte auch gleich eine Wirtschaftsverhinderungsrichtlinie fordern. Als Exportweltmeister sind wir auf offene Weltmärkte angewiesen. Diese nutzen wir gern. Wir können uns aber nicht mit einer Dienstleistungsrichtlinie von den Dienstleistungsmärkten abschotten.

   Ebenso suspekt sind der Bundesregierung unterschiedliche Steuersätze in Europa. Gegenüber Ländern, die das marktwirtschaftliche Prinzip verstanden haben, den Vorwurf des Steuerdumpings zu erheben, ist absurd. Statt selbst besser zu werden, sollen andere schlechter werden. Nein, wir müssen bei uns die Dinge in Ordnung bringen, damit wir bessere Wettbewerbschancen haben.

(Beifall bei der FDP)

   Dies alles atmet den Geist von Mindestlöhnen, Reglementierung, Abschottung und Unfreiheit. Marktwirtschaft ist etwas anderes. Mehr Freiheit zu wagen, wie die Bundeskanzlerin angekündigt hat, sieht anders aus. Aber ihr fehlt es offenbar an marktwirtschaftlichen Ideen. Für Anfang 2006, rechtzeitig vor den drei Landtagswahlen, wird ein Energiegipfel angekündigt; das ist wahrscheinlich ein Beitrag zum Wahlkampf.

Wettbewerb ist anstrengend. Deshalb ist dieses Thema im Koalitionsvertrag wohl auch mit keinem Kapitel bedacht. Dass die CDU, die sich so oft auf Ludwig Erhard beruft, darauf verzichtet, wundert mich. Mit dem Bekenntnis zum Wettbewerb ist es im Koalitionsvertrag nicht weit her. Wenn Sie von Wettbewerb sprechen, dann meinen Sie Industriepolitik und Markteingriffe. Das gilt für erneuerbare Energien, für den europäischen Binnenmarkt und natürlich für die Lex Telekom. Ich halte es für skandalös, wenn der Telekom im Koalitionsvertrag versprochen wird, die vorhandenen und die noch zu erstellenden Breitbandtelekommunikationsnetze für einen gewissen Zeitraum aus der Regulierung herauszunehmen. Dadurch wird ein Sonderkartellrecht geschaffen. Wo sind wir denn? Bekommt jeder nach Hausmannsart was gebacken? Morgen wird dem Nächsten eine Sonderposition von dieser Regierung gewährt.

(Beifall bei der FDP)

   Die Bundesregierung leidet an einer Machbarkeitsillusion. Sie glaubt, sie könne den Erfolg für die Wirtschaft machen. Sie wissen offenbar genau, welche Branchen Zukunftsbranchen sind, in denen künftig mehr Geld verdient werden kann. Sie reden von den Leuchtturmprojekten und hochinnovativen Bereichen. Das muss über den Markt ermittelt werden. Das weiß der Staat nicht besser als die Wirtschaftsunternehmen, die jeden Tag draußen an der Front sind.

   Sie sind auch nicht konsequent. Bei dem 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm geht es in weiten Teilen um ganz andere Bereiche und kaum um Technologieförderung. Es geht um die steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen und haushaltsnahen Dienstleistungen sowie um Gebäudesanierungsprogramme. Das ist kein Beschäftigungsprogramm, das ist ein Besänftigungsprogramm, um die Wirkung der katastrophal hohen Steuererhöhung zu verdecken. Damit kommen wir auch nicht voran.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Rainer Wend (SPD): Zeig es uns!)

   Wir brauchen mehr Investitionen. Die staatliche Investitionslenkung passt nicht in den Instrumentenkasten einer Marktwirtschaft. Monopole und Kartelle stehen nicht im Ruf, besonders innovativ zu sein. Im Bereich der Energiewirtschaft hat Rot-Grün die Fusion von Eon und Ruhrgas genehmigt, deren Marktanteil nun 87 Prozent beträgt. Dann beklagte sich der frühere Kanzler auch noch darüber, dass die Gaspreise steigen! Bereits in der zweiten Stunde der Einführung in die Volkswirtschaft wird an der Volkshochschule in Mainz-Süd gelehrt, dass Monopolpreise höher als Wettbewerbspreise sind. Hier liegt ein Teil der Schwierigkeiten. Die Monopolisierung und Kartellierung der deutschen Wirtschaft sind falsche Wege; auf diesen kommen wir nicht voran.

(Beifall bei der FDP)

   Wir leben nämlich nicht primär von den Großkonzernen, sondern vom Mittelstand.

   Sie wollen die Abschreibungsbedingungen für zwei Jahre verbessern. Das belebt die Konjunktur doch nicht langfristig. Damit werden die Ausgaben jetzt von diesem ins nächste Jahr geschoben und im nächsten Jahr vorgezogen. Das alles haben wir schon gehabt. Das ist doch keine dauerhafte Politik. Das sind keine verlässlichen Rahmenbedingungen. Das ist auch kein Beitrag zum Abbau von Bürokratie, das ist ein Zuwachs an Bürokratie, eine Verkomplizierung. Man muss über Zuschüsse und Abschreibungen strategisch entscheiden, anstatt nüchtern rechnen zu können. Das ist Ihr Fehler.

(Beifall bei der FDP)

   Auch der Sachverständigenrat sagt, dass eine umfassende Unternehmensteuerreform, durch die Freiräume geschaffen werden - nicht erst 2008, sondern jetzt -, eine Reform des Arbeitsmarktes und die Umstrukturierung der sozialen Sicherungssysteme nötig wären. Hier machen Sie nichts. Zeitmangel war es nicht. Sie sind sich nicht einig und wissen nicht, was Sie gemeinsam wollen. Ich kann mir auch nur schlecht einen Kompromiss zwischen der Bürgerversicherung und der Kopfpauschale vorstellen. Am besten wäre es, Sie würden unser Modell des Wettbewerbs nehmen, aber ich fürchte, dass Sie dazu nicht den Mut haben.

(Beifall bei der FDP)

   Herr Minister Glos, Aufgabe eines Wirtschaftsministers ist es, das ordnungspolitische Gewissen einer Regierung zu sein. Ludwig Erhard hat betont: Der Wirtschaftsminister muss Mut zum Widerstand haben. Herr Minister Glos, diesen Mut werden Sie gegenüber Ihren Kabinettskollegen ausgiebig gebrauchen müssen, wenn Ihnen die deutsche Wirtschaft am Herzen liegt. Wenn Sie mutig sind, sind wir an Ihrer Seite. Als Girlande einer falschen Politik geben wir uns nicht her. Ordnungspolitisch müssen Sie klotzen und nicht kleckern, sonst bleiben Sie unter der Aufbruchschwelle.

   Das merkelsche Trippelschritttheorem ist falsch. Seit Paracelsus weiß man: Wenn die Dosierung nicht stimmt, gibt es keine Wirkung. Deutschland darf kein Versuchskaninchen für Trippelschritte sein, sondern benötigt eine mutige Politik, durch die die Situation verändert wird, damit sich die Wachstumsgeschwindigkeit erhöht.

   Unsere Probleme sind seit Jahren bekannt. Sie werden nicht angepackt. Diese minimale Konsenslösung der großen Koalition aus einer sozialdemokratischen Fraktion und einer sozialdemokratisierten Fraktion führt natürlich nicht dazu, dass es zu einem neuen Denken kommt. Sie setzen die falsche Politik ein bisschen modifiziert und rhetorisch breit gestärkt fort. Wenn wir nicht den Mut zu Veränderungen haben, kommen wir nicht voran.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Brüderle.

Rainer Brüderle (FDP):

Durch die Regierungserklärung wurde schwarz auf weiß gezeigt: Schwarz-Rot schafft es nicht.

   Vielen Dank, Herr Präsident.

(Beifall bei der FDP)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun der Kollege Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Kauder (CDU/CSU)

Ludwig Stiegler (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wirklich fast wie eine List der Geschichte, nach Herrn Brüderle reden zu dürfen.

(Rainer Brüderle (FDP): Keine Chance!)

Selbst diejenigen, die bei uns die neue Liebe zu den neuen Partnern noch nicht vollständig entdeckt haben, wissen nach der Rede von Herrn Brüderle, dass es doch besser ist, in dieser Formation zu arbeiten, als eine andere Kombination zu erleiden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Lachen bei der FDP - Dr. Guido Westerwelle (FDP), zur CDU/CSU gewandt: Euer Stiegler!)

   Man stelle sich einmal vor, Herr Brüderle und Herr Merz würden durch die Arbeitnehmerlandschaft dieses Landes reisen. Da sind wir schon froh, dass wir im Dreischritt den Menschen ihre Freiheit und ihre Freiheitsrechte durch soziale Sicherheit erhalten können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN - Widerspruch bei der FDP)

- So entstehen neue Freundschaften. Herr Brüderle, Sie sind der reinste Stifter.

(Heiterkeit bei der SPD)

   Wir wollen eine starke Wirtschaft, wie Franz Müntefering nie zu erwähnen vergisst, aber eben auch den sozialen Zusammenhalt. Herr Brüderle, die Arbeitsmarktreformen, die Sie anmahnen, sind nichts anderes als eine Rechtlosstellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

(Zurufe von der FDP: Oh!)

Wir werden in dieser großen Koalition viel dafür tun, dass sich die Wirtschaft entwickeln kann, aber wir werden auch dafür sorgen, dass die Menschen daran ihren fairen Anteil haben. Herr Brüderle, Sie sollten in sozialdemokratischer Gesellschaft bleiben. Dann verhalten Sie sich ordentlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Schon die Startvereinbarungen zu den Koalitionsverhandlungen beinhalteten das Bekenntnis zur Tarifautonomie, die Erhaltung der Steuerfreiheit der Sonntags-, Schicht- und Nachtarbeit,

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mehrwertsteuererhöhung!)

die Konzentration auf Forschung und Entwicklung sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist eine ganz entscheidende Weichenstellung. Diese Koalition wird eben beide Seiten der Medaille berücksichtigen: eine starke Wirtschaft und eine faire Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

(Beifall der Abg. Brunhilde Irber (SPD))

   Gerade angesichts der Eingangsdaten, die der Minister und auch Herr Brüderle genannt haben, danken wir durchaus Wolfgang Clement,

(Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Durchaus!)

unserem früheren Bundeswirtschaftsminister, für die Rahmenbedingungen, die er geschaffen hat. Ein Beispiel ist das Energiewirtschaftsgesetz. Der Wettbewerb, Herr Brüderle, den Sie gefordert haben, ist darin bereits installiert worden. Dafür danken wir Wolfgang Clement.

(Beifall bei der SPD)

   Der Minister hat sich zu den internationalen Themen nur sehr zurückhaltend geäußert. Wir werden uns mit der Konzentration der Europazuständigkeiten auf das Wirtschaftsministerium auf eine enge parlamentarische Zusammenarbeit einstellen. Dabei beziehen wir uns auf die Vereinbarungen zum Zusammenarbeitsgesetz. Wir gehen schon davon aus, dass wir bereits drei Monate vor und nicht drei Monate nach den Ereignissen informiert werden und dass die Zusammenarbeit hier funktioniert.

   Wir haben bei der Dienstleistungsrichtlinie die notwendigen Grundvereinbarungen erzielt. Herr Brüderle, ich wette, dass Sie dann, wenn Sie vor Handwerkern, wie etwa Fliesenlegern, in Rheinland-Pfalz reden, nicht so über die Dienstleistungsrichtlinie reden, wie Sie das hier eben getan haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich sage Ihnen: Wir wollen europäische Dienstleistungen, aber - in Bayern sagt man: Die kleinen Leute dürfen nicht immer das Bummerl sein - die Umsetzung der Richtlinie darf nicht auf Kosten der breiten Schichten geschehen.

   Wir werden eine Menge über Wettbewerbspolitik zu reden haben. Der Minister hat das nur zart angedeutet. Zum Thema Pressefusion: Man sollte nicht schon von einer Ministererlaubnis reden oder über eine solche spekulieren, bevor überhaupt das Bundeskartellamt und die KEK die Probleme angepackt haben. Wecken Sie hier also keine falschen Erwartungen!

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir sollten gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse hinsichtlich der Stromversorgung darauf drängen, dass die Anreizregulierung beschleunigt umgesetzt wird. Im Rahmen einer vernünftigen Anreizregulierung werden die großen Energieversorger Rücklagen oder Rückstellungen für solche Katastrophenereignisse bilden müssen. Selbst wenn nach der gegenwärtigen Rechtslage noch keine Haftung besteht, darf ein großes Unternehmen seine Abnehmer in der Stunde der Not nicht im Stich lassen. Es ist die Zeit der Kulanz und des Entgegenkommens. Das rufe ich den großen Energieversorgern zu.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU))

   Wir werden gemeinsam mit den beteiligten Ländern die Kohlevereinbarungen angehen müssen. Der Minister hat das zwar noch nicht so deutlich angesprochen, aber ich denke, da gibt es noch einige schwarze Warzen auf der Kröte; das Thema ist noch zu bearbeiten. Aber Franz Müntefering sagt schließlich immer, Schwarz sei ein besonders dunkles Rot. Insofern gibt es einen dialektischen Übergang von der einen Seite zur anderen. Lassen Sie uns also dieses Thema angehen.

   Zur Bürokratie wird der Kollege Rainer Wend das Notwendige sagen. Selbstverständlich - darin stimmen wir dem Minister zu - werden wir im Wirtschaftsbereich dem Kanzleramt freudig zuarbeiten, wenn es darum geht, die kleinen und mittleren Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt von Bürokratielasten zu befreien.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Herr Brüderle hat uns vorgeworfen, wir würden nächstes Jahr Politik nach Keynes und ab dem übernächsten Jahr eine Politik wie seinerzeit Brüning machen. Mit Keynes mögen Sie noch Recht haben. Aber wenn Sie die Haushaltsplanung für die Jahre danach mit der Politik Brünings gleichstellen, dann empfehle ich Ihnen, die Wirtschaftsgeschichte nachzulesen. Dieser Vergleich klingt ad hominem gut, aber wenn Sie sich in Erinnerung rufen, was Meister Brüning wirklich getan hat und was wir vorhaben, dann merken Sie, dass dieser Vergleich zwar schön klingt und dass man ihn in einer Narrhalla-Sitzung als Knaller bringen könnte, dass er aber die ökonomische Lage nicht richtig abbildet.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU - Rainer Brüderle (FDP): Keynes war schlauer als die Bundesregierung!)

   Alle, die kritisiert haben, wie wir nächstes Jahr die Wirtschaft ankurbeln werden, und die gemeint haben, es liege ein Verstoß gegen Artikel 115 des Grundgesetzes vor, erinnere ich auch an Artikel 109: Bund, Länder und Gemeinden haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen. Insofern ist die Haushaltswirtschaft im nächsten Jahr gerechtfertigt.

   Herr Brüderle, wenn wir Ihrem Rezept folgen würden, mit beiden Beinen auf die Bremse zu treten, dann würden Sie hier die Opfer beklagen. Es geht aber nicht an, dass Sie hier zuerst mit den Jägern jagen und anschließend mit den Hasen flüchten. Sie müssen schon eine einheitliche Linie verfolgen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

- Es ist wirklich toll, dass Herr Brüderle vor mir geredet hat. So kann ich meine neuen Freunde immer wieder erfreuen. Das ist wirklich eine Erleichterung der rhetorischen Situation.

   Wir gestalten mit der energetischen Gebäudesanierung eine langfristige Strukturpolitik. Das hilft den Verbrauchern, der Umwelt, dem Handwerk und dem Mittelstand. Diese Programme werden mit einem Volumen von 10 bis 15 Milliarden Euro Impulse setzen, die uns langfristig wirtschaftlich gut tun werden. Sie werden auch bei Herrn Ramsauer wirken, der noch so skeptisch blickt.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Aber selbst Mühlen kann man damit energetisch sanieren.

(Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU))

   Wir werden den Privathaushalt als Arbeitgeber weiterentwickeln. Auch das ist ein großes Projekt.

(Dirk Niebel (FDP): Dienstmädchenprivileg!)

- Gut, aber Sie wissen, dass man dann endlich Fortschritte erzielt hat. Wir beschreiten den richtigen Weg, den Haushalt als Arbeitgeber zu entwickeln und die Absetzbarkeit von Handwerksdienstleistungen als Mittel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und zur Förderung des Handwerks einzusetzen. Haus, Hof und Garten als neues Dienstleistungszentrum - das hilft uns gewaltig.

(Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Früher wart ihr immer dagegen! Es ist ganz neu!)

Wir haben mit dem Abbau und der Stabilisierung der Lohnnebenkosten wichtige Schritte unternommen. Zur öffentlich-privaten Partnerschaft wird Rainer Wend noch einiges ausführen, zum Thema Tourismus die Kollegin Faße. Wir haben mit der Verlängerung der Investitionszulage eine wichtige Weichenstellung für die Förderung des Aufbaus Ost gesetzt. Herr Brüderle, die Zeichen stehen also auf Wachstum. Steigen Sie ein und fahren Sie mit!

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Allein mir fehlt der Glaube!)

- Sie wissen ja, wie es dem ungläubigen Thomas ergangen ist.

   Wir haben gute Chancen auf mehr Wachstum und Beschäftigung. Gleichwohl müssen wir die langfristige Investitionsfähigkeit und Investitionstätigkeit der kleinen und mittleren Unternehmen verbessern. Um an Karl Schiller zu erinnern, der zu Beginn der ersten großen Koalition einmal gesagt hat: Die Pferde müssen wieder saufen. - Damals hatten die Pferde kein Wasser in der Tränke. Nun stehen die großen Pferde bis zum Hals im Wasser, saufen aber nicht, während die kleinen nicht genügend haben. Wir fordern Banken und Sparkassen auf, die Kreditversorgung der kleinen und mittleren Unternehmen so zu gestalten, dass eine breite, nachholende Investitionstätigkeit des Mittelstandes erreicht wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Rainer Brüderle (FDP): Schiller: Genossen, lasst die Tassen im Schrank!)

- Das war erst später. Zu diesem Zeitpunkt war der Aufschwung schon da und musste bereits gebremst werden. Sie sind wie immer zeitlich nicht auf der Höhe. Wir sind erst am Beginn der zweiten großen Koalition und nicht schon in der Zeit, in der wir den Aufschwung bremsen müssen. Wir wünschen uns, dass wir dorthin kommen.

(Lachen bei der FDP)

   Wir werden alles zur Verbesserung der Eigenkapitalausstattung der kleinen und mittleren Unternehmen tun. Wir werden daran arbeiten, dass die Bundesrepublik Deutschland der Weltausstatter bleibt. Deshalb werden wir Forschung und Entwicklung sowie den Technologietransfer fördern, die ganze Bildungskette erneuern und, wie gesagt, vor allem die Finanzierungsgrundlagen der kleinen und mittleren Unternehmen verbessern. Es müssen nicht immer amerikanische Pensionsfonds Unternehmen in Deutschland kaufen. Vielmehr gibt es auch in Deutschland genügend Geld, um die Unternehmen, die unserer Volkswirtschaft dienen, zu fördern und mit den notwendigen Mitteln auszustatten. Lasst uns daran arbeiten! Dann kommt der Aufschwung und dann werden wir eines Tages wieder bremsen müssen.

   Glückauf!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich erteile das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Oskar Lafontaine (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In vielen Debatten über die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik stand der jeweilige Vertreter der Regierung hier am Pult und erklärte: Unser wichtigstes Ziel ist, die Arbeitslosigkeit abzubauen, die Beschäftigung zu steigern und das Wachstum zu fördern. - Insofern sind die Ziele der Regierungen, auch wenn sie gewechselt haben, gleich geblieben. Wer aber die Entwicklung in den letzten Jahren kritisch betrachtet - einiges klang bereits ganz leise an -, wird zugeben müssen, dass diese Ziele oft nicht erreicht worden sind. Der Schwerpunkt der heutigen Debatte müsste also eigentlich sein, darüber zu sprechen, warum diese Ziele in den letzten Jahren trotz guter Absichten nicht erreicht worden sind.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Deshalb wird ja die alte Politik fortgesetzt!)

   Wenn man dem zustimmt, ist die Frage aufzuwerfen, ob wir uns in diesem Parlament über die Erfolgskriterien der Politik noch verständigen können. Es hat uns schon überrascht, dass gestern mehrfach festgestellt worden ist, und zwar von den Vertretern beider Fraktionen, die die große Koalition tragen, dass die letzten Jahre sehr erfolgreich gewesen seien. Für meine Fraktion und wahrscheinlich für die anderen Oppositionsfraktionen - ob das auch auf die Grünen zutrifft, da bin ich mir nicht ganz sicher - möchte ich aber feststellen, dass das Kriterium der Arbeitslosigkeit nach wie vor darüber entscheidet, ob eine Wirtschaftspolitik erfolgreich ist oder nicht.

(Beifall bei der LINKEN und der FDP)

Ich bitte die Vertreter der großen Koalition sehr herzlich, bei 5 Millionen Arbeitslosen nicht zu behaupten: Wir haben eine sehr erfolgreiche Wirtschaftspolitik gemacht. - Das ist Zynismus und wird von den Betroffenen als Verhöhnung verstanden. Deshalb können wir solche Sätze nicht unwidersprochen stehen lassen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir darüber reden, was in den letzten Jahren falsch gelaufen ist, möchte ich mit einem Papier beginnen, das meiner Fraktion - genauso wie allen anderen - aus dem Bundeskanzleramt zugestellt worden ist und das mich überrascht hat. In diesem Papier mit der Überschrift „Abstimmung zum nationalen Reformprogramm Deutschlands“, das noch von Herrn Mirow unterschrieben worden ist - er teilt gleichzeitig mit, dass er in seiner Funktion nicht weiterarbeiten wird -, wird festgestellt: Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum ist ein „spannungsfreies Zusammenwirken der makroökonomischen Politikbereiche“. Das hat mich deshalb wirklich überrascht, weil davon in den letzten Jahren in diesem Haus quer durch alle Fraktionen überhaupt nichts mehr zu hören war. Wir lesen dort weiter:

Günstige makroökonomische Rahmenbedingungen sind eine wichtige Voraussetzung für mehr Wachstum und Beschäftigung und verbessern das Umfeld für strukturelle Reformen. 

- Meine Fraktion stimmt diesem Satz ohne jede Einschränkung zu. -

Diese wiederum verstärken den Wirkungsgrad von gesamtwirtschaftlichen Wachstumsimpulsen.

- Auch dieser Satz ist richtig. -

Dazu müssen Finanz-, Geld- und Lohnpolitik spannungsfrei zusammenwirken und mit Strukturreformen verzahnt sein.

- Das ist ein wirklich grundsätzlich richtiger Ansatz. Das Erstaunliche ist nur, dass dieses Papier aus dem Bundeskanzleramt kommt und bisher in dieser Debatte davon überhaupt nicht die Rede war. Nicht im Ansatz konnte man erkennen, dass irgendjemand, bevor er hier ans Podium trat, dieses Papier überhaupt gelesen hatte.

(Beifall bei der LINKEN)

   Nun beginne ich einmal, da es um die makroökonomischen Rahmenbedingungen geht, mit der Geldpolitik. Auch wenn es richtig ist, dass die Geldpolitik von einer Bundesregierung nicht direkt beeinflusst werden kann, so hätte man doch erwarten können, dass, wenn nicht die Bundeskanzlerin, dann zumindest der Wirtschaftsminister irgendetwas zur europäischen Geldpolitik und zu den Rückwirkungen auf die deutsche Wirtschaftsentwicklung sagt. Ich möchte für meine Fraktion im Gegensatz zu einem Nebensatz des Wirtschaftsministers angesichts unserer ökonomischen Situation hier in Deutschland feststellen: Bei fallenden Löhnen - ich komme darauf zurück - und steigenden Energiepreisen ist es völlig falsch, wenn die Europäische Zentralbank jetzt die Zinsen anheben will. Das wird die Wachstumskräfte in Deutschland nicht stärken, sondern eher bremsen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich hätte mir gewünscht, dass zumindest einer einen Gedanken an diese wichtige Rahmenbedingung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland verschwendet hätte.

   Nun komme ich zu dem zweiten Punkt, der Lohnpolitik, die richtigerweise in dem Papier des Kanzleramts angesprochen worden ist. Hier gibt es natürlich keine direkte Mitwirkungsmöglichkeit der Bundesregierung, aber indirekt wirkt sie in großem Umfang auf die Lohnentwicklung in Deutschland hin. Ich werde darauf noch eingehen. Es ist für mich unvorstellbar, wie diese Koalition ökonomischen Erfolg haben will, wenn sie den Sachverhalt zum ersten Mal fallender Bruttolöhne in Deutschland hier noch nicht einmal erwähnt. Sie hat das offenbar überhaupt noch nicht bemerkt.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Zahlen, die bei Tarifabschlüssen genannt werden, sagen überhaupt nichts mehr aus, weil, wie das Konjunkturforschungsinstitut der deutschen Gewerkschaften richtig festgestellt hat, die Tarifentwicklung den Tarifpartnern völlig entglitten ist. Was ist damit gemeint? Es nützt nichts mehr, wenn Tarifverträge mit Lohnerhöhungen von 2 Prozent abgeschlossen werden, gleichzeitig aber Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld und andere Leistungen zusammengestrichen werden.

   Meine Damen und Herren, verehrte Frau Merkel, hören Sie einmal zu! Es ist wirklich ein entscheidender Punkt, dass zum ersten Mal in Deutschland die Bruttolöhne fallen. Wenn Sie das nicht bemerken, dann sind Sie wirklich nicht geeignet, Ihr Amt auszuführen. Dann hat Müntefering Recht gehabt: Sie kann es einfach nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Es wäre auch zu erwarten gewesen, dass sonst jemand in dieser Koalition vielleicht einmal bemerkt hätte, dass wir in Deutschland in einer völligen Ausnahmesituation sind, die es in anderer Form in anderen Ländern überhaupt nicht gibt.

   Ich sage Ihnen: Wenn die Löhne fallen, dann fallen die Renten, und wenn Löhne und Renten fallen, dann gehen auch die sozialen Leistungen zurück. Wer ernsthaft glaubt, in einer solchen Situation könnte die Wirtschaft wachsen, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.

(Beifall bei der LINKEN)

   Ich nenne für die Öffentlichkeit - man hat manchmal Zweifel, ob Zahlen überhaupt noch etwas bewirken können - die Lohnentwicklung der letzten Jahre in Deutschland, in der Europäischen Gemeinschaft und in einigen Schlüsselstaaten. Wir hatten in den letzten zehn Jahren eine Reallohnentwicklung von minus 0,9 Prozent. Eine solch miserable Entwicklung hatte kein Industriestaat in der ganzen Welt. In den hier vielfach beschworenen konkurrierenden Ländern Schweden, Großbritannien und USA haben sich die Reallöhne wie folgt entwickelt: USA plus 20 Prozent, Großbritannien plus 25 Prozent, Schweden plus 25 Prozent. Wer also glaubt, dies habe keine Aussagekraft für die ständige Binnenmarktschwäche in Deutschland, der muss das zunächst einmal erklären. Wir bleiben dabei: Ohne eine gerechte Beteiligung der arbeitenden Bevölkerung am wachsenden Wohlstand wird es kein Wachstum und auch keinen Zuwachs der Beschäftigung in Deutschland geben.

(Beifall bei der LINKEN)

   Nun sagen Sie alle, die entscheidende Schlüsselgröße seien die Lohnzusatzkosten. Sie sagen weiterhin, es sei das zentrale Anliegen der Politik, die Lohnzusatzkosten zu senken. Hier möchte ich darauf hinweisen, dass die Lohnzusatzkosten nur von den Unternehmen so bezeichnet werden.

Sie sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, dass Sie in einem zentralen so genannten Reformbereich eine Sprache übernehmen, die das Volk so nie verwenden würde: Keiner käme auf die Idee, das, was mit Lohnzusatzkosten gemeint ist, Lohnzusatzkosten zu nennen. Ein Rentner würde über seine Rente nie sagen: Das sind Lohnzusatzkosten. Ein Kranker würde über das Geld, das ausgegeben wird, um seine Krankheitskosten zu decken, nie sagen: Das sind Lohnzusatzkosten. Auch ein Pflegebedürftiger würde die Kosten für seine Pflege nicht als Lohnzusatzkosten bezeichnen, genauso wenig wie jemand, der arbeitslos ist. Aber aus der Sicht der Unternehmen sind das alles natürlich Lohnzusatzkosten.

   Sie sagen hier: Im Mittelpunkt unserer Politik steht das Senken der Lohnzusatzkosten. Das heißt: Im Mittelpunkt Ihrer Politik steht, die finanziellen Mittel für Kranke, für Rentner, für Arbeitslose und für Pflegebedürftige zu senken. Zusammengefasst lässt sich sagen: Nichts anderes hat in den letzten Jahren stattgefunden. Aber eine solche Politik wird keinen Erfolg haben, sondern sie ist zum Scheitern verurteilt.

(Beifall bei der LINKEN)

   Mir ist wichtig, auf folgenden Sachverhalt zu sprechen zu kommen: Diese Regierung beeinflusst massiv die Lohnentwicklung - sie ist in Deutschland hundsmiserabel; kein anderer Industriestaat hat eine so negative Lohnentwicklung -, und zwar über die so genannten Strukturreformen und über die so genannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ ist eine Ihrer Lieblingsvokabeln. Leider denkt keiner darüber nach, was das eigentlich heißt. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes heißt: weniger Kündigungsschutz. Da werden die Liberalen sagen: Wunderbar! Flexibilisierung des Arbeitsmarktes heißt: befristete Arbeitsverträge. Auch da werden noch viele sagen: Wunderbar! Flexibilisierung des Arbeitsmarktes heißt, dass der Niedriglohnbereich in Deutschland immer größer wird.

   Zwischen Flexibilisierung des Arbeitsmarktes - Herr Kollege Kauder, ich habe Ihnen gestern zugehört - und der Anzahl der Familiengründungen gibt es einen untrennbaren Zusammenhang. Ich hoffe, dass Sie darüber einmal nachdenken. Ich möchte Ihnen eine These vortragen: Wenn die jungen Leute nur noch befristete Arbeitsverträge haben, wenn sie nur noch niedrige Löhne haben, dann werden die jungen Leute keine Familie mehr gründen und keine Kinder mehr bekommen - da können Sie noch so viele Betreuungseinrichtungen schaffen -, weil sie nicht wissen, ob sie in ein paar Monaten noch Geld auf dem Konto haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Über diesen Zusammenhang müssen Sie nachdenken. Sie haben ihn völlig übersehen.

   Die so genannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes drückt in großem Umfang auf die Lohnentwicklung in Deutschland. Die Zahlen sind so erschütternd und so eindeutig, dass man hätte erwarten können, dass darauf irgendjemand einmal eingeht.

   Nun komme ich zur Finanzpolitik. Sie sagen: Im nächsten Jahr - die genauen Zahlen liegen noch gar nicht vor; es kommt allein auf den tatsächlichen Umfang des Haushaltes an - wollen wir mit der Sparkeule nicht voll zuschlagen. Das ist durchaus ein vernünftiger Ansatz. Im Bundeshaushalt sind - soweit die Zahlen bekannt sind - noch Investitionen in Höhe von 23 Milliarden Euro vorgesehen. Das ist eine erschütternd niedrige Zahl. Auch daran lässt sich festmachen, wo die Probleme in der Bundesrepublik liegen. Es kann nicht angehen, dass wir in Deutschland auf Dauer halb so viel in die öffentliche Infrastruktur investieren wie andere Industriestaaten. Dass das bisher so ist, ist eine der entscheidenden Ursachen für den konjunkturellen Rückgang und für die Schwäche der Beschäftigungsentwicklung in Deutschland.

   Nur wenn die öffentlichen Investitionen auf einem normalen Niveau sind - das ist mindestens das Doppelte des jetzigen Niveaus -, werden wir wieder eine vernünftige Beschäftigungsentwicklung in Deutschland haben.

(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Wo kommt denn das Geld her? Vom Konto der PDS?)

- Nun fragen Sie, verehrter Herr Kauder: Wo kommt das Geld her? Sehen Sie: Wenn man die Lage hier in Deutschland überhaupt analysieren will, dann muss man zu zwei Dingen bereit sein: zum Ersten, die Steuer- und Abgabenquote der Nachbarstaaten zur Kenntnis zu nehmen - in der großen Koalition weigern sie sich permanent, das zu tun -, und zum Zweiten, die Prozentrechnung zu beherrschen. Das ist ja bekanntermaßen schwierig. Allerdings gibt es Sachverständige, die in der Lage sind, die letzte Übung zu machen.

(Dr. Rainer Wend (SPD): Einen schlauen Abgeordneten haben wir im Parlament!)

   - Verehrter Herr Wend, ich möchte Ihnen hier entgegenhalten: Ihre ganze Reformpolitik beruht auf einer einzigen Lüge, nämlich auf der Lüge, dass der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr finanzierbar sei.

   Nun können Sie folgenden Satz widerlegen: Mit der Steuer- und Abgabenquote unserer Nachbarstaaten - die Frankreichs würde schon ausreichen - wäre keine einzige soziale Kürzungsmaßnahme der letzten Jahre nötig gewesen; die ganze Reformpolitik war ein einziger Schwindel und hat Wachstum und Beschäftigung gebremst.

(Beifall bei der LINKEN)

   Sie, Herr Kauder, fragen: Woher kommt denn das Geld? Sie sind nicht verlegen, wenn es darum geht, woher das Geld kommt. Sie kassieren es nur an der falschen Stelle ein.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wer in einer Situation, in der die Schere bei den Einkommen in Deutschland immer weiter auseinander geht, in der die Verteilung von Vermögen immer schiefer wird, nichts anderes zu tun hat - für eine christlich-soziale Partei ist das doch unglaublich! -, als rund 25 Milliarden Euro bei den kleinen Leuten einzukassieren, und zu feige ist, das Geld bei den großen Vermögen einzusammeln, der sollte hier nicht die Frage stellen, verehrter Herr Kauder: Woher kommt denn das Geld?

(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Sie reden Unsinn!)

   Wenn wir nur den Mut hätten - von Mut war doch so viel die Rede -, die Wohlhabenden und die Reichen in Deutschland genauso zur Kasse zu bitten, wie sie in Großbritannien oder in den USA zur Kasse gebeten werden, dann hätten wir pro Jahr 50 Milliarden Euro Mehreinnahmen in den öffentlichen Kassen. Das trifft vielleicht Ihre Vorurteile, aber es ist überprüfbar; jeder kann sich das aus dem Internet herunterladen.

   Ich schließe mit dem Wort eines Millionärs, des Hamburger Reeders Peter Krämer, der Ihre Politik wirklich auf den Punkt gebracht hat. Er sagte: Sie sollten Politik für das Volk machen. Sie machen aber nur Politik für die oberen zehntausend. Das ist wirklich traurig.

(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Wie tief sind Sie gefallen?)

   Eine große Koalition gegen die kleinen Leute wird bei Wachstum, Beschäftigung und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit keinen Erfolg haben.

(Lebhafter Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Wie tief sind Sie intellektuell gefallen?)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorab doch eine Bemerkung zu Herrn Lafontaine; das kann ich mir nicht verkneifen. Herr Lafontaine, Sie haben eben alle aufgefordert, Politik fürs Volk zu machen. Sie sind einer derjenigen, die eine große Gelegenheit dazu hatten. Wenige von uns hatten eine Gelegenheit in dieser Art und Weise. Sie waren Finanzminister dieses Landes. Sie haben offenbar überhaupt keine Lust gehabt, weil es für Sie zu unbequem geworden war, Politik fürs Volk zu machen, obwohl Sie die Gelegenheit hatten. Sie haben sich in die Büsche geschlagen, Herr Lafontaine!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP - Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Von euch würde nie jemand auf die Idee kommen zurückzutreten! Ihr macht ja alles mit!)

   Was Sie hier vorgetragen haben, ist unglaublich, unseriös und feige, Herr Lafontaine. Ich war zu dieser Zeit frisch im Bundestag. Ich war rentenpolitische Sprecherin meiner Fraktion. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass Sie einer der Hauptprotagonisten waren, die verhindert haben, dass wir bei der Rentenreform schnell in die nachhaltige Reform der sozialen Sicherungssysteme eingestiegen sind. Wir hatten schon damals einen großen Nachholbedarf, aber Sie haben auf der Bremse gestanden, weil Sie nicht in der Lage sind, die Realitäten in diesem Land, zum Beispiel die demographische Entwicklung, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, Herr Lafontaine.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Zu Ihren semantischen Übungen in der Frage, ob es nun „Lohnnebenkosten“ oder „Lohnzusatzkosten“ heißt, kann ich nur sagen: Darum geht es nicht. Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, dass die Unternehmen in unserem Land auch ein Problem mit den Zusatzkosten, das heißt mit den zusätzlichen Belastungen, haben. Insbesondere für den Mittelstand sind die Lohnnebenkosten eine hohe Beschäftigungshürde. Wenn wir in Deutschland zukünftige Arbeitsplätze erschließen wollen - darüber reden Sie nicht; darüber redet übrigens auch Herr Glos nicht -, dann müssen wir auch sagen, wie und wo, und dann sind die Lohnnebenkosten ein ganz zentraler Punkt.

   Sie drücken sich hier um die Verantwortung. Deswegen will ich zu dem Übrigen, was Sie zu sagen hatten, keine weiteren Kommentare mehr abgeben.

(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) - Ulrich Maurer (DIE LINKE): Das ist auch gut so!)

   Sehr geehrter Herr Glos, Sie sind der neue Wirtschaftsminister. Ich gratuliere Ihnen dazu. Sie sind Nachrücker für Herrn Stoiber. Interessant ist: Herr Stoiber ist hier körperlich nicht mehr anwesend;

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Aber der Geist schwebt hier drüber!)

von Herrn Ramsauer haben wir aber vernommen, dass sein Geist noch über dem Kabinettstisch schwebt.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, genau!)

Ich hoffe, dass das nicht der einzige Geist ist, der die Arbeit dort beseelt.

(Lachen des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP))

Herr Glos, Sie sind mit großen Vorsätzen ans Podium getreten. Sie haben wie alle anderen in Ihrer neuen Regierung das Mantra wiederholt: Vorfahrt für Arbeit. Ich habe gestern genau zugehört. Ich habe auch heute genau zugehört. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Das Geheimnis, wie Sie Arbeit für die vielen arbeitslosen Menschen in diesem Lande schaffen wollen, haben Sie immer noch nicht gelüftet. Das Konzept gleicht jedenfalls eher einem Schweizer Käse

(Ludwig Stiegler (SPD): Ein gutes Produkt!)

als einem ganzheitlichen Ansatz. Ich will das an verschiedenen Stellen aufzeigen.

   Zunächst einmal haben Sie aus einem Ministerium zwei gemacht; das heißt, wir haben eine wundersame Vermehrung von Ministerien und Posten erlebt. Sie haben sich dann - das ist relevant für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in diesem Lande - den Technologiebereich aus dem Forschungsministerium herausgeschnitten, also dort geplündert. Es geht um einen Bereich, dessen Unternehmen vor allem im CSU-Land Bayern angesiedelt sind. Sie haben uns aber nicht sagen können, was Sie an Technologiepolitik machen wollen.

   Ich finde, das hat durchaus einen Beigeschmack. Aber ich will gar nicht weiter darauf herumreiten. Ich habe darauf gewartet, dass Sie sagen, was Sie denn nun bezüglich der Herausforderungen in diesem Lande, vor denen die Technologie- und Wirtschaftspolitik steht, konzeptionell anzubieten haben. Eines der größten Probleme der Unternehmen in unserem Lande ist die Abhängigkeit vom Öl. Tatsache ist, dass wir die Ölpreisentwicklung als eine große, auch zukünftige Belastung einrechnen müssen. Ich habe von Ihnen, Herr Glos, der Sie doch zukünftig auch für Technologiepolitik zuständig sein werden, nichts darüber gehört, wie Sie unser Land und unsere Unternehmen aus der Abhängigkeit vom Öl herausführen wollen. In der Verkehrs-, Chemie- und Pharmaindustrie sowie im gesamten Energiebereich bedeutet diese Abhängigkeit relevante Kostenbelastungen für die Unternehmen. Es geht hier um Zukunftsbereiche, die in Bezug auf die Beschäftigung eine große Rolle spielen. Auf der Basis Ihrer Konzeptionslosigkeit stolpern wir orientierungslos in diese Zukunftsaufgaben.

   Ich erwarte von Ihnen, Herr Glos, dass Sie eine der größten wirtschaftspolitischen Herausforderungen in diesem Lande annehmen und uns Konzepte dazu liefern, wie die Entwicklung Deutschland zukunftsträchtig, vom Öl nicht so stark abhängig und beschäftigungsintensiv gestaltet werden kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Frau Merkel hat gesagt, wir wollen innerhalb von zehn Jahren mindestens auf den dritten Platz in Europa kommen. Das ist gut. Aber, Herr Glos, dann hätte ich von Ihnen gerne einmal gehört, was Sie dazu zu sagen haben, dass einer unserer größten Beschäftiger, die Automobilindustrie, in technologischer Hinsicht hinten herunterzukippen droht; diese Branche kann im internationalen Konkurrenzkampf keine Zukunftskonzepte mehr aufweisen. Sie hätten uns als Wirtschafts- und Technologieminister einmal sagen sollen, wie wir damit umgehen sollen, dass in Deutschland fortschrittlichste Technologie entwickelt wird, zum Beispiel auf dem Gebiet der Motoren, dass aber diese Technologie von unseren Unternehmen nicht angewandt, sondern verschlafen wird, sodass sie gegenüber den ausländischen Unternehmen in Rückstand geraten. Herr Glos, wenn Sie darauf keine Antwort haben, dann werden Sie auch keine Antwort darauf haben können, wie wir in den Charts in Europa unter die ersten drei kommen sollen.

   Interessant fand ich auch, was Sie nicht erwähnt haben, beispielsweise - auch das ist eine Zukunftsbranche, auf der Sie bisher immer herumgehackt haben - die boomende Branche der Solarindustrie. Ich habe von Ihnen, Herr Glos, nichts dazu gehört. Das macht mich froh; denn immerhin hacken Sie jetzt auf diesem Zukunftsbereich nicht mehr herum.

(Ludwig Stiegler (SPD): Das ist die neue Partnerschaft!)

Möglicherweise haben Sie nach der Wahl tatsächlich begriffen, dass wir, Deutschland, die Wirtschaft, der Mittelstand, gerade im Bereich der alternativen Energien eine große Chance haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Neben dem, was fehlt, bekommen wir einen Flickenteppich von vielen Maßnahmen angeboten: Dass das KfW-Programm weitergefahren wird, finde ich richtig. Die Abschreibungserleichterungen sind richtig. Die Möglichkeit der steuerlichen Absetzbarkeit von Handwerksrechnungen ist vernünftig. Das kleine Investitionsprogramm - 6 Milliarden Euro, ein bisschen durchwachsen - ist okay.

Das ist sozusagen ein Teil der Politik der Trippelschritte, die Sie machen. Dagegen will ich auch nichts einwenden. Ich frage mich nur, Herr Glos, ob diese Trippelschritte der Keule der Mehrwertsteuererhöhung standhalten können, die Sie ja gleichzeitig androhen.

   Interessant bei dieser 3-prozentigen Mehrwertsteuererhöhung ist - Sie haben das heute noch einmal ausdrücklich gesagt -, dass es insgesamt als Ausgleich nur eine Senkung der Lohnnebenkosten von 1 Prozent geben wird. Herr Glos, ich hätte gern von Ihnen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit denjenigen Wissenschaftlern, Unternehmern, Inländern und Ausländern gehört, die zu Recht darauf aufmerksam machen, wie Sie angesichts dieser Keule der 3-prozentigen Mehrwertsteuererhöhung, deren Aufkommen hauptsächlich zum Stopfen der Haushaltslöcher verwendet werden soll, der Gefahr der Preissteigerung, der Zinserhöhung und insbesondere der Vernichtung von Arbeitsplätzen im Mittelstand begegnen wollen. Sie setzen sich mit diesem Problem noch nicht einmal auseinander.

   Ich finde: Das ist wirklich ein risikoreicher Kurs, der in der Presse auch als „Thatcher-Stunt“ bezeichnet worden ist. Das Mindeste, was wir erwarten können, ist, dass Sie das wenigstens einmal prüfen.

   Sie werden sich damit auseinander setzen müssen - da hat Herr Lafontaine Recht -, dass die EZB, wie wir heute in den Nachrichten hören konnten, den Zinssatz nach oben setzen wird. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden: Deutschland ist, was die wirtschaftliche Entwicklung in Europa angeht, noch nicht in der vorderen Reihe zu finden - das wird auch über längere Zeit noch so bleiben; das ist einfach die Realität - und wird daher erhebliche Schwierigkeiten bei einer Anhebung der Zinssätze bekommen. Das gilt besonders für die kleinen Unternehmen. Auch deswegen müssten Sie sich noch einmal mit den Wirkungen der Mehrwertsteuererhöhung auseinander setzen.

   Sie versprechen den Abbau der Arbeitslosigkeit und neue Arbeitsplätze. Aber Sie bieten wenig dafür an. Die Lohnnebenkosten habe ich eben angesprochen; deren Senkung um 1 Prozent ist mager im Vergleich zu dem, was wir in diesem Land erreichen müssen. Erschwerend kommt hinzu, wie Sie diese Senkung der Lohnnebenkosten verwenden. Sie verteilen dieses steuerfinanzierte 1 Prozent auf alle Lohngruppen gleich. Wir alle wissen, dass die Beschäftigungswirkungen von Lohnnebenkosten besonders bei Geringqualifizierten und den Beziehern kleinerer Einkommen zum Tragen kommen. Sie verschenken hier Geld. Wenn wir wenig Mittel zur Verfügung haben, wenn wir in diesem Land sparen müssen - das ist richtig -, müssen wir die wenigen Steuermittel gezielt, und zwar zugunsten der Bezieher kleinerer Einkommen, einsetzen. Für diese müssen wir Arbeit günstiger machen; den Leuten muss hinterher mehr in der Tasche bleiben. Hier können wir, wie Frau Merkel gesagt hat, auch vom Ausland lernen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir brauchen kein Kombilohnmodell - Sie wollen das ja erst noch recherchieren -, das heißt eine flächendeckende Subventionierung von niedrigen Einkommen. Das ist übrigens auch sehr teuer. Vielmehr brauchen wir den gezielten Einsatz für mehr Beschäftigung im Dienstleistungssektor und in der Pflege, in den Bereichen, wo neue Tätigkeitsfelder entstehen können. Da ist bei Ihnen Fehlanzeige.

   Unsere Alternativen sehen wie folgt aus: Lassen Sie uns gezielt neue Beschäftigungsmöglichkeiten in den Bereichen Umwelt- und Energietechnologie - weg vom Öl - fördern und die knappen Mittel, mit denen wir sparsam umgehen müssen, gezielt zur Senkung der Lohnnebenkosten in dem Bereich gering qualifizierter Beschäftigung verwenden! Dann werden wir, auf zwei Standbeinen, zukünftige Beschäftigung möglich machen und müssen nicht solchen Modellen wie dem Kombilohnmodell aus den USA hinterherlaufen.

   Ich muss zum Schluss kommen.

Ich hätte gerne - das werde ich jetzt aber nicht tun - noch etwas zum Bürokratieabbau gesagt.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Aber Sie hätten schon längst zum Schluss kommen müssen.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, das habe auch ich gerade gesehen. Über den Bürokratieabbau werden wir noch in Zukunft reden können.

   Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Laurenz Meyer das Wort.

Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU):

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Dückert, ich möchte zunächst auf Ihre Ausführungen eingehen. Es ist doch einfach so, dass wir vor dem Hintergrund derjenigen Situation diskutieren, die Sie in diesem Hause zum Teil mit verschuldet haben - ich würde sogar fast sagen: wesentlich mit verschuldet haben -,

(Dirk Niebel (FDP): Und Ihre neuen Freunde! Das wollen wir nicht vergessen!)

was Staatsverschuldung, Wirtschaftswachstum und Erwerbstätigenzahlen betrifft. Aber wir schauen in der großen Koalition nicht zurück, sondern nach vorne, wie wir die Probleme lösen können. Angesichts der Vorgaben für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigtenzahlen kann man sagen, dass ehrgeizige Ziele Grundlage für die Haushaltskonsolidierung sind.

   Die Koalitionsvereinbarung zeigt vor allen Dingen eines - ich glaube, das ist für uns und für viele in der Öffentlichkeit ganz wichtig zu begreifen -: Es gibt nicht den einen Schalter, den man umlegen muss, um zu neuen Arbeitsplätzen und zu mehr Wirtschaftswachstum zu kommen, sondern es handelt sich um eine Vielzahl von verschiedenen Einzelmaßnahmen, die zusammenwirken müssen, damit sich hinterher Erfolge einstellen.

   Ich will einen zweiten Punkt ausdrücklich herausstreichen. In dieser Koalitionsvereinbarung wird eine Erkenntnis umgesetzt, die ich für ganz wichtig halte, nämlich die Erkenntnis, dass zwischen kleinen und großen Unternehmen Welten liegen. Die kleinen Unternehmen haben ganz andere Probleme und Sorgen als die großen Unternehmen, die sich zu einem guten Teil in der globalisierten Welt zu helfen wissen.

   Wir wollen mit den Maßnahmen anfangen, die kein Geld kosten. Ich bin sehr froh darüber, dass die Zuständigkeit für den Bürokratieabbau, was die Koordinierung betrifft, zur Chefsache gemacht worden ist. Es wurden hier schon Punkte angesprochen, die für die kleinen Unternehmen wichtig sind. Herr Brüderle, da werden wir sicherlich zusammenarbeiten können. Jede gute Idee von Ihnen in diesem Zusammenhang ist wertvoll. Ich nenne beispielsweise Statistikpflichten, Dokumentationen, Buchführungsprobleme, Probleme bei Planungs- und Genehmigungsverfahren, Mehrfachprüfungen, Schwellenwerte und das „Beauftragtenunwesen“. Lassen Sie uns das alles gemeinsam angehen und zusammen mit den Ländern den Förderdschungel lichten, damit insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen bessere Zukunftschancen haben!

(Beifall bei der CDU/CSU)

   In dem Zusammenhang ist ein Punkt von besonderer Bedeutung. Wir wollen nicht mehr danach gehen, wie viele Vorschriften abgeschafft werden können, sondern danach, wie viele Kostenfaktoren für den Mittelstand beseitigt werden können. Diese zentrale neue Frage, die in den Niederlanden schon länger Grundlage der Beurteilung ist - an das dortige Standardkostenmodell können wir anknüpfen -, sollten wir uns zur Vorgabe machen.

   In Sachen Bürokratieabbau muss die Vereinbahrung zwischen Parlament und Regierung umgesetzt werden und ein Vorwarnsystem, was die EU-Bürokratie angeht, aufgebaut werden. Das hat der Kollege Stiegler schon angesprochen. Es ist eine neue Erfahrung für mich, Herr Stiegler - für Sie sicher auch -, dass wir uns gegenseitig in diesem Parlament Recht geben. Das ist eine lehrreiche Erfahrung. Ich gewöhne mich erst langsam daran.

(Ludwig Stiegler (SPD): Sie sind noch eingerostet!)

   Wir sollten auch überlegen, wie wir unseren Vorschlag zu den Bündnissen für Arbeit - da hatte die SPD zunächst noch große Vorbehalte - mit den Kollegen in den Betrieben umsetzen können. Wir müssen im Rahmen der Tarifverträge mehr Beweglichkeit schaffen. Dieser Punkt ist sicherlich noch offen. Aber gerade für die mittelständischen Betriebe müssen wir mehr Beweglichkeit schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ein weiterer großer Schwerpunkt. Neu ist, welche Breite das Problem der Unternehmensfinanzierung in der Koalitionsvereinbarung einnimmt. Dieses Problem ist gerade für die kleinen und mittleren Unternehmen entscheidend. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Stichworte: Beteiligungs-/Wagniskapital, Rolle der KfW, Basel II, Verbesserung der Eigenkapitalsituation in den Unternehmen.

   Diese Fragen hängen nach meiner Meinung auch - damit müssen wir uns intensiv auseinander setzen - mit der Alterssicherung zusammen. Wenn es uns gelingen würde, Ansätze zu finden, die Eigenkapitalbildung in mittleren Unternehmen mit der betrieblichen Altersvorsorge von Mitarbeitern zu verbinden, ohne dass das Arbeitsplatzrisiko und das Vermögensrisiko kumulieren, dann hätten wir einen richtig großen Wurf geschafft.

Auch mit diesen Fragen sollten wir uns beschäftigen.

   Der Wirtschaftsminister hat die Punkte Forschung und Entwicklung, Bildung und Innovationen im Verbund von Wirtschaft und Wissenschaft angesprochen. Dies ist eine zentrale Frage. Ich kann dazu nur den Satz wiedergeben, den die Bundeskanzlerin seit einiger Zeit fast wie eine Fahne vor sich herträgt und der so einfach und richtig ist wie nichts anderes. Sie sagt: Wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind. - Genau das ist die Kernbotschaft, die wir umsetzen müssen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir müssen endlich die Innovations- und Erneuerungsfeindlichkeit in diesem Land beseitigen. Das geht bis weit in die Bevölkerung hinein; das betrifft nicht nur alle Mitglieder in diesem Parlament.

   Herr Brüderle, Sie haben das Stichwort Steuererhöhungen angesprochen. Steuererhöhungen tun weh, und zwar uns allen schon bei der Beschlussfassung. Die tun sicherlich jedem weh. Aber Sie werden gewiss so redlich sein, zuzugeben, dass auch jede Ausgabenkürzung, die Sie vorschlagen, das Portemonnaie von Unternehmen und Bürgern betrifft. Jede Ausgabenkürzung im Staatshaushalt hat volkswirtschaftlich die gleiche Wirkung wie Steuererhöhungen.

(Widerspruch bei der FDP)

Die Frage ist nur: Wo kommen sie an und woher kommen sie? Wenn ich mir dazu die FDP-Programme ansehe, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass es die FDP war, die die Umschichtung von direkten auf indirekte Steuern besonders markig gefordert hat.

(Zurufe von der FDP)

   Der Unterschied ist - lassen Sie uns darüber wirklich ernsthaft reden -, dass ein Teil dieser Steuererhöhungen - leider Gottes ist es aufgrund der Haushaltssituation nur ein Teil - dafür verwendet wird, die Sozialkosten zu senken. Richtiger als Ihr Konzept, von direkten auf indirekte Steuern umzuschichten, ist es nämlich, Sozialversicherungskosten über Steuern zu finanzieren. Wenn es uns gelingt, die Haushaltssituation in den Griff zu bekommen, müssen wir auf diesem Weg weiter voranschreiten, damit wir eine sozial gerechtere Verteilung der Sozialversicherungskosten hinbekommen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich möchte zumindest kurz - die Zeit verbietet es, mehr dazu zu sagen - auf den Aufbau Ost eingehen. Voraussetzung für das Gesunden der deutschen Volkswirtschaft ist, dass wir insbesondere im Osten weiterkommen. Zuallererst müssen wir darangehen, den Anteil der Langzeitarbeitslosen - im Osten sind fast 45 Prozent aller Arbeitslosen langzeitarbeitslos; in Deutschland insgesamt sind es 40 Prozent - zu reduzieren. Deshalb, Frau Dückert, müssen wir sehr wohl über Kombilohnmodelle sprechen: Wie wollen wir diejenigen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind und weder Schulabschluss noch Berufsausbildung haben, in den Arbeitsmarkt integrieren, wenn wir nicht zu Lösungen kommen, wie wir sie im Rahmen des Kombilohns vorsehen? Wollen wir diese Menschen abschreiben, weil sie angesichts unserer heutigen Beschäftigungsverhältnisse möglicherweise nur noch zu ganz niedrigen Löhnen eine Beschäftigung finden können, oder finden wir intelligente Lösungen, die dem Einzelnen einen höheren Lebensstandard ermöglichen, als er ihn mit reinen Sozialtransfers hätte, und ihn zusätzlich in die Lage versetzen, einer Arbeit nachzugehen?

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Meine Damen und Herren, ich muss aus Zeitgründen zum Abschluss kommen und möchte Ihnen sagen: Wachstum und Arbeitsplätze sind die Voraussetzung für all das, was wir uns in Bezug auf die sozialen Sicherungssysteme und bei der Haushaltssanierung vorgenommen haben. Herr Lafontaine, es war schon ziemlich eindimensional, was Sie hier vorgetragen haben. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Menschen im Land wieder Geld ausgeben können, ist, dass wir ihnen die Angst nehmen, den Arbeitsplatz zu verlieren. Diese Angst muss den Menschen genommen werden. Mehr Planbarkeit, mehr Verlässlichkeit, mehr Sicherheit, das sind die richtigen Voraussetzungen für die Unternehmen und die Menschen in diesem Land. Darum geht es uns.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Nichts anderes hat er gesagt! Die Frage ist, was Sie dafür tun!)

Wir haben für 2006, 2007 und 2008 bestimmte Zeitpläne aufgestellt, damit die Unternehmen wieder Vertrauen gewinnen zu investieren, die Bürger keine Angst mehr haben, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und die Konsumfreudigkeit im Land insgesamt wieder steigt.

   Wir als Wirtschaftspolitiker werden den Wirtschaftsminister nach Kräften unterstützen, wenn er sich in andere Gebiete einmischt. Wirtschaftspolitik ist eine Querschnittsaufgabe und da hat Herr Glos unsere volle Unterstützung.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort hat nun der Kollege Rainer Wend, SPD-Fraktion.

(Dirk Niebel (FDP): Der muss sich wenigstens nicht verstellen!)

Dr. Rainer Wend (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte zunächst Ihnen, Herr Glos, ganz herzlich zu der nicht zu jedem Zeitpunkt nach der Bundestagswahl erwarteten Ernennung zum Bundesminister für Wirtschaft und Technologie gratulieren. Gleichzeitig möchte ich Ihnen auf Basis der Koalitionsvereinbarung die loyale Unterstützung der SPD-Fraktion für die Zeit der großen Koalition „androhen“.

   Ich habe mich natürlich besonders darüber gefreut, dass Sie die Manager, die Unternehmer in diesem Land dazu aufgefordert haben, dieses Land nicht länger schlecht zu reden. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn auch bei der parlamentarischen Basis von FDP und PDS endlich ankommen würde, dass unser Land Optimismus und Vertrauen braucht und dass sich die Investition in Vertrauen in dieses Land lohnen wird.

   Zu FDP und PDS generell möchte ich sagen, dass ich es durchaus genieße, wenn sie sich wechselseitig Beifall zollen. Das ist eine ganz interessante Erfahrung. Herr Brüderle, Sie sagen, dass die Koalitionsvereinbarung eine Sozialdemokratisierung unseres Landes bedeute. Die andere Seite sagt zur Koalitionsvereinbarung, sie führe zu einer Neoliberalisierung unseres Landes. Wenn die beiden Ränder des politischen Spektrums zu diesen unterschiedlichen Bewertungen kommen, kann das, was die große Koalition in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat, nicht so ganz falsch sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Herr Lafontaine, Sie haben gerade den Versuch einer populärwissenschaftlichen Vorlesung, gemischt mit populistischen Verführungen, unternommen. Ich nenne ein Beispiel: Sie sagen, wenn wir die Steuerquote in unserem Land endlich so hoch setzen würden wie andere Industrieländer, dann könnten wir die finanziellen Wohltaten viel besser finanzieren.

(Zuruf von der LINKEN: „Wohltaten“! Dass ein Sozialdemokrat von „Wohltaten“ redet! Unglaublich! Dass ich das erleben durfte!)

Die Wahrheit ist aber, dass Länder, die eine höhere Steuerquote haben, geringere Lohnnebenkosten und geringere Abgaben haben, weil sie einen höheren Anteil der Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme über die Steuern finanzieren. Wenn Sie den Anteil der Steuern und Abgaben zusammen betrachten würden, wüssten Sie, dass in unserem Land an dieser Stelle Handlungsbedarf besteht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU - Zuruf von der LINKEN: Sie haben keine Ahnung!)

   Lassen Sie mich überhaupt etwas zum Thema „PDS und Populismus“ sagen. Herr Lafontaine, wenn Sie in dieser sich rasant verändernden Welt, in einer Welt, in der ein Land, das vor 25 Jahren noch Entwicklungsland war, uns heute auf den Weltmärkten Konkurrenz macht, in der ein Land wie China die Rohstoffe unserer Welt aufkauft - verbunden mit den entsprechenden Problemen -, in der der Wegfall des Eisernen Vorhanges zu Konkurrenzsituationen um Investitionen und Arbeitsplätze führt, in der die demographische Entwicklung derart ist, dass die Menschen vor 40 Jahren noch 66 Jahre alt wurden und in 30 Jahren schon jede dritte Frau 100 Jahre alt werden wird, mit den alten Rezepten antworten wollen, dann sind Sie populistisch. Sie versprechen den Menschen Sicherheiten, die keine Sicherheiten mehr sind. Das ist der wirkliche Schaden für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Was ist die Aufgabe, vor der wir als große Koalition stehen? Die Bundeskanzlerin hat es zu Recht vorgegeben: Wir wollen wieder Wachstumslokomotive in Europa werden. Wie schaffen wir das? In der Koalitionsvereinbarung haben wir einen Dreiklang aus Reformieren der sozialen Sicherungssysteme - darüber wird an anderer Stelle zu sprechen sein -, Sanieren, das heißt Haushaltskonsolidierung, und Investieren, das heißt Setzen von Wachstumsimpulsen, festgelegt.

   Zum Thema Haushaltskonsolidierung. Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck, sondern liegt im Interesse der kommenden Generationen. Sie ist aber auch aus ökonomischen Gründen erforderlich; denn mittel- und langfristig wird es kein Vertrauen in einen Investitionsstandort Deutschland geben, wenn es uns nicht gelingt, den Haushalt unseres Landes in den Griff zu bekommen. Von daher kommen wir an einer Sanierung unseres Haushalts, auch wenn es schmerzhaft ist, nicht vorbei.

   Ich möchte kurz einige Projekte zum Thema Investieren nennen; denn wir Wirtschaftspolitiker haben natürlich Wert darauf gelegt, in der Koalitionsvereinbarung festzulegen, dass wir auf Wachstumsimpulse setzen, idealerweise in einer Form, dass sie den Haushalt nicht zusätzlich belasten.

   Ich nenne als Erstes das Projekt öffentlich-private Partnerschaften oder Public Private Partnership, nachdem die Bayern nun auch das Englische hier eingeführt haben. Es ist ohne Zweifel so, dass die öffentlichen Institutionen, vor allen Dingen die Gemeinden, nicht mehr ausreichend investieren und dass unser Wachstum darunter leidet. Wir wissen, dass vor allen Dingen die Handlungsmöglichkeiten der Kommunen begrenzt sind. Zum Thema Verschuldung habe ich schon etwas gesagt. Es liegt auf der Hand, dass wir privates Kapital stärker nutzen wollen, um gemeinsam mit der öffentlichen Hand Investitionen vorzunehmen. Dies ist nicht ganz neu. In anderen Ländern allerdings wird es besser umgesetzt.

   Wir haben Hemmnisse, die es erschweren, gemeinsam - private und öffentliche Hand - zu investieren. Diese Hemmnisse werden wir beseitigen. Dabei geht es um Veränderungen im Krankenhausfinanzierungs- und Sozialhilfegesetz. Dabei geht es zum Beispiel auch darum, steuerliche Gleichbehandlung von solchen Public-Private-Partnership-Projekten bzw. öffentlich-rechtlichen Projekten zu gewährleisten. Das ist Kärrnerarbeit, das ist schwierige gesetzgeberische Arbeit. Wir als große Koalition werden uns an diese Arbeit machen.

   Das zweite große Thema ist bereits von mehreren angesprochen worden: Bürokratieabbau. Ich will jetzt nicht mehr lange darüber lamentieren und nur noch eines sagen: Es haben sich Regierungen, und zwar mit den besten Absichten, egal ob sozialdemokratisch oder christdemokratisch geführt, egal ob mit Grünen oder Liberalen, an diesem Thema versucht. Teilweise sind Erfolge erzielt worden; ich will das nicht kleinreden. Aber unter dem Strich ist wenig dabei herausgekommen, weil die Beamten, die damit befasst wurden, eher neue Hürden gefunden haben, als alte abzuschaffen. Deswegen brauchen wir einen neuen Ansatz.

   Der neue Ansatz ist folgender Versuch: In den Niederlanden ist ein Modell entwickelt worden - Kollege Meyer hat das angesprochen -, mit dem die volkswirtschaftlichen Kosten berechnet werden, die den Unternehmen nur aufgrund von Berichtspflichten, die ihnen die Europäische Union, der Staat, das Land und die Kommune auferlegt haben, entstehen. Es geht nur um Berichtspflichten. Die Holländer haben festgestellt, dass diese Berichtspflichten auf ihr Land bezogen 20 Milliarden Euro volkswirtschaftliche Kosten verursachten. Sie haben im Parlament beschlossen - übrigens einstimmig; es wäre prima, wenn auch wir so etwas erreichten -, ein Viertel dieser 20 Milliarden Euro im Laufe einer Legislaturperiode einzusparen. Das sind über den Daumen gepeilt 5 Milliarden Euro.

   Wenn wir das einmal auf das deutsche BIP übertragen würden - wir können fast sicher sein, dass die Bürokratiekosten bei uns nicht niedriger liegen als bei den Holländern -, würden wir feststellen, dass das 80 Milliarden Euro volkswirtschaftliche Kosten nur durch bürokratische Berichtspflichten für die Unternehmen sind. Wenn wir hier beschlössen, dass wir diese volkswirtschaftlichen Kosten ebenfalls innerhalb von vier Jahren um 25 Prozent reduzieren, dann könnten wir den Unternehmen rund 20 Milliarden Euro ersparen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Die Holländer haben allein aus diesen Maßnahmen ein Wirtschaftswachstum von etwa 1,5 Prozent geschöpft.

(Dirk Niebel (FDP): Welche liberale Partei regiert dort?)

Wir sollten die Chance ergreifen, wenn wir sehen, dass andere Länder etwas gut machen, und es dann einfach nachmachen. Vielleicht machen wir es sogar noch ein bisschen besser. Das ist ein Erfolg versprechendes Modell von Bürokratieabbau, um das sich diese Koalition kümmern wird.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Ich nenne als dritten Bereich Investitionen und Unterstützung für Handwerk und Mittelstand. Genannt wurde bereits die deutliche Verbesserung der Abschreibungsbedingungen bis zum 31. Dezember 2007. Wir wollen bei der Umsatzsteuer die Grenze für den Umsatz, ab der die Istbesteuerung und nicht die Sollbesteuerung greift, anheben, um dem Handwerk eine Liquiditätsunterstützung zu geben.

   Wir werden das Erbschaftsteuerrecht verändern. Wie lange wurde darum gekämpft? In dieser Legislaturperiode werden wir umsetzen, dass Mittelständlern, wenn ein Unternehmen von den Erben zehn Jahre fortgeführt wird, die Erbschaftsteuer erstattet wird. Das ist ein klares Angebot an Handwerk und Mittelstand.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Wir wollen ermöglichen, dass private Aufwendungen für Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen im Haushalt von der zu zahlenden Einkommensteuer abgesetzt werden können, um damit für das Handwerk bessere Bedingungen zu schaffen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir machen, was den Haushalt angeht, übrigens noch etwas - darüber bin ich persönlich sehr froh -: Wir wollen dafür sorgen, dass auch die Kosten für Haushaltskräfte in Zukunft steuerlich absetzbar sind.

(Beifall des Abg. Dirk Niebel (FDP))

   Warum ist das gut? Erstens ist das vor dem Hintergrund des Arbeitsmarktes gut, weil in dem Bereich der weniger gut Qualifizierten etwas brachliegt; hier können Arbeitsplätze entstehen. Zweitens ist das aber auch aus gesellschaftspolitischen Gründen wichtig; denn es geht darum, im Haushalt die Kindererziehung und in Zukunft in zunehmendem Maße auch die Pflege älterer Menschen möglich zu machen. Wenn wir dieses gesellschaftspolitische Anliegen mit einem arbeitsmarktpolitischen Effekt verbinden können, dann wären wir töricht, wenn wir das nicht tun würden.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Wend, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Dr. Rainer Wend (SPD):

Selbstverständlich, Herr Kollege Niebel, Herr Generalsekretär, Entschuldigung.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)

Dirk Niebel (FDP):

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Wend, würden Sie mir zustimmen, dass gerade Ihre Fraktion den privaten Haushalt als Arbeitgeber unter dem Stichwort „Dienstmädchenprivileg“ in steuerrechtlicher und natürlich auch in politischer Hinsicht immer diskriminiert hat,

(Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Nein! Das waren immer die FDP-Abgeordneten!)

und würden Sie mir auch zustimmen, dass die von Ihnen genannten positiven Effekte der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze auch mit Blick auf private Haushalte als Arbeitgeber bereits in der Vergangenheit hätten genutzt werden können, wenn bestimmte ideologische Denkschemata früher hätten aufgebrochen werden können?

Dr. Rainer Wend (SPD):

Herr Kollege Niebel, ich würde mich in ganz besonderer Weise darüber freuen, wenn Sie in den nächsten Monaten die Kraft aufbringen würden, uns bei den Maßnahmen, die erforderlich sind, zu unterstützen. Wenn die FDP-Fraktion in einer ähnlichen Geschwindigkeit wie andere Fraktionen Lerneffekte erzielen könnte, dann könnten wir gemeinsam in diesem Haus noch einiges zustande bringen, Herr Kollege Niebel.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Einen letzten Punkt würde ich gerne noch erwähnen, weil er besonders wichtig ist, auch wenn er wahrscheinlich nicht kurzfristig wirkt. Dabei geht es um Investitionen in Forschung und Wissenschaft. Wir alle wissen: Das Grundproblem in unserem Land ist nicht so sehr die Grundlagenforschung; hier sind wir verdammt gut. Das Problem ist die Umsetzung der Forschung in die Produktion. An dieser Stelle liegen die Schwierigkeiten.

   Wie wollen wir dieses Problem anpacken? Wir wollen die Zusammenarbeit von Forschung und Wirtschaft verbessern. Wir wollen Ausgründungen aus der Universität durch die Zusammenarbeit von universitärer Forschung und Wirtschaft verbessern und an dieser Stelle die Clusterbildung fördern. Wir wollen ferner insbesondere den Mittelstand bei der Entwicklung neuer Technologien unterstützen. Als Stichwörter nenne ich die Nanotechnologie, die Luft- und Raumfahrt und den Anlagebau. Wie Sie sehen, kümmern wir uns also nicht nur um Maßnahmen, die kurzfristig wirken sollen, sondern wir wollen die Strukturen in unserem Land auch mittel- und langfristig verändern, um die Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung zu verbessern.

   Meine Damen und Herren, die große Koalition hat sich in den letzten Tagen nicht zugejubelt. Das muss bei einem solchen Start auch nicht sein. Diese Koalition ist eine Arbeitsbeziehung, die vielleicht noch nicht von solchen Emotionen geprägt ist, wie es bei anderen Koalitionen der Fall war. Aber so, wie unser Land derzeit aufgestellt ist, muss das nicht die schlechteste Voraussetzung für erfolgreiche Politik sein.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Letzte Rednerin zu diesem Themenbereich ist die Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion.

Annette Faße (SPD):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierung will mehr Wachstum und diese Regierung will mehr Beschäftigung. In einem Sektor, der heute noch gar nicht angesprochen worden ist, ist dies bisher gut geleistet worden. In diesem Sektor, dem Tourismus, haben wir gute Chancen, in der Zukunft Wachstum und Beschäftigung zu verwirklichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Im Tourismusbereich sind allein in Deutschland 2,8 Millionen Menschen direkt und indirekt beschäftigt. Das sind mehr Menschen, als in der Elektro- und der Automobilindustrie sowie im Maschinen- und Anlagenbau zusammen arbeiten, und diese Arbeitsplätze können nicht verlagert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, auch die kritischen Bereiche anzugehen. Auf diesen Arbeitsfeldern zum Beispiel haben wir es in großem Umfang mit Schwarzarbeit zu tun. Auch das ist ein Ziel der Koalition: diese illegalen Arbeitsplätze in legale Arbeitsplätze zu verwandeln.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Mit über 104 000 Ausbildungsplätzen in zwölf Ausbildungsberufen stellt diese Branche 7 Prozent aller Ausbildungsplätze in Deutschland. Um es auch an dieser Stelle ganz klar zu sagen: Am Jugendarbeitsschutzgesetz wird nicht gerüttelt werden; damit wissen die Verbände gleich, woran sie sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Auf zwei Dinge möchte ich besonders aufmerksam machen: Erstens. Die Tourismuswirtschaft schafft Binnennachfrage. Zweitens. Die Tourismuswirtschaft ist ein Beschäftigungsmotor - beides Dinge, denen in den nächsten Jahren unser ganzes Handeln gelten muss. 2004 war ein Rekordjahr: Es wurden über 42 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen; das ist eine Steigerung von 4,9 Prozent. Über 116 Millionen Gäste brachten den Beherbergungsbetrieben einen noch nie da gewesenen Höchststand; das ist gegenüber dem Vorjahr ein Plus von 3,4 Prozent. Mit über 338 Millionen Übernachtungen konnte dies auf dem hohen Niveau des Vorjahres stabilisiert werden. Die Zahlen machen deutlich, dass es mit der Tourismuswirtschaft um einen Bereich geht, in den zu investieren sich lohnt und in dem aktiv zu werden sich für die neue Regierung ebenfalls lohnt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Nach den Prognosen der Welttourismusorganisation wird der europäische Markt bis 2020 jährlich um 3 Prozent wachsen. Unser Auftrag muss es sein, von diesem Kuchen ein großes Stück für Deutschland herauszuschneiden. Um dieses zu erreichen, indem wir die Werbung für Deutschland im Ausland und auch das Inlandsmarketing weiter stärken, steht in der Koalitionsvereinbarung, dass wir die Deutsche Zentrale für Tourismus weiter auf einem hohen Niveau fördern werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jeder Euro, der für Marketing eingesetzt wird, kommt drei- bis vierfach wieder zurück. Das ist eine lohnende Branche und darum begrüße ich diesen Part in unserer Koalitionsvereinbarung sehr.

   Wir müssen uns im Tourismusbereich sehr schnell anpassen - und damit auch die gesamte Tourismuswirtschaft: Wir haben es mit neuen Trends zu tun, auf die wir nicht erst mit einem halben oder einem Jahr Verzögerung reagieren dürfen, sondern die wir vorbereiten müssen, um dann auch das Angebot machen zu können, das die Menschen in unserem Lande und das die ausländischen Gäste von uns verlangen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die Menschen in diesem Lande werden in Zukunft weiterhin sehr reisefreudig sein, aber wir werden gerade bei den Senioren ein anderes Reiseverhalten haben. Ich sage ganz deutlich: Die Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Tourismus werden in diesem Jahr und in dieser Legislaturperiode ein Schwerpunkt für uns sein. Denn wir haben nicht mehr die Senioren, die alleine mit dem Reisebus durch die Gegend fahren wollen, sondern wir haben die, die im Reisen erfahren sind. Die Senioren wollen auch nicht unbedingt ein Kurkonzert besuchen, sondern vielleicht einen Jazzfrühschoppen. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, werden auch wir sein: die reisen wollen in Deutschland und die reiseerfahren sind. Darauf muss die Branche sich einstellen.

   Wir haben 2006 besondere Ereignisse in Deutschland. Ein besonderes Ereignis möchte ich ansprechen, weil es für den Tourismus einfach eine Chance ist: Das ist die Fußballweltmeisterschaft. Die Branche ist darauf eingestellt, viele Gäste zu empfangen: Es wird damit gerechnet, dass wir 3 Millionen zusätzliche Besucher in Deutschland begrüßen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Multiplikatoren aus der ganzen Welt. Diese Chance gilt es zu nutzen. Nicht nur die Fernsehübertragung sollte Deutschland als gastfreundliches Land darstellen, sondern auch Deutschland sich selbst. Dieser Aspekt ist für unser Land ein sehr wichtiger Aspekt.

   Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir die Tourismuswirtschaft in diesem Land weiter stärken können, zusammen mit unserem Wirtschaftsminister, den ich hiermit ganz herzlich auch in den Ausschuss einladen möchte. Denn die Tourismuswirtschaft ist ein boomender Markt für Deutschland und ich hoffe, dass Sie alle mitmachen, dass das auch so bleibt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.

   Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/86 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

   Wir kommen nun zum Themenbereich Umwelt.

   Außerdem rufe ich Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

Den Klimawandel wirksam bekämpfen - Deutschland muss Vorreiter bleiben

- Drucksache 16/59 -

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

   Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungserklärung den Satz von Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen“ aufgegriffen und mit den Worten „mehr Freiheit wagen“ ergänzt.

   Wollte man dem Umweltkapitel des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD ein ähnliches Motto geben, so würde es wohl lauten: Mehr Fairness wagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Denn darum geht es, um mehr Fairness im Umgang mit den Lebenschancen überall auf der Welt und um mehr Fairness im Umgang mit der Zukunft unserer eigenen Kinder und Enkelkinder. Diese Fairness haben viele Menschen schon heute und haben in Zukunft wir selber bitter nötig.

   Es ist unfair, dass nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation schon heute jährlich 150 000 Menschen an Gesundheitsproblemen infolge des Klimawandels sterben. Es ist unfair, dass Hunderttausende Kinder sterben, weil sie infolge des Klimawandels nicht ausreichend Wasser zur Verfügung haben. Es ist auch unfair, dass der Kontinent mit den niedrigsten CO2-Emissionen, nämlich Afrika, am meisten unter den Folgen von zunehmender Erwärmung, Trockenheit und Dürre zu leiden hat. Wer riesige Flüchtlingsströme, Krieg und Bürgerkrieg in Zukunft verhindern will, der muss dafür sorgen, dass Wasser vorhanden ist und dass die Menschen in ihrer Heimat überhaupt Lebenschancen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Es ist unfair, dass die weltweite Vernichtung des Naturkapitals zukünftige Generationen in riesige Schwierigkeiten bringen wird. Urwälder verschwinden, die Meere und die großen Süßwasserseen werden ausgeraubt, Lebensräume werden zerstört und mit Nährstoffen überfrachtet. Ohne intakte Ökosysteme ist eine nachhaltige Nutzung undenkbar. Gerade in den ärmsten der armen Länder dieser Erde führt dies zu einem Teufelskreis aus Armut, Zerstörung und Hunger.

   Es ist übrigens auch unfair, unseren eigenen Kindern und Enkelkindern, die in den Alpen oder an der Küste Norddeutschlands leben wollen, ihre Heimat zu nehmen, wenn sie in 50 oder 100 Jahren Schnee oder Gletscher nicht mehr kennen und die Sturmfluten an den Deichen immer gefährlicher werden.

   Deshalb ist das zentrale Projekt der Umweltpolitik dieser Bundesregierung der Klimaschutz. Das Umweltkapitel des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und SPD umfasst weit mehr Themen, die auch von großer Bedeutung sind. Wenn ich diese heute nicht im Einzelnen referiere, hat das nichts damit zu tun, dass wir sie vernachlässigen wollen. Aber es gibt, wie ich glaube, wirklich ein menschheitsbedrohendes Problem, das in den letzten Jahren immer deutlicher geworden ist.

   Wir knüpfen damit nicht nur an die Politik der Vorgängerregierung von SPD und Grünen an, sondern übrigens auch an die Erfolge der heutigen Bundeskanzlerin in ihrer Zeit als Bundesumweltministerin. Sie war es, die das Berliner Mandat auf der Vertragsstaatenkonferenz zum Kioto-Protokoll 1995 hier in Berlin durchsetzen konnte.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei der CDU/CSU)

   Heute wissen wir: Klimaschutz ist zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden. Klimaschutz ist ein Gebot der Fairness und der Gerechtigkeit. Klimaschutz wahrt Zukunftschancen und sichert, ohne dass man dafür viel Pathos aufwenden muss, in vielen Teilen der Welt das Recht der Menschen auf Leben. Deshalb setzt sich die neue Bundesregierung in Montreal für ein internationales Klimaschutzregime für die Zeit ab 2012 ein. Die Europäische Union sollte sich multilateral verpflichten, bis 2020 30 Prozent ihrer Treibhausemissionen zu reduzieren. Ich werbe dafür, dass sich Deutschland dann verpflichten kann - auch das steht im Koalitionsvertrag -, deutlich mehr einzusparen, als wir uns bereits heute vorgenommen haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Meine Damen und Herren, wir wissen, dass viele Länder der Welt in Gefahr sind, die Kioto-Ziele zur Senkung der Treibhausgase zu verfehlen. Der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer hat in diesen Tagen gesagt: Die Weltgemeinschaft reagiert zu langsam. Wir wissen, dass der Bremsweg im Klimaschutz sehr lang ist. Was wir heute falsch machen oder unterlassen, wird sich in 30 oder 40 Jahren bitter rächen.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt)

   Man muss aber auch sagen, dass man bei aller Kritik an dem, was wir bisher trotz Kioto erreicht oder nicht erreicht haben, kein anderes Instrument so gut ausbauen kann wie das Kioto-Protokoll. Wenn ein Baby noch nicht richtig laufen, sondern nur krabbeln kann, dann geben wir es ja auch nicht zur Adoption frei, sondern dann wollen wir ihm das Laufen beibringen.

   Allerdings brauchen wir mehr Anreize für die Entwicklungsländer, ihre Entwicklung unter Vermeidung zu hoher Kohlendioxid- oder Methanemissionen voranzutreiben. Dabei brauchen die Entwicklungsländer vor allen Dingen eine massive Unterstützung in Bildung, bei der Aufforstung und vor allem auch bei Investitionen in moderne Technologien.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Man wird die Entwicklungsländer zur Teilhabe am Kioto-Mechanismus, mit dem klare Minderungsziele verbunden sind, aber nur dann überzeugen können, wenn die Industrieländer selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Wir brauchen in den Industrieländern mehr Anreize für ihre Energieproduktion, um neue Technologien zu entwickeln und in erneuerbare Energien zu investieren. Umweltpolitik muss dafür in den kommenden Jahren mehr denn je Innovations- und Technologiepolitik sein.

   Die neue Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD hat sich deshalb vorgenommen, den Forschungsbereich für erneuerbare Energien auszubauen und übrigens auch international zu vermarkten. Durch den Koalitionsvertrag wird gezeigt, dass Deutschland Vorreiter mit seiner nationalen Klimaschutzpolitik bleiben will und diese Rolle auch ausbaut. Es bleibt bei den ambitionierten Zielen im Klimaschutz. Das gilt auch für den Nationalen Allokationsplan II und auch auf der Grundlage des bereits beschlossenen Zuteilungsgesetzes 2005/2007.

   Wir setzen weiter auf den Ausbau erneuerbarer Energien, wir bauen die Nutzung von Biomasse aus, es bleibt bei der Kraftstoffstrategie „Weg vom Öl“ und wir wollen gerade die Biomasse stärker dazu nutzen, die Biokraftstoffe in einem Industrieland wie Deutschland, das auf Mobilität angewiesen ist, aus ihrer Nische herauszuholen. So wichtig es ist und war, den Einstieg über das Rapsöl zu schaffen, um zu zeigen, dass Mobilität auch mit anderen Kraftstoffen möglich ist: Für ein 82-Millionen-Volk, eine automobile Gesellschaft, brauchen wir eine industrielle Strategie für Biomasse, um daraus Kraftstoff herzustellen. Ich bin froh, dass wir uns im Koalitionsvertrag darauf haben verständigen können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Die Förderung der erneuerbaren Energien sorgt schon heute für mehr Arbeit. Ob Lauchhammer in der Lausitz, Solar World in Freiberg, Windkraft in Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern: Über 150 000 Menschen arbeiten inzwischen im Bereich der regenerativen Energien. Die Branche ist längst ein echter Exportschlager. Insofern freue ich mich, dass auch die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung gestern erklärt hat, sie wolle mithelfen, den Export der Technologien für die erneuerbaren Energien in die gesamte Welt zu erhöhen.

   Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist in der Tat riesig. Wir müssen unseren Energie- und Rohstoffverbrauch vom notwendigen wirtschaftlichen Wachstum entkoppeln. Es darf keinen Widerspruch zwischen dem Ziel, Wachstum in unserer Volkswirtschaft zu erreichen, und der gleichzeitigen Reduktion von Treibhausgasen geben. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die schrittweise Veränderung unserer über 100 Jahre lang gewachsenen Struktur der Energieerzeugung.

   Das schaffen wir erstens, indem wir im Bereich der regenerativen Energietechnologien weiterhin weltweiter Vorreiter sind. Im Bereich von Windkraft, Photovoltaik und Biomasse müssen wir unsere Innovations- und Technologieführerschaft behaupten. Das bedeutet übrigens auch, dass wir im Bereich des Infrastrukturbeschleunigungsgesetzes dafür sorgen müssen, dass die Netzanbindung für Offshore-Windparks tatsächlich möglich wird.

   Die Informations- und Kommunikationstechnologien waren Schlüsseltechnologien. Erneuerbare Energien und Energieeffizienz werden in Zukunft weitere Motoren des Fortschritts sein. Die Märkte für Umweltgüter wachsen. Hier müssen wir Weltspitze bleiben; denn nur umweltverträgliche Arbeitsplätze sind am Ende sichere Arbeitsplätze.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Zweitens. Die Modernisierung und auch die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft erfordert natürlich den Einsatz moderner Technologien zur Reduktion der Treibhausgase bei der Nutzung von fossilen Brennstoffen. SPD und Grüne hatten sich vorgenommen, bis zum Jahr 2020 20 Prozent der erneuerbaren Energien zur Stromerzeugung zu nutzen. Es bleibt bei diesem Ziel. Das ist ein bereits ambitioniertes Ziel, das wir sogar übertreffen zu können hoffen. Aber am Ende bleiben 80 Prozent der Energieerzeugung bei fossilen Brennstoffen übrig.

   Deswegen kann es keinen anderen Weg geben, als dafür zu sorgen, durch den Einsatz moderner Technologien deutlich zur Reduktion der Treibhausgase bei der Nutzung fossiler Brennstoffträger zur Energieerzeugung beizutragen. Wir sehen in diesen Tagen zum Beispiel bei Bion Petroleum, früher British Petroleum, BP, dass solche neuen Technologien entwickelt werden, die uns helfen können, auch dort zur Verringerung der Klimaprobleme beizutragen.

   Drittens. Wir müssen mit Ressourcen effizienter umgehen. Die Nutzung der Umwelt hat ihren Preis. Es ist ein guter und marktwirtschaftlicher Weg gewesen, dazu beizutragen, dass die Nutzung von Umwelt, aber auch die Verschmutzung von Umwelt ein Kostenfaktor in der betriebswirtschaftlichen Rechnung wird. Das ist beim Zertifikatshandel, besser „Cap and Trade“, gelungen. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass marktwirtschaftliche Anreize und Systeme nicht nur in den Lehrbüchern der Universitäten stehen, sondern sie dann, wenn es gilt, sie anzuwenden, in der Praxis akzeptiert werden. Ich staune manchmal, wie diejenigen Vertreter von Wirtschaft und Wissenschaft, die ansonsten marktwirtschaftliche Positionen vertreten, ausgerechnet dann, wenn es darum geht, die volkswirtschaftlichen Kosten für Umweltverbrauch und die Nutzung von Umwelt in die betriebswirtschaftliche Kostenrechnung zu internalisieren, von marktwirtschaftlichen Anreizen nichts mehr wissen wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir glauben, dass das Ziel sein kann, am Ende Megawattstunden, nicht Menschen arbeitslos zu machen.

   Wenn man dieses Ziel in der Industriepolitik verfolgen will, heißt das auch, dass man den Wirtschafts- und Wettbewerbsstandort Deutschland nicht überfordern darf. Auch das gehört zur Realität. Wenn wir sachbezogene und erfolgreiche Umweltpolitik machen wollen, kann das nicht bedeuten, eine Inselpolitik zu betreiben oder im Ergebnis bei uns exzellente Anforderungen zu formulieren, wenn dann der CO2-Ausstoß in anderen Ländern der Welt stattfindet und in Deutschland Arbeitsplätze abgebaut werden. Auch das gehört zu einer realitätsbezogenen Umweltpolitik. Um genau diese Balance geht es. Wir brauchen die Partnerschaft mit der Wirtschaft; denn wir dürfen die Wirtschaft nicht aus der Verantwortung entlassen.

   Man kann aus der Atomenergie aussteigen, aber eben nicht aus der Industriegesellschaft und dem globalen Wettbewerb. Aber mit Umwelt- und Klimaschutz kann man Gott sei Dank inzwischen richtig Geld verdienen. Allein in diesem Jahr beträgt der Umsatz im Bereich der erneuerbaren Energien über 11 Milliarden Euro mit steil ansteigender Tendenz. Längst ist der Umweltschutz nicht nur in diesem Bereich Impulsgeber für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit. Umweltverträgliche Technologien sind auf dem Weltmarkt ein echter Wettbewerbsvorteil. Das Welthandelsvolumen für potenzielle Umweltgüter hat sich seit 1993 fast verdoppelt. Deutschland ist mit einem Marktanteil von knapp 19 Prozent weltweit der größte Exporteur von Umweltschutzgütern.

   Der Verknüpfung von wirksamem Klima- und Umweltschutz mit erfolgreicher wirtschaftlicher Entwicklung dient auch das, was wir im Koalitionsvertrag für das Altbausanierungsprogramm festgeschrieben haben. 1,5 Milliarden Euro zur energetischen Gebäudesanierung hilft den Handwerksbetrieben, Bauaufträge zu bekommen, der Dämmstoffindustrie und dem Klima. Das zeigt, wie praxisorientiert die große Koalition an die Lösung solcher Probleme herangegangen ist.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Ein weiteres Thema, das in der großen Koalition eine hohe Bedeutung hatte, ist das so genannte Grüne Band. Wir wollen bis zu 125 000 Hektar gesamtstaatlich repräsentative Naturschutzfläche des Bundes unentgeltlich in eine Bundesstiftung einbringen oder an die Länder oder Private übertragen.

   Natürlich sind wir in der Debatte um die Umweltpolitik - das gehört zur Redlichkeit in der Debatte über die Regierungspolitik der kommenden Jahre dazu - nicht in allen Fragen übereingekommen. Das in der Öffentlichkeit breit diskutierte Thema Atomenergie bzw. Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung ist zwischen den Koalitionspartnern nicht einvernehmlich zu regeln gewesen.

Ich bin froh, dass wir das im großen gegenseitigen Respekt vor den unterschiedlichen Positionen debattiert und nicht versucht haben, Formelkompromisse zu finden, die verschleiern, dass es unterschiedliche Ausgangspositionen gibt.

   Vor diesem Hintergrund bleibt es aber dabei, dass die geltende Atomgesetznovelle und auch die Ausstiegsverträge eine klare Ausstiegsposition und -option geschaffen und eine Entwicklung in Gang gesetzt haben, durch die die Kernenergie in Zukunft nicht mehr zu den zukunftsträchtigen Energieträgern in Deutschland zählen wird.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Beide Koalitionspartner widmen allerdings einer Frage besondere Aufmerksamkeit, nämlich dem sicheren Betrieb der vorhandenen Atomkraftwerke. Auch diejenigen, die aus der Atomenergie aussteigen wollen und auf den Verträgen und der Atomgesetznovelle beharren, wissen, dass die Atomkraftwerke noch 20 Jahre in Betrieb sind und zum Energiemix in Deutschland beitragen. Deswegen werden wir das Sicherheitsmanagement in den Anlagen selbst überprüfen, aber auch die staatliche Atomaufsicht den Erfordernissen anpassen. Wir müssen das kooperativ mit den Ländern machen. Aber wir wollen wirklich wissen, ob es stimmt, dass es mit unserer Art des Umgangs mit der Atomaufsicht bzw. dem Sicherheitsmanagement besser bestellt ist als in anderen Ländern der Erde. Ich meine, das sind wir den Menschen in Deutschland schuldig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die gleichen Bemühungen um höchstmögliche Sicherheit gelten bei der Endlagersuche. Ich bin der Überzeugung, dass die Festlegung auf den Standort Gorleben ohne Standortvergleich nicht vertretbar ist. Es ist übrigens auch unfair gegenüber den nachfolgenden Generationen; denn sie müssen sich darauf verlassen können, dass wir unterschiedliche Standorte verglichen haben, um dann den sinnvollsten Standort auszuwählen.

(Beifall bei der SPD)

   Aber eines ist auch klar: Gerade diejenigen, die sich für den Ausstieg aus der Kernenergie entschieden haben, sind verpflichtet, nach einem sicheren Endlager zu suchen. Das ist Bestandteil eines denkbaren Ausstiegs. Insofern bin ich auch darüber froh, dass wir uns darin einig sind, diese Frage nicht unendlich vor uns herschieben zu können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

- Bei dem Thema Atomenergie klatscht immer jeder so, wie es ihm gerade in den Kram passt. Ich finde übrigens, wir sollten die unterschiedlichen Auffassungen wirklich nicht verschleiern. Ich bin dafür, dass wir das in großer Offenheit miteinander bereden.

   Gestern wurde mehrfach appelliert, nicht in den alten Schützengräben zu bleiben. Ich finde, das gilt auch in dieser Frage. Wir brauchen eine offene Diskussion. Das sind wir den Menschen schuldig, und zwar nicht nur unseren Wählern, sondern allen. Wir müssen die Frage letzten Endes sachbezogen klären. Auch das gehört zum fairen Umgang nicht nur innerhalb der Koalition, sondern vor allen Dingen mit denjenigen, die von unseren Entscheidungen betroffen sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Umweltschutz ist praktizierte Gerechtigkeit und Fairness. Weltweit wird auch in der Politik viel zu sehr nach dem Motto „Das Hemd ist mir näher als der Rock“ gehandelt. Der Rock wäre in unserer modernen Sprache wohl der Mantel. Als Mantel sind die Erdatomsphäre, die Süßwasservorräte, der Boden, die Wälder und die Meere zu verstehen. Das Hemd ist die Art, wie wir heizen, welche Art von Mobilität wir pflegen und welche Produkte wir kaufen.

   Die Dresdner an der Elbe, die Münsterländer in diesen Tagen und die Bewohner im chinesischen Harbin wissen, dass das Hemd nur noch ein dünner Fetzen ist, sobald der Rock einen kleinen Riss bekommt. Wir müssen den Rock, der allen gehört, instand halten und wieder instand setzen.

   Dabei geht es übrigens auch darum, Schulden abzutragen. Es gibt nicht nur Schulden im finanziellen Sinn. Vielmehr hat eine bestimmte Form der industriellen Entwicklung zu unseren gegenwärtigen Problemen beigetragen. Das ist nicht zu verhindern, weil Menschen immer auf dem jeweiligen Stand der Technik arbeiten. Aber wir müssen erkennen, dass es eine Schuld gibt, und zwar gegenüber unseren Enkeln, die wir ebenso abzutragen haben wie die staatlichen Defizite in unseren Haushalten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Herr Bundesminister, ich darf Sie darauf hinweisen, dass Ihre Redezeit überschritten ist und Ihr Fraktionskollege die Konsequenzen daraus zu tragen hat.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit:

Vielen Dank für den Hinweis. Ich muss mich erst eingewöhnen. Aber ich bin gleich fertig. Ich hoffe, der Kollege hat Verständnis dafür.

   Ich finde, das sollten auch die Skeptiker erkennen: Umweltpolitik zu gestalten heißt, als Vertreter späterer Generationen fairen Wirtschaftskreisläufen den Weg zu bahnen und gerechtere Lebensstile zu stimulieren. Der Koalitionsvertrag, das Regierungsprogramm, stellt dafür aus meiner Sicht die richtigen Weichen.

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Ich erteile nun dem Kollegen Michael Kauch von der FDP-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der FDP)

Michael Kauch (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Schutz der Umwelt ist Teil einer Politik für Generationengerechtigkeit. Er steht für einen verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen und dafür, die Lebensräume der Tiere und die Gesundheit der Menschen zu bewahren. Umweltpolitik ist nicht zuletzt auch langfristige Wirtschaftspolitik. Markt, Wettbewerb und Unternehmertum, Bürokratieabbau und Innovation, das müssen auch und gerade Kategorien ökologischer Politik werden.

(Beifall bei der FDP)

   Das Ende der grünen Regierungsbeteiligung bietet die Chance auf Abkehr von einer staatswirtschaftlichen, überregulierenden und ökoromantischen Umweltpolitik. Diese Chance müssen Sie, Herr Gabriel, nun ergreifen. Es reicht nicht, sich zum Innovationsminister zu erklären. Vielmehr muss man das auch leben.

(Beifall bei der FDP)

   Wir, die FDP, erwarten von der neuen Bundesregierung, dass sie insbesondere auf den Feldern aktiv wird, die in der Vergangenheit vernachlässigt wurden. Die Lärmbekämpfung gehört dazu. Umfragen zeigen: Lärm ist für viele Menschen ein großes Umweltproblem. Studien belegen: Dauerhafter Lärm ist eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit. Sieben Jahre lang hat Rot-Grün ein modernisiertes Fluglärmgesetz angekündigt. Aber ein Ergebnis gibt es bis heute nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, unverzüglich einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Ich bitte Sie, die Pläne der Exminister Trittin und Stolpe über Bord zu werfen, die Anwohner erster, zweiter und dritter Klasse vorsahen. Wir, die FDP, sind der Meinung, dass alle Anwohner, egal ob von neuen oder bestehenden Flughäfen, von Verkehrs- oder Militärflughäfen, den gleichen Schutz verdient haben.

(Beifall bei der FDP)

   Auch auf der Schiene muss mehr passieren. Wir müssen vor allem den Lärm an der Quelle mindern. Aber das werden wir mit öffentlichen Mitteln allein nicht schaffen. Lärmschutz muss sich für die Bahnunternehmen rechnen. Das wird durch lärmabhängige Trassenpreise gelingen. Das blockiert die Deutsche Bahn Netz AG allerdings bisher. Sie sind als Bundesregierung und Eigentümer dieses Unternehmens gefordert, hier zu handeln.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Der Wettbewerb in der Entsorgungswirtschaft kommt ebenfalls nicht voran. Das geht zulasten der Bürger, die die Zeche zahlen müssen. Die Koalitionsvereinbarung zementiert das Umsatzsteuerprivileg der kommunalen Unternehmen bei Abwasser und Abfall.

(Ulrich Kelber (SPD): Zu Recht!)

Diese Lobbypolitik zugunsten öffentlicher Unternehmen verzerrt den Wettbewerb. Die Kunden zahlen die Zeche.

(Beifall bei der FDP)

In der Abfallwirtschaft werden innovative Konzepte behindert, und zwar sowohl von den Grünen als auch von Schwarz-Rot, und das unabhängig von der Erkenntnis, dass es in ökologischer Hinsicht teilweise sinnvoller ist, den Müll in Ballungsgebieten gesammelt abzufahren und dann maschinell zu trennen. Alle drei Fraktionen haben argumentiert, man habe doch die Menschen zum Mülltrennen erzogen und das sei ein Symbol für Umweltbewusstsein. Genau das ist der Unterschied zwischen rationaler und symbolorientierter Umweltpolitik. Wir Liberale stehen für klar definierte ökologische Ziele und nicht für zum Symbol erhobene Instrumente.

(Beifall bei der FDP)

   Kommen wir zu einem anderen Symbol, zur Endlagerfrage. Seit Jahren ist hier nichts vorangekommen, weil die Grünen diese Frage zum Symbol ihrer Antiatompolitik erhoben haben. Rationale Umweltpolitik darf sich dagegen nicht vor der Erkenntnis verschließen: Unabhängig davon, wie man zur Atomenergie und zu ihrer weiteren Nutzung steht, haben wir alle eine gemeinsame Verantwortung für die kommenden Generationen. Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, den Müll, den wir produziert haben, sicher zu entsorgen. Die Lösung dieser Aufgabe darf nicht um weitere Jahre verschleppt werden.

(Beifall bei der FDP)

   Die Koalition hat angekündigt, in dieser Legislaturperiode zu einer Entscheidung zu kommen. Wir verlangen, dass man den Weg dorthin ergebnisoffen und ideologiefrei verfolgt und dass das Moratorium betreffend Gorleben aufgehoben wird; denn es geht darum, die Erkundung fortzuführen, und nicht, sich auf Gorleben festzulegen.

(Beifall bei der FDP)

   Ich bitte die Union, sich an das zu erinnern, was sie in der Opposition vertreten und im Deutschen Bundestag beantragt hat, und sich insbesondere zur Zwei-Endlager-Strategie zu bekennen. Wenn Sie auch hier Ihre Inhalte preisgeben, dann wird Ihnen die FDP als Oppositionsführerin dies nicht durchgehen lassen.

(Beifall bei der FDP - Ulrich Kelber (SPD): Das ist aber eine Drohung!)

   Wir begrüßen die Entscheidung der Koalition für ein Umweltgesetzbuch. Das haben wir lange gefordert. Aber es darf keine Mogelpackung werden. Das heißt, Sie müssen die Schaffung des Umweltgesetzbuches tatsächlich mit Bürokratieabbau verbinden, ohne dass wir materielle Schutzstandards aufgeben. Wenn das gelingt, sind wir als FDP ganz bei Ihnen.

(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött (CDU/CSU))

   Derzeit findet die Klimakonferenz in Montreal statt. Der Klimaschutz braucht globale Lösungen und multilaterale Ziele. Die FDP tritt deshalb für die Fortsetzung von Kioto ein. Weitere Länder wie die USA und China müssen bewegt werden, sich dieser Gemeinschaft anzunähern. Kanada hat in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, dass einzelne Regionen, beispielsweise US-Bundesstaaten, am internationalen Emissionshandel teilnehmen können. Wir finden diese Idee ausgezeichnet und bitten die Bundesregierung, in diese Richtung zu verhandeln.

(Beifall bei der FDP - Ulrich Kelber (SPD): Das hat die SPD-Fraktion auch schon vorgeschlagen!)

Beim Klimaschutz brauchen wir verbindliche und anspruchsvolle ökologische Vorgaben. Die FDP steht zum Ziel, die CO2-Emission in der EU um 30 Prozent bis zum Jahr 2020 zu verringern. Wir sagen aber auch: Wir brauchen eine faire Lastenverteilung in der EU. Deshalb finde ich es falsch, dass wir, bevor die Verhandlungen in der EU überhaupt begonnen haben, nationale Ziele hinterherschieben. Die Franzosen und andere müssen sich ebenso beteiligen wie wir.

(Beifall bei der FDP)

   Der Klimaschutz muss kostengünstiger werden. Pro eingesetztem Euro müssen soviel Treibhausgase wie möglich eingespart werden. Wir brauchen mehr Möglichkeiten für Unternehmer, Klimaschutzinvestitionen in anderen Ländern zu erbringen. Deutschland muss rasch in Verhandlungen über zwischenstaatliche Übereinkommen zur gemeinsamen Durchführung von internationalen Klimaschutzprojekten eintreten. Der Emissionshandel sollte alle klimarelevanten Gase einbeziehen und er sollte auf Verkehr und Gebäude ausgeweitet werden. Hier liegen die größten wirtschaftlich sinnvollen Einsparpotenziale.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Die Koalition hat zwar nun ein Programm zur Gebäudesanierung angekündigt; das kann aber nur der Anfang und nicht die Lösung sein. Wir brauchen ein umfassendes Energiekonzept für den Gebäudesektor, das Maßnahmen zur Energieeffizienz und zum Einsatz erneuerbarer Energien im Wärmebereich einschließt. Das notwendige Kapital - machen wir uns nichts vor - kann nur aus dem privaten Sektor kommen. Deshalb brauchen wir den Emissionshandel, der privates Kapital aus der Industrie auch für den Gebäudesektor mobilisieren kann.

(Beifall bei der FDP)

   Im Verkehrsbereich bieten alternative Kraftstoffe eine gute Lösung für Alternativen jenseits vom Öl. Die Antwort kann aber nicht allein Biokraftstoffe heißen. Die Anbauflächen in Europa sind begrenzt, Monokulturen nicht wünschenswert und der Import von Palmöl aus Übersee fördert die Abholzung der Regenwälder. Biokraftstoffe können allerdings ein erster Schritt sein. Aber was macht die Koalition? Sie plant einen ordnungspolitischen Sündenfall. Sie will die Steuerbefreiung für Biokraftstoffe abschaffen und durch eine Beimischungspflicht ersetzen.

(Ulrich Kelber (SPD): Falsch!)

- Das steht in Ihrem Koalitionsvertrag. Sie interpretieren das hinterher alle anders.

(Ulrich Kelber (SPD): Bleibt falsch!)

Was aber bedeutet das? Der Biokraftstoff wird teurer als Benzin und der planwirtschaftliche Zwang zur Beimischung erhöht den Benzinpreis insgesamt. Das Ergebnis: Mehreinnahmen für den Staat und Erhöhung der Benzinpreise. Das ist eine Mineralölsteuererhöhung durch die Hintertür. Sagen Sie das bitte den Menschen auch so klar!

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Große, allerdings langfristige Perspektiven jenseits vom Öl bietet der Einstieg in die Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie. Die Halbherzigkeit bei der Förderung der Wasserstofftechnologie in den letzten Jahren muss beendet werden. Forschung und Entwicklung in diesem Sektor müssen zu einem Schwerpunkt werden. Ich habe den Eindruck, dass hier vielleicht Bewegung hineinkommt. Das würde Wind- und Sonnenenergie neue Perspektiven für einen wirtschaftlich sinnvollen Einsatz geben: gespeicherte Energie, wenn die Sonne nicht scheint und wenn der Wind nicht weht.

   CO2-Einsparoptionen dürfen generell nicht ideologisch begrenzt werden. Die CO2-Abscheidung, effizientere Kohlekraftwerke und Effizienztechnologien in Haushalt und Verkehr müssen vorangetrieben werden, aber eben auch die Kernfusionsforschung; denn auch sie bietet Potenziale für CO2-freie, sichere Energie.

(Beifall bei der FDP)

   Auch im Umweltsektor gilt: Wir brauchen mehr Freiheit für Unternehmertum und weniger staatliche Intervention, mehr marktwirtschaftliche Anreize und weniger Ordnungsrecht. Nur so werden wir den Unternehmergeist für neue, innovative, wettbewerbsfähige Produkte und Technologien wecken.

   Herr Minister Gabriel, Sie haben in einem Interview in der „Zeit“ erklärt, dass Sie Innovationsminister sein wollen und dass das Umweltministerium Innovationsministerium werden soll. Wir Liberale begrüßen das und werden Sie beim Wort nehmen. In diesem Sinne bieten wir Ihnen als liberale Opposition eine kritische, aber konstruktive Zusammenarbeit an.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat nun die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Umweltkatastrophen wie der Chemieunfall in China führen uns immer wieder auf erschreckende Art und Weise vor, dass weltweit noch ein erheblicher Nachholbedarf im Umweltschutz besteht; schließlich handelt es sich dabei um keinen Einzelfall. Die Europäische Umweltagentur hat in dieser Woche einen Bericht vorgelegt, in dem sie darauf hinweist, dass Europa der schlimmste Klimawandel seit 5 000 Jahren droht, sollte sich die derzeitige Erderwärmung fortsetzen. Diese Agentur schreibt, dass bis zum Jahr 2050 bei unveränderten Bedingungen drei Viertel der Schweizer Gletscher weggeschmolzen sind. Das ist wahrlich keine gute Aussicht. Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen gehört in Deutschland inzwischen zum gesellschaftlichen Selbstverständnis. Wir haben seit vielen Jahren ein sehr hohes Umweltschutzniveau und arbeiten ständig auch an einem Umweltbewusstsein.

   Die eben genannten Beispiele machen jedoch auch deutlich, dass wir im Umweltschutz weltweit noch sehr viel zu leisten haben. Es müssen neue Konzepte entwickelt werden, um wirtschaftliches Wachstum und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in Einklang zu bringen. Das ist eine große Aufgabe. Wir werden nur erfolgreich sein, wenn uns der Ausgleich zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen gelingt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Es ist deshalb richtig, dass sich CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet haben, dass Deutschland seine führende Rolle im Klimaschutz auch weiterhin wahrnimmt, dass Deutschland im Umweltschutz auch weiterhin Vorbild ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Gerade beim Klimaschutz stehen wir vor großen Herausforderungen. So haben die Vereinten Nationen erst in diesem Jahr einen Bericht vorgelegt, nach dem allein die Industriestaaten im Jahr 2010 knapp 11 Prozent mehr Treibhausgase ausstoßen werden als noch 1990. In den Entwicklungs- und Schwellenländern wird dieser Anstieg noch höher sein.

   Es müssen weitere, neue Wege gefunden werden, den Treibhausgasausstoß weiter zu reduzieren. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass bis zum Jahr 2009 ein internationales Klimaschutzabkommen für die Zeit nach 2012 geschaffen wird, dass auf dem Kioto-Protokoll aufbaut. Dabei müssen auch andere Industriestaaten wie die USA und die Entwicklungs- und Schwellenländer eingebunden werden. Insbesondere mit den USA muss es wieder zu einem konstruktiven Dialog kommen. Wir wollen den Klimaschutz in einem partnerschaftlichen Verhältnis mit den USA besprechen und aufbauen. Da wurde in den vergangenen Jahren sicherlich einiges versäumt. Die derzeitige Klimakonferenz in Montreal ist ein wichtiger Schritt, um den Dialog wieder aufzunehmen.

   Auch international wollen wir unserer Verantwortung im Klimaschutz gerecht werden. Hierzu gehört beispielsweise eine Partnerschaft für Klima und Innovation, die wir gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft und den gesellschaftlichen Gruppen anstoßen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Einen Schwerpunkt bildet für uns die energetische Sanierung von Altbauten. Hier wollen wir das große Potenzial zur Einsparung von Energie und CO2 angehen. Ein beträchtliches Fördervolumen soll dafür aktiviert werden. Das ist angesichts der schwierigen Haushaltslage sicherlich ein Kraftakt. Dass ungefähr zwei Drittel der Gebäude in Deutschland wärmetechnisch sanierungsbedürftig sind, zeigt, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Regierungserklärung auf die großen Potenziale in der energetischen Gebäudesanierung Bezug genommen. Dieses Programm ist nicht nur ein Beitrag zum Klimaschutz, sondern auch zur Förderung von Arbeitsplätzen im Mittelstand.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Energie- und Rohstoffpreise sind in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen. Diese Entwicklung hat unmittelbar Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer deutschen Unternehmen. Wir müssen uns von dieser Entwicklung unabhängiger machen und die Energieversorgung in Deutschland auf eine breite Basis stellen. Wir brauchen einen breiten Energiemix, der keine Energieform ausschließt. Wir müssen noch stärker auf erneuerbare Energien setzen, insbesondere auf nachwachsende Rohstoffe und Biomasse; wenn Sie so wollen: weg vom Öl.

   Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang ein paar Sätze zur Weißen Biotechnologie, also Ersatz endlicher fossiler Brennstoffe durch nachwachsende Rohstoffe bzw. Einsatz von biologischen Systemen wie Zellen oder Enzymen als Katalysatoren in industriellen Prozessen. Gerade die technologischen Durchbrüche auf den Forschungsgebieten der Enzymentwicklung, der Biokatalyse und der genetischen Modifizierung von Mikroorganismen stoßen in der chemischen Industrie auf ein breites Interesse und auf eine große Nachfrage.

   In der Weißen Biotechnologie sind wir zudem in einer Situation, die wir leider nicht mehr in allen innovativen Forschungsbereichen haben; denn wir haben hier eine Position, die der der USA mindestens gleichwertig, wenn nicht vorteilhafter ist. Diesen Vorteil dürfen wir nicht verspielen, sondern müssen ihn ausbauen.

   Die erneuerbaren Energien haben sich in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Säule der Stromversorgung entwickelt. Im Jahr 2004 betrug der Gesamtumsatz im Bereich der erneuerbaren Energien 11,5 Milliarden Euro, insgesamt wurden in diesem Bereich 6,5 Milliarden Euro investiert. Diese Branche hat mittlerweile 100 000 Arbeitsplätze.

   Die erneuerbaren Energien entwickeln sich damit zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Allerdings müssen wir bei ihrer Förderung auch immer die damit verbundenen Kosten berücksichtigen. Die Förderung der erneuerbaren Energien erfolgt nämlich vornehmlich durch eine Umlage über die Strompreise. Nach Angaben des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft betrug die Gesamtbelastung der Stromverbraucher im Jahr 2004 rund 2,3 Milliarden Euro. Wir müssen darauf achten, dass die Förderung in einem ausgewogenen Verhältnis erfolgt. Die Überprüfung der wirtschaftlichen Effizienz der Förderung im Jahr 2007 ist hierfür eine wichtige Festlegung im Koalitionsvertrag.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Für die energieintensiven Unternehmen brauchen wir zudem bessere Rahmenbedingungen. Stilllegungen wie die des Aluminiumwerks in Hamburg soll es nicht mehr geben. Die Härtefallregelung im EEG werden wir novellieren.

   Bisher sind die erneuerbaren Energien noch nicht wettbewerbsfähig. Hier bedarf es vermehrter Anstrengungen in Forschung und Entwicklung, nicht nur im öffentlichen, sondern auch im unternehmerischen Bereich. Die Innovationsinitiative „Energie für Deutschland“, die Union und SPD gemeinsam auf den Weg bringen wollen, ist hierfür ein zentraler Baustein. Wir wollen die Ausgaben für Energieforschung schrittweise erhöhen, damit die erneuerbaren Energien und die Biomasse sowie ein nationales Investitionsprogramm für die Wasserstofftechnologie gefördert werden können. Gleichzeitig wollen wir mit der Wirtschaft vereinbaren, dass sie ebenfalls zusätzliche Mittel für Forschung und für Markteinführung von Energietechnologien investiert.

   In den vergangenen Jahren wurde Umweltpolitik in Deutschland oftmals als Wachstums- und Innovationshemmnis wahrgenommen. Wir müssen uns ernsthaft die Frage stellen, welche Entwicklungen in der Umweltpolitik falsch gelaufen sind. Wenn der Feldhamster das Symbol für Investitionshemmnisse geworden ist und Umweltschutz als Wachstumsbremse erscheint, dann läuft etwas falsch.

(Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Leider wahr!)

   Leider waren die Vorwürfe nicht immer unbegründet; das muss ich sagen, wenn ich an die EU-Chemikalienpolitik oder an die Energieforschung denke. Für viele Bürger und Unternehmen ist die Umweltpolitik sehr kompliziert; sie erscheint bürokratisch und ist auch teuer.

   Deshalb muss die Umweltpolitik selbst einem Modernisierungsprozess unterzogen werden. Umweltpolitik selbst muss effektiver und bürgerfreundlicher werden. Die Bewahrung der Schöpfung und qualitatives Wachstum sind nicht zu trennen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Deutschland verfügt über ein großes Wissen in der Umwelttechnik, beispielsweise in der Wasserreinigung, in der Abfallentsorgung, beim effizienten Einsatz von Energie, bei Klimaschutz und auch bei erneuerbaren Energien. Deutsche Unternehmen und Wissenschaftler haben sich in diesem Bereich große Kompetenzen erworben und sind in der Umwelttechnik weltweit führend. Genau hier liegen auch die Chancen und ein ungeheures Innovations- und Wirtschaftspotenzial für unser Land. Im Jahr 2003 lieferte Deutschland Umweltschutzgüter im Wert von 35 Milliarden Dollar ins Ausland. Das ist ein Welthandelsanteil von 19 Prozent. Damit sind wir in der Tat Exportweltmeister.

Wir brauchen aber auch einen Paradigmenwechsel in der Umweltpolitik. Die Eigenverantwortung und die Kooperation müssen gestärkt werden. Die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft muss auf eine neue Vertrauensbasis gestellt werden. Daran hat es in den vergangenen Jahren manchmal gemangelt; oftmals war die Umweltpolitik konfrontativ aufgestellt.

   Unternehmen, die freiwillig umweltfreundliches Verhalten und umweltfreundliche Standards jenseits gesetzlicher Anforderungen eingeführt haben, müssen durch Erleichterungen im rechtlichen Vollzug oder im Rahmen von Berichtspflichten belohnt werden. Da reicht es nicht aus, in einem Informationsblatt lobend erwähnt zu werden. Es geht um tatsächliche Erleichterungen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Durch die Vereinbarungen zur Föderalismusreform im Koalitionsvertrag ist eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen worden, die Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern im Umweltrecht vernünftig aufzuteilen. Zukünftig wird es möglich sein, das Umweltrecht schlanker und transparenter zu gestalten. Insbesondere die Schaffung eines Umweltgesetzbuches kann nun angegangen werden.

   Noch ein paar Worte zum Naturschutz, der in den vergangenen Jahren nicht immer im Zentrum des Interesses lag. Auch hier wollen wir neue Impulse setzen. Bundesminister Gabriel hat dies schon angesprochen.

   Wir wollen die gesamtstaatlich repräsentativen Naturschutzflächen des Bundes wie das grüne Band an der ehemaligen innerdeutschen Grenze in einer Größenordnung von 80 000 bis 125 000 Hektar in eine Bundesstiftung einbringen oder an die Länder übertragen. Das ist für mich ein Beitrag, um für kommende Generationen ein reiches Naturerbe unserer Heimat zu erhalten.

   Meine Damen und Herren, der Bundespräsident hat bei der Verleihung des Umweltpreises in Lübeck am 16. Oktober dieses Jahres die Bedeutung des Umweltschutzes wie folgt beschrieben:

Umwelt, Wirtschaft und Arbeit gehören zusammen. Umweltschutz hilft, Kosten zu senken, Umweltschutz schafft Arbeitsplätze, Umweltschutz sichert unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Kurzum: Umweltschutz ist nicht Mode, sondern modern. Er gehört zu unseren Stärken in Deutschland.

   Dieser Auffassung des Bundespräsidenten ist, so denke ich, nichts hinzuzufügen. In diesem Sinne sollten wir die Umweltpolitik und den Umweltschutz in unserem Lande in den kommenden Jahren begreifen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie einige von Ihnen sicher wissen, hatte ich die letzten drei Jahre Gelegenheit, den Parlamentsbetrieb mit einiger Distanz zu beobachten. Ich will Ihnen jetzt nicht erzählen, dass das für Parlamentarier besonders erstrebenswert wäre. Aber es schärft doch gehörig den Realitätssinn, gelegentlich vom Berliner Raumschiff auf die Erde zurückzukehren, und zwar Vollzeit.

(Beifall bei der LINKEN)

   Gerade in der modernen Umweltpolitik geht es ja oft um Dinge, die draußen kaum noch jemand versteht, entweder weil sie sehr kompliziert sind - siehe die EU-Chemikalienverordnung REACH, bei der kaum noch Experten durchblicken - oder weil sie im politischen Gezerre derartig zerrupft werden, dass Bürgerinnen und Bürger meinen, das Ganze sei vor allem ein Auswurf absurder Regelungswut.

   Die Geschichte des Dosenpfandes ist wohl ein Beispiel dafür, wie durch Blockaden von Teilen der Wirtschaft und Tricks im Bundesrat ein im Grunde sinnvolles Instrument zum Abschuss freigegeben wurde. Einer glaubhaften Umweltpolitik hat das mit Sicherheit geschadet.

(Beifall bei der LINKEN)

So wird bei den Bürgerinnen und Bürgern Politikmüdigkeit und Frust systematisch organisiert.

   Noch mehr Schaden richtet in diesem Zusammenhang aber eine Politik an, die zynisch einen Teil der Gesellschaft zugunsten von Konzernen und Spitzenverdienern in permanente Existenzangst versetzt oder gar in die Armut treibt, so wie es in den letzten Jahren unter Rot-Grün geschehen ist. Wenn zusätzlich zu den unsozialen Kürzungen bei Hartz IV die Öl- und Gaspreise steigen, braucht niemand bei Arbeitslosengeld-II-Empfängern um Verständnis für endliche Ressourcen zu werben,

(Beifall bei der LINKEN)

vor allem dann nicht, wenn die Energieversorger in einer kaum noch zu überbietenden Dreistigkeit ihre Vormachtstellung für traumhafte Profite ausnutzen. Darüber hat Frau Reiche nicht gesprochen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

   Auch über die Gefahren des Klimawandels und über umweltfreundliche Mobilität lässt es sich in Berliner Szenecafés netter diskutieren als auf überfüllten Arbeitsämtern in Prenzlau, Erfurt, Bremen oder Coburg.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn dann dort jemand einen 200 Kilometer entfernten Job bekommt, wird er oder sie morgens und abends eben pendeln, erstens weil sie es ja müssen - ansonsten wird ihnen nämlich das Arbeitslosengeld gestrichen - und zweitens weil sie wegen eines vielleicht befristeten Vertrages in einer Firma, die dazu wahrscheinlich auch noch regelmäßig mit Abwanderung oder Stellenabbau droht - wir kennen das; zumindest ich kenne das -, klugerweise nicht Haus und Hof aufgeben und die Familie umsiedeln wollen.

(Ulrich Kelber (SPD): Was ist jetzt Ihr eigener Vorschlag zum Thema?) 

   Hinzu kommt, weil die Bahn in der Fläche platt gemacht wird - dazu würde ich gern von Ihnen Vorschläge hören - und der ÖPNV ständig verteuert wird: Es muss wohl das Auto benutzt werden. Auch Frau Merkel will ja die Zuschüsse für den Nahverkehr drastisch kürzen. Leider ist sie jetzt nicht da.

   Sind es nun wirklich solche Beschäftigten, die das Klima schädigen, oder sind es diejenigen, die die Menschen dazu zwingen,

(Beifall bei der LINKEN)

oder gar diejenigen, die von diesen unsozialen Rahmenbedingungen profitieren, etwa die Unternehmen, die mit Ihrer Hilfe die Löhne drücken und die Arbeitszeiten verlängern können? Und das, obwohl Deutschland reicher ist denn je! Über Nachhaltigkeit lässt sich auch so herum diskutieren, meine ich.

   Nicht zu vergessen: Von den weltweit 100 umsatzstärksten Konzernen der Forbes-Liste verdienen 60 ihr Geld mit Öl, Ölverarbeitung oder Automobilen. Unternehmen wie BMW, Daimler-Chrysler, Shell oder Exxon geben damit vor, was produziert wird und welche Stoffströme fließen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben dadurch auch die Macht, zu diktieren, welche Infrastruktur für ihre Gewinnmaximierung vom Staat bereitgestellt wird.

   Aus dem Autokanzler ist nun gerade eine Autokanzlerin geworden. Schließlich nehmen die Koalitionsfraktionen laut Koalitionsvertrag klaglos hin, dass der Güterverkehr bis 2015 gegenüber 1997 um gigantische 64 Prozent steigen soll. Private Lösungen beim Autobahnbau werden das flankieren. Und wir werden wohl in absehbarer Zukunft auf der Fahrt zur Allianz-Arena auf dem Coca-Cola-Ring im Stau stehen.

(Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Was ist so schlecht daran? Da gibt es wenigstens was zu trinken!)

   Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist alles klima- und verkehrspolitischer Wahnsinn. Wie die Bundesrepublik damit ihr Kioto-Ziel erreichen will, ist uns schleierhaft. Die glücklicherweise beibehaltene Förderung der erneuerbaren Energien wird das niemals rausreißen, auch nicht die begrüßenswerte Initiative zur Wärmesanierung. Dass dort etwas nicht stimmt, hat sogar Frau Merkel bemerkt. Im Papier ist bei der Selbstverpflichtung bis 2020 gegenüber 1990 dann folglich nur noch von minus 30 Prozent bei den Klimagasen die Rede. Das ursprüngliche Ziel war einmal bei minus 40 Prozent; das sollten wir nicht vergessen.

   Wahrscheinlich wird auch diese Light-Variante im Klimaschutz ähnlich still und heimlich begraben werden wie das einstmals von den Vorgängerregierungen Kohl und Schröder bis zum Jahr 2005 vorgegebene 25-Prozent-Reduktionsziel.

   Apropos: Hat eigentlich jemand von Ihnen bemerkt, dass hierzulande der Ausstoß des wichtigsten Klimagases Kohlendioxid in allen folgenden Jahren seit 2000 jeweils höher war als im Jahr 1999, dem ersten vollen Amtsjahr der abgewählten rot-grünen Regierung?

   Bevor ich zur Klimakonferenz in Montreal komme, noch ein Wort zur Chemikalienpolitik. Die Linke findet es sehr bedauerlich, dass es der chemischen Industrie gelungen ist, den längst überfälligen EU-Verordnungsvorschlag mittels Präsidentschaft und Parlament aufzuweichen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie man heute in der „taz“ lesen kann, hat der neue Umweltminister, Herr Gabriel, nichts anderes zu tun, als in Brüssel weiter Druck im Sinne der Chemiekonzerne auszuüben. Die Registrierungsanforderungen für die 30 000 Altstoffe, über die den Behörden bislang kaum Daten und Tests vorliegen, sind schon jetzt deutlich gesunken. Soll der jahrzehntelange Menschenversuch wirklich weitergehen?

(Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Pfui!)

   Ein Rückschritt ist übrigens auch die Offensive der Koalition für den Ausbau der hochriskanten Gentechnik. Ich bin der Meinung, wir brauchen diese Technologie in der Landwirtschaft eben nicht. Sie ist gefährlich

und zerstört deutlich mehr Arbeitsplätze, als sie schafft.

(Beifall bei der LINKEN)

Die USA haben in Montreal gerade die Ausweitung von Klimaschutzvereinbarungen für die Zeit nach 2012 abgelehnt. Trotz New Orleans und einer Rekordhurrikansaison wollen sie für die Reduzierung der Treibhausgase weder konkrete Mengenziele noch einen Zeitplan. Wir halten das für einen Skandal.

   Die Linke unterstützt den Antrag der Grünen zu Kioto II, auch wenn darin fälschlicherweise von einer gegenwärtigen Vorreiterrolle Deutschlands und Europas die Rede ist. Aber geschenkt!

(Hans Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Immerhin Unterstützung!)

   Wichtig ist, dass ein Nachfolgeabkommen für die Zeit ab 2012 das Kioto-Protokoll als Vorbild haben muss, und zwar mit Zielen, die weltweit eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 50 Prozent bis 2050 ermöglichen. Das Kioto-Protokoll lässt genügend Raum für unterschiedliche Typen von Verpflichtungen und Sanktionsverfahren. So können auch Entwicklungsländer entsprechend ihren jeweiligen nationalen Besonderheiten eingebunden werden. Dazu gehören auch so genannte flexible Mechanismen mit ihren handelbaren Emissionsrechten, auf die sich die Bundesregierung anscheinend ganz besonders freut.

   Die Linke warnt hier ausdrücklich, die Kriterien zur Registrierung aufzuweichen. CDM, JI und Emissionshandel dürfen nicht dazu missbraucht werden, sich hierzulande vor tatsächlichem Klimaschutz zu drücken. Ansonsten holen wir uns Millionen von Tonnen heißer Luft ins Kioto-System. Das wäre genau das Gegenteil von Klimaschutz.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, auch im Namen meiner Fraktion viel Glück für Ihre Arbeit. Wir werden Sie mit Herzblut, mit Sachverstand, aber auch, wenn es nötig ist, mit der notwendigen Angriffslust begleiten. Das verspreche ich Ihnen.

   Das Amt, das Sie jetzt innehaben, ist ein sehr wichtiges Amt. Eigentlich ist es das Ministerium für existenzielle Angelegenheiten: für sauberes Wasser, für saubere Luft, für die biologische Vielfalt, für die Bewahrung der Natur im weitesten Sinne, für den Schutz der Böden und für den Beitrag unseres Landes zum Schutz der globalen Umweltgüter wie der Meere, des Klimas und der Ozonschicht.

   Das Umweltministerium ist, wenn man so will, gleichzeitig Verteidigungsministerium und Innovationsministerium. Es muss Natur und Umwelt verteidigen gegen machtvolle Interessengruppen, gegen Schadstoffe, gegen Übernutzung, gegen Rücksichtslosigkeit und gegen schlechte Gewohnheiten. Dieser Verteidigungsaspekt ist und bleibt wichtig. Man darf ihn nicht unterschätzen.

   Aber dieses Ministerium ist auch - diese Auffassung teilen wir; das sagen wir schon seit Jahren - ein Innovationsministerium. Denn die Förderung von umweltentlastenden Innovationen ist ein ganz zentraler Baustein der Innovationspolitik. Dies betrifft Technologien aller Art - einige wurden schon genannt -: von den erneuerbaren Energien bis zur Weißen Biotechnologie, von effizienter Kraftwerkstechnik bis zur Bionik oder von neuen Antriebstechniken im Verkehr bis zu Biokraftstoffen und Brennstoffzellen. Es liegt ein weites Feld der unbegrenzten Möglichkeiten vor uns. Wir sollten uns dazu entscheiden, es wirklich entdecken zu wollen. Da sollten wir alle an einem Strang ziehen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir sollten auch denjenigen die rote Karte zeigen, die wie der BDI in seinem Positionspapier, über das heute berichtet wird, immer noch so tun, als seien Ökologie, Umweltschutz und Nachhaltigkeit eines der zentralen Entwicklungshemmnisse. Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren vom BDI, das Gegenteil ist der Fall. Bitte begreifen Sie das endlich! Es ist wirklich zwingend.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es ist genauso wichtig, darauf hinzuweisen, dass Umweltpolitik als Innovationspolitik eben nicht nur Technologiepolitik ist. Es geht auch um intelligente Instrumente. Es geht zum Beispiel um das Erneuerbare-Energien-Gesetz und um die Ökosteuer, also um gezielte Anreize zur Einsparung von Energie. Es geht um neue Instrumente wie das Contracting, also quasi um das Geldverdienen mit Energieeinsparung, und um den Top-Runner-Ansatz, den wir schon eingebracht haben. Dieser Ansatz beinhaltet, dass nicht mehr der Staat, sondern der Beste den Standard setzt. Alle sollen vom Markt fliegen, die diesen guten Standard nicht innerhalb einer gewissen Frist erreichen.

   Ein ganz wichtiger Punkt ist auch die Nachhaltigkeitsstrategie. Hier muss der Dialog gesucht werden. Man könnte sagen, dass Nachhaltigkeit im 21. Jahrhundert ein anderes Wort für Generationengerechtigkeit, für Nord-Süd-Gerechtigkeit und für Solidarität ist. So sollten wir Nachhaltigkeit begreifen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das Umweltministerium - ich wiederhole es - ist zwar ein wichtiges, aber auch ein sehr schwieriges Ministerium, weil die meisten umwelt- und technologiepolitischen Entscheidungen natürlich in anderen Ministerien fallen: im Verkehrsministerium, im Bauministerium, im Wirtschaftsministerium, im Agrarministerium und im Forschungsministerium. Das heißt, der Umweltminister muss sich qua Amt in andere Ressorts einmischen. Das ist unbequem. Sein Erfolg hängt davon ab, ob sich die gesamte Regierung an dem Ziel der Nachhaltigkeit orientiert.

   Ein Vorgehen nach dem Motto, macht ihr eures, ich mache meines, wird definitiv zum Scheitern verurteilt sein. Herr Gabriel, ich muss leider sagen - diese Kritik meine ich durchaus ernst -, dass wir ein bisschen die Befürchtung haben, dass Sie Ihre Arbeit so angehen wollen. Sie müssten sich eigentlich in die Chemikalienpolitik, die Agrogentechnik oder die Verkehrspolitik einmischen.

   Wenn jetzt zum Beispiel in der Zeitung zu lesen ist, dass Sie sich dafür einsetzen, das EU-Chemikalienrecht weiter zu entschärfen, dann muss ich dazu sagen: Das ist ein starkes Stück. Sie wollen verhindern, dass der Einsatz von besonders giftigen Chemikalien nur noch für fünf Jahre genehmigt wird, was wir für richtig halten. Sie wollen verhindern, dass besonders giftige Chemikalien einem Substitutionsgebot unterliegen, dass also zwingend nach Alternativen gesucht werden muss, was wir für richtig halten. Ich muss sagen: Es ist falsch und ein ganz schlechtes Signal, wenn der Bundesumweltminister auf seiner ersten Sitzung im Ministerrat nicht für die Interessen der Verbraucher und der Umwelt streitet, sondern für vermeintliche Industrieinteressen. Das ist auf der ganzen Linie falsch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE))

   Denn man muss ja wissen: Die Chemikalienrichtlinie ist bereits im Europaparlament deutlich verwässert worden. Es ist völlig unakzeptabel, dass ausgerechnet die deutsche Bundesregierung sie weiter verwässern will. Ich halte diesen Ansatz auch innovationspolitisch für völlig falsch. Es kann doch nicht richtig sein, dass ungetestete Altstoffe gegenüber Neustoffen, die einem langwierigen Testverfahren unterzogen werden müssen, bevorteilt werden. Das ist keine Innovationspolitik.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE))

   Wir fordern Sie deshalb auf, Ihre Blockadehaltung im Ministerrat aufzugeben. Das wollte ich Ihnen von hier aus sagen. Sie sollten dort nicht nur die Positionen des VCI und der IG BCE vortragen, sondern auch die Interessen der deutschen Öffentlichkeit vertreten. Das ist in diesem Fall wirklich wichtiger.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE))

   Wenn ich schon einmal beim Thema Ministerrat bin - auch das ist so eine Sache -: Sie haben sich laut Ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen - das finde ich gut -, die Energieeffizienz in den Mittelpunkt zu stellen. Gleichzeitig - noch gestern - hat das deutsche Wirtschaftsministerium versucht, die Energieeffizienzrichtlinie der Europäischen Union in den zuständigen Gremien in Brüssel zu zerschießen. So geht das nicht. Wenn man Effizienzpolitik wirklich betreiben will, dann sollte das auf allen Ebenen erfolgen, also auch in Brüssel. Anderenfalls wird man unglaubwürdig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Das Feld der Agrogentechnik wollen Sie anscheinend der Union überlassen. Es ist ja bekannt, dass die Union die Zwangsbeglückung der Bevölkerung mittels Genfood will. Wir haben das Gentechnikgesetz beschlossen, das Wahlfreiheit, Koexistenz und das Verursacherprinzip sicherstellt und das ökologisch sensible Gebiete in besonderer Weise schützt. Für Letzteres sind Sie zuständig. Denn eine der Hauptquellen der Kritik an der Agrogentechnik ist, dass die ökologische Vielfalt durch Auskreuzung gefährdet wird. Ich fordere Sie wirklich auf, ganz genau hinzuschauen und nicht nach dem Motto zu verfahren: Na ja, das will die CDU/CSU, das lasse ich mal passieren.  Das wäre grottenfalsch; das möchte ich ganz klar sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es kann nicht sein - wir haben ja die Haftungsregelung eingeführt -, dass demnächst nach dem Motto verfahren wird: Wer den Schaden hat, soll selbst herausfinden, wo die Ursache dafür liegt. Nein, wir brauchen auf diesem Gebiet ganz eindeutig die Verursacherhaftung.

   Auch sollten Sie sich in den Bereich der Verkehrspolitik stärker einmischen. Denn es kann nicht richtig sein, einerseits Klimaschutz zu propagieren und andererseits die Regionalisierungsmittel für die Bahn zusammenzustreichen. Das passt nicht zusammen. Es kann auch nicht richtig sein, Klimaschutz zu propagieren und in Zukunft wieder mehr Geld für den Straßenbau und weniger für den Schienenbau auszugeben, obwohl wir bereits eines der am dichtesten geflochtenen Straßennetze in Europa haben. Es kann auch nicht richtig sein, Klagemöglichkeiten der Bürger und Naturschutzverbände zu beschneiden und Revisionsmöglichkeiten einzuschränken. Das ist auch rechtspolitisch äußerst fragwürdig.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE))

   Ich finde es gut, dass im Bereich der Atompolitik zumindest einstweilen nicht am Atomausstieg gerüttelt wird. Aber wir müssen höllisch aufpassen, dass die bestehende Übertragungsregelung nicht derart missbraucht wird, dass Reststrommengen von neuen Kraftwerken auf alte mit dem Ziel übertragen werden, dass es in dieser Legislaturperiode bloß keine Abschaltungen gibt. Das würde mehr Atommüll und weniger Sicherheit bedeuten. Ich wünsche mir, dass Sie sich dafür einsetzen, dass das nicht geschieht. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Äußerungen des Kollegen Michael Müller im Hinblick auf die Endlagersuche haben bei uns einige Zweifel hinterlassen. Sie sagen, Sie wollten diese Suche nicht mehr so vertieft und so langwierig durchführen. Langwierigkeit ist natürlich schlecht. Aber die Suche muss gründlich und solide erfolgen. Wir verlangen - dazu werden wir in Bälde einen Gesetzentwurf vorlegen -, dass Sie ein ergebnisoffenes Verfahren gestalten, bei dem alle geologischen Formationen in einem Vergleich daraufhin untersucht werden, ob und, wenn ja, wie sie als atomares Endlager geeignet sind.

Das erwarten wir von Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will ausdrücklich anerkennen, dass es im Koalitionsvertrag durchaus Kontinuität gibt. Bei der Altbausanierung haben Sie sogar noch eins draufgesetzt. Herr Eichel hat uns dies immer verweigert. Bei ihm hieß es immer: Streichen, streichen, streichen. Jetzt wird dies gemacht. Ich kann nur sagen: Gut so.

    Auch beim EEG und im Bereich Klimaschutz sind richtige Ansätze vorhanden. Es gibt aber auch viele Fragezeichen, Dinge, die man jetzt noch gar nicht beurteilen kann. Sie sagen, das EEG werde weitergeführt. Gut so. Gleichzeitig wollen Sie der Industrie weitere Sonderregelungen einräumen. Das muss man sich einmal genau ansehen. Auch der Klimaschutz soll weiter forciert werden. Gut so. Gleichzeitig streichen Sie das 40-Prozent-Ziel für das Jahr 2020.

(Ulrich Kelber (SPD): Das stimmt doch nicht!)

Das halte ich für falsch.

   Sie treten für ein Umweltgesetzbuch ein und wollen endlich die Bundeskompetenz. Das halte ich für richtig. Gleichzeitig eröffnen Sie Abweichungsmöglichkeiten, die möglicherweise dazu führen, dass es vor allen Dingen im Bereich des Naturschutzes einen „Wettbewerb nach unten“ gibt. Das wäre falsch.

    Die Kraft-Wärme-Kopplung benennen Sie als wichtige Klimaschutztechnologie; das notwendige Instrument, sie zu fördern, benennen Sie jedoch nicht. Sie haben also viel Richtiges in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wie Sie es aber tatsächlich umsetzen werden, wird man noch sehen.

   Was uns vor allen Dingen fehlt, ist eine langfristige Strategie, um das Ziel „Weg vom Öl“ zu realisieren. Man muss mehr von der Automobilindustrie verlangen. Sie hat bereits wichtige Technologien wie die Hybridtechnologie oder den Diesel-Ruß-Filter verschlafen. Wir wollen nicht, dass sie auch noch die Effizienzentwicklung verschläft.

   Ein letzter Satz zu Montreal; ich werde wie Sie und einige Abgeordnetenkollegen auch dort sein. Ich glaube, dass es unsere Aufgabe ist, den Kioto-Prozess am Laufen zu halten. Es ist ganz wichtig, endlich mit den Verhandlungen für die zweite Verpflichtungsperiode - 2012 bis 2020 - zu beginnen und klar zu machen, dass alle Technologiekooperationen wichtig sind, jedoch ergänzend zum Klimaschutzprotokoll, nicht als Ersatz. Zum Kioto-Prozess gibt es nach unserer festen Überzeugung keine Alternative.

   Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nun hat das Wort der Kollege Ulrich Kelber von der SPD-Fraktion.

Ulrich Kelber (SPD):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man kann eines feststellen: So viel Platz hat Umweltpolitik in einem Koalitionsvertrag nie zuvor eingenommen, weder inhaltlich noch räumlich.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Das Erste ist natürlich ein klares Bekenntnis zum Klimaschutz. Was Reinhard Loske gerne vernachlässigt, wenn er sagt, dass das 40-Prozent-Ziel nicht im Koalitionsvertrag steht, ist, dass dort das Ziel der Europäischen Union aufgenommen worden ist, den Anstieg der Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen. Dadurch ist ganz klar definiert, wie wir mit Zwischenschritten zu einer 80-prozentigen Reduktion der Treibhausgase bis zum Jahr 2050 kommen wollen.

   In dem Koalitionsvertrag gibt es auch eine ganz klare Aussage zum massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, zu neuen Instrumenten im Naturschutz und vor allen Dingen zur Umweltpolitik als Innovationspolitik und Innovationsmotor. Es ist richtig, wenn der Bundesumweltminister sagt, dass er seinem Ministerium den Ruf eines Innovationsministeriums verschaffen möchte. Wir werden nämlich trotz der Haushaltsprobleme mehr Geld für Forschung ausgeben. Denn wir wollen den Anreiz für Investitionen in allen Bereichen der Umweltpolitik setzen. Die erneuerbaren Energien sind ja nur ein Beispiel. Auch Grenzwerte sind ein Anreiz für Investitionen. Dafür gibt es in der deutschen Wirtschaft viele Beispiele.

(Beifall bei der SPD)

Die genannten Beispiele, Rußfilter und Hybridautos, verdeutlichen ja gerade, dass solche Investitionen vielleicht durch etwas stärkere Vorgaben seitens der Politik hätten angereizt werden können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Ich glaube jedoch, dass eine Effizienzrevolution der eigentliche Innovationsmotor sein wird. Welche Bedeutung ein geringerer Verbrauch an Rohstoffen und Energie in ökologischer Hinsicht hat, ist jedem klar. Die ökonomische Bedeutung ist jedoch ebenso evident: Die Kosten für Produktion und Konsum sinken. Das heißt, es kann mehr nachgefragt werden und es kann mehr produziert werden mit geringerer Umweltbelastung. Es entstehen neue Jobs, weil wir heimische Wertschöpfung an die Stelle des Imports von Energieträgern und Rohstoffen setzen. Wir lösen Innovationen bei Produkten und Dienstleistungen des Weltmarkts aus, werden also wettbewerbsfähiger. Außerdem senken wir dadurch die Abhängigkeit von Öl-, Gas-, Kohle- und Uranimporten. Es ist daher ein gutes Signal, dass wir vor zwei Wochen hören konnten, dass die Windenergie - ein Teilbereich der erneuerbaren Energien, auf die wir setzen - bereits preisgünstiger ist als der Strom an der Strombörse. Wir schlagen also mit der Wertschöpfung im eigenen Land den richtigen Weg ein, um zu stabilen Preisen zu kommen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Effizienz als Markenzeichen der Umweltpolitik ist in der Koalitionsvereinbarung offensichtlich. Das Programm zur energetischen Gebäudesanierung ist ein Punkt in diesem Bereich. Dies dient dem Schutz der Umwelt und auch dem Schutz der Geldbeutel derer, die die Rechnung bezahlen müssen. Wir können nicht verhindern, dass das Öl teurer wird. Aber wir können dafür sorgen, dass die Menschen weniger Öl benötigen und dadurch ihre Rechnungen nicht steigen. Dies tun wir an dieser Stelle.

   In der Bauindustrie entstehen natürlich neue Arbeitsplätze. Ich habe mich vor einigen Wochen über ein Zitat des Kollegen Loske gefreut. Während der Koalitionsverhandlungen hat er gesagt: Die SPD wird sich daran messen lassen müssen, ob es gelingt, das Programm zur energetischen Gebäudesanierung wirklich aufzustocken. Die Grünen hätten sich immer eine Verdoppelung gewünscht; daran müsse sich die SPD messen lassen. Herr Loske, wir haben mehr als eine Vervierfachung erreicht. Von daher erwarte ich Ihren Beifall für diese Koalitionsvereinbarung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

   Die Kraft-Wärme-Kopplung und die Endenergieeffizienz sind andere Bereiche, in denen wir vorangehen wollen. Ich sage noch einmal: Auch ich schaue mir natürlich die Beratungen zur EU-Effizienzrichtlinie in Brüssel ganz genau an. Ich weiß aber noch aus der alten Koalition, dass beide Parteien damals sehr kritisch zu den Methoden, die in dieser Effizienzrichtlinie niedergelegt worden sind, gestanden haben. Diese Methoden haben wir nicht für richtig gehalten. Es ist moderner, den Ansatz zu wählen, den wir selber in der Spätphase entwickelt haben und der in der Koalitionsvereinbarung steht, nämlich den Top-Runner-Ansatz, der eine Abkehr vom alten System ist, das sich beim Energieverbrauch immer am Mittelmaß orientiert hat, und besagt: Das beste Produkt einer Art setzt den Standard und alle müssen innerhalb von wenigen Jahren diesen Standard erreichen. Das wird ein Innovationswettlauf. Damit wollen wir auf den Weltmarkt kommen und den Energieverbrauch senken.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Im Koalitionsvertrag finden sich natürlich auch die traditionellen Themen des Umwelt- und Naturschutzes wieder. An dieser Stelle ist die Übertragung von über 100 000 Hektar der ökologisch wertvollsten Flächen an eine Stiftung herausragend, durch die sie optimal bewirtschaftet werden können. Denn wir wissen alle: Heute werden sie nicht in der Form gepflegt, wie es zum Erhalt dieses Naturerbes, dieses Kulturlandes eigentlich sein müsste.

    Maßnahmen gegen Flächenversiegelung sind angekündigt, aber sicherlich noch mit Inhalt zu füllen. Zum ersten Mal wird aber versucht, sich dieses Themas intensiv anzunehmen.

   Ein weiterer Punkt ist das Umweltgesetzbuch, das in der Tat die Chance schafft, Abläufe unbürokratischer zu gestalten, Genehmigungsverfahren aus einer Hand zu machen. Aber für mich gehört zu einem Umweltgesetzbuch auch, Umweltstandards nicht nur zu halten, sondern die materielle Auswirkung noch zu verbessern. Darum geht es auch. Wir sind nämlich nicht nur die Verteidiger erreichter Standards, sondern wir müssen weiter voranschreiten können.

    Dazu gehört natürlich, dass man bei der Frage der Umsetzung europäischen Rechts genau unterscheidet, was deutsches Interesse ist. Deswegen ist eine automatische Umsetzung eins zu eins nicht zu haben. An bestimmten Stellen wollen wir deswegen mehr machen, weil wir daraus einen Wettbewerbsvorteil im Sinne von Innovation machen wollen. Wir wollen nicht nur das tun, was andere machen, und dann veraltete Produkte auf dem Markt anbieten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Letzter Bereich ist die Energiepolitik. Natürlich war auch ich am Ende der Koalitionsverhandlungen froh, dass es ganz klar beim Atomausstieg bleibt. Biblis A wird 2006 stillgelegt. Weitere drei Atomkraftwerke werden stillgelegt, wenn die Betreiber die Produktion von Strom in diesen Atomkraftwerken nur deshalb nicht deutlich reduzieren, um sich damit über die Zeit zu retten. Es gibt also ganz eindeutig eine Abnahme des Anteils von Atomenergie.

   Beim Endlager gibt es einen einfachen Dreischritt: Erstens. Wir haben die Verantwortung für ein nationales Endlager für Atomabfälle.

   Zweitens. Wir müssen eine gewissenhafte Untersuchung machen und zwar aufgrund der Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen und der Menschen, die am Ende in der Nähe dieses Endlagers wohnen werden. Jegliche vorherige Festlegung, Herr Kauch, wie Sie sie immer wieder vornehmen, auch wenn Sie es anders umschreiben, ist falsch. Sie müssen den Menschen nachweisen, dass es der geeignetste Standort ist.

(Michael Kauch (FDP): Erkunden Sie doch mal!)

   Drittens. Ein wichtiger Unterschied ist - das betrifft jetzt nicht die Abgeordneten, die vor mir sitzen, sondern jemanden, der früher auf der Regierungsbank gesessen hat -: Man muss zu einem Ergebnis kommen wollen und das Verfahren nicht nur dafür verwenden, möglichst nicht entscheiden zu müssen.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

   Zum Bereich der erneuerbaren Energien: Die volle Förderung bleibt erhalten. Wir geben mehr Geld für Forschung aus und wir werden ein Gesetz hinsichtlich der regenerativen Wärme einfordern. Ich habe auch eine private Ansicht dazu, wie das aussehen sollte. Ich glaube, dass das ein ganz einfaches Gesetz sein sollte, das jeden zwingt, einen bestimmten Anteil erneuerbarer Energien bei Neubau zu nehmen und sich mit dem Thema zu beschäftigen. Viele werden sich dann freiwillig für die 100-Prozent-Lösung entscheiden, wenn sie sich erst einmal damit beschäftigt haben. Das muss kein kompliziertes Gesetz werden.

   Bei den Biokraftstoffen gibt es eine zusätzliche Förderung. Diese ist in den letzten Tagen beschrieben worden. Herr Kauch, das haben Sie bestimmt mitbekommen. Man muss die Wahrheit sagen, wenn man auf die Steuerbelastung und Preise von Treibstoffen eingeht. Ich habe das einmal nachgelesen: 80 Prozent der heutigen Steuern auf Kraftstoffe sind unter Regierungsbeteiligung der FDP beschlossen worden.

Keine andere Fraktion hier im Saal ist so sehr für die hohen Treibstoffpreise in Deutschland verantwortlich wie die FDP. Das muss man den Bürgerinnen und Bürgern einmal sagen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Mein letzter Punkt betrifft eine gute Nachricht, die uns letzte Woche erreicht hat: Der Verband der Netzbetreiber erwartet, dass der Anteil der erneuerbaren Energien bereits im Jahr 2011 bei 20 Prozent liegen wird, dass also das Mindestziel für das Jahr 2020 bereits dann erreicht ist. Ich teile diese Einschätzung. Bis zum Jahr 2020 können wir es sogar schaffen, dass der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung eine Größenordnung von einem Drittel erreicht. Wir sind in Deutschland auf dem Weg in die Solarwirtschaft. Das ist ein guter Weg.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Marie-Luise Dött von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Marie-Luise Dött (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir legen Wert darauf, den Umwelt- und Naturschutz mit den Menschen zu betreiben, nicht gegen sie.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das wird der rote Faden sein, der sich durch die Umweltpolitik der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zieht. Wir sehen und berücksichtigen, was die Menschen heute bewegt:

(Zuruf von der FDP: Weiß die SPD das auch?)

Da ist der Wunsch nach einer intakten Natur, einem Lebensraum, der eine hohe Lebensqualität bietet. Da ist die Sorge um die Gesundheit, die eigene und die der Familie.

(Zuruf von der LINKEN: Im Wendland!)

Und da ist nicht zuletzt der Wunsch nach finanzieller Absicherung durch einen Beruf und einen sicheren Arbeitsplatz.

   In unserer Umweltpolitik werden wir die Beweggründe der Menschen ernst nehmen und einen gemeinsamen Weg finden, der alle Belange gleichermaßen berücksichtigt. Daher werden wir in der Umweltpolitik neue und andere Akzente setzen. Einen ersten Schritt tun wir beispielsweise auf dem Gebiet der europäischen Chemikalienpolitik, bei REACH. Im Laufe der langwierigen Verhandlungen über den Kommissionsvorschlag ist das ursprüngliche Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu steigern, immer weiter in den Hintergrund gerückt. Wir wollen diesen Aspekt wieder verstärkt in die Diskussion auf europäischer Ebene einbringen.

   Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat bereits am Montag dieser Woche im EU-Wettbewerbsfähigkeitsrat die neue Position der Bundesregierung vertreten. In den noch ausstehenden Verhandlungen des Rates werden wir uns dafür einsetzen, dass der Verordnungsentwurf grundlegend verändert wird und sich an den Lissabon-Zielen der EU orientiert.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wichtig ist vor allen Dingen, dass die überbordende Bürokratie auf ein vernünftiges Maß zurückgefahren wird, damit REACH nicht zum Betonklotz am Bein der deutschen Wirtschaft und insbesondere des Mittelstandes wird.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ganz wichtig!)

   Dafür sind Veränderungen am Registrierungsverfahren genauso notwendig wie eine unbefristete Zulassung der Stoffe. Für den Bereich der Registrierung haben die Abgeordneten von EVP und SPE im Europäischen Parlament einen hervorragenden Kompromiss gefunden und verabschiedet. Er sieht Erleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen sowie für nachgeschaltete Anwender vor. Durch eine einheitliche Vorregistrierung, eine expositionsorientierte Datenanforderung und die Anwendung von Verwendungs- und Expositionskategorien zur Kommunikation in der Produktkette wird das REACH-System effizienter und praktikabler. Das ist auch für den Schutz der Menschen besonders wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich hoffe, dass der Kompromiss des Europäischen Parlaments auch in die anstehenden Verhandlungen im Rat Eingang finden wird. Die Ergebnisse, die unsere Kollegen im Europäischen Parlament gefunden haben, stellen einen guten Ausgleich zwischen dem Gesundheitsschutz, dem Umweltschutz und der ökonomischen Belastung der betroffenen Branchen dar.

   Über den Kompromiss im Bereich der Registrierung hinaus sind im Bereich der Stoffe, die ein Zulassungsverfahren durchlaufen müssen, weitere Verbesserungen des Kommissionsvorschlags notwendig. Die derzeit vorgesehene Befristung bedeutet einen wiederkehrenden bürokratischen Aufwand, der in meinen Augen unverhältnismäßig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ein Schwerpunkt unseres Interesses liegt bei REACH auf Forschung und Entwicklung; Katherina Reiche hat dieses Thema bereits angesprochen. Hier sind die Freiräume zu schaffen, die für ein innovatives Klima notwendig sind. Mit neuen Stoffen und neuen Verwendungen von Stoffen, zum Beispiel im Bereich der Energieeffizienz, kann aktiver Umwelt- und Klimaschutz betrieben werden. Dieses Potenzial sollte nicht beschränkt, sondern vielmehr gefördert werden.

   Der Klimaschutz bleibt eine zentrale Aufgabe der Umweltpolitik der Bundesregierung; alle Redner haben davon gesprochen. Es werden aber auch hier neue Akzente sichtbar werden: Realistischer und verlässlicher Klimaschutz braucht eine breite Basis. Er kann nur erfolgreich sein, wenn er weltweit betrieben wird. In diesen Tagen findet in Montreal die erste Klimakonferenz nach In-Kraft-Treten des Kiotoprotokolls statt - ein schöner Erfolg der Staatengemeinschaft. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir noch viele Herausforderungen zu bewältigen haben: Es ist kein Geheimnis, dass viele Kiotostaaten weit davon entfernt sind, ihre Klimaschutzziele zu erfüllen. Trotz dieser Schwierigkeit warne ich davor, mitten im Ritt die Pferde zu wechseln, das heißt, vom Kiotoprotokoll abzurücken. Ich sehe auch im Asiatisch-Pazifischen Klimapakt, APP, keine Alternative:

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Diese auf Freiwilligkeit basierende Übereinkunft kann das Kiotoprotokoll mit seinen verbindlichen Reduktionszielen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen.

   Wir dürfen auch nicht vergessen, dass mit dem Kiotoprotokoll nur ein Teil der weltweiten Treibhausgasemissionen abgedeckt ist: weil wichtige Staaten nicht teilnehmen. In den Schwellenländern muss das Wirtschaftswachstum von der Zunahme der Treibhausgasemissionen entkoppelt werden. Darüber hinaus haben wir uns nach Kräften zu bemühen, bisher abseits stehende Industriestaaten in Zukunft einzubeziehen. Wichtige Emittenten wie die USA, China und Indien nehmen noch nicht an der Verpflichtung des Kiotoprotokolls teil. Gegenüber diesen Ländern dürfen wir uns wirtschaftlich nicht isolieren. Denn eines möchten wir auf keinen Fall: unsere Minderungsziele dadurch erreichen, dass in Deutschland weniger produziert wird.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ganz im Gegenteil wollen wir Anreize setzen, dass Investitionsentscheidungen für Deutschland getroffen werden und neue Anlagen gebaut werden. Deswegen werden wir den Emissionshandel in Zukunft ökonomisch effizienter gestalten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Bei der Fortschreibung des Zuteilungsgesetzes kommt es uns darauf an, Mitnahmeeffekte zulasten des Strompreises zu beseitigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Kurz- bis mittelfristige Liquidität im Emissionshandelsmarkt und damit eine stabilisierende Wirkung auf die Energiepreise bringen auch die flexiblen Instrumente Joint Implementation und Clean Development Mechanism. Wir wollen sie schneller und unbürokratischer nutzbar machen und damit den internationalen Klimaschutz nach Deutschland holen.

   Im Rahmen einer nachhaltigen Klima- und Energiepolitik ist der Energieeffizienz stärkere Bedeutung beizumessen. Bis zum heutigen Tage spielen Energieeffizienz und Energie sparendes Verhalten nur eine untergeordnete Rolle. Diskutiert wird vor allem über das Angebot an Energie, also darüber, aus welchen Quellen wir unsere Energie beziehen. Die Nachfrageseite, über die auch einiges beeinflusst werden kann, wird noch immer vernachlässigt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Gerade hier liegen aber erhebliche Potenziale: Einem durchschnittlichen Haushalt entstehen durch unnötigen Stand-by-Betrieb und andere Leerlaufformen jährlich Stromkosten von etwa 70 Euro. Die rund 38 Millionen Haushalte in Deutschland haben also ein großes Potenzial, einen Beitrag zum sparsamen Einsatz von Energie und somit im Ergebnis zum Klimaschutz zu leisten. Durch das Ausschalten der Geräte und die Verwendung von Netzschaltern kann mit geringem Aufwand ein großer Erfolg erzielt werden. Für den einzelnen Haushalt führt dies zur Reduzierung der Kosten, für die gesamte Bevölkerung zu einem nicht unerheblichen Beitrag zum Klimaschutz.

Weitere Einsparpotenziale finden sich auch im Gebäudebereich, hier insbesondere bei der Altbausanierung. Um die nationalen und internationalen Klimaschutzziele zu erreichen, wollen wir das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf ein Fördervolumen von mindestens 1,5 Milliarden Euro pro Jahr erhöhen - das freut besonders Herrn Loske, der heute so krank ist - und einen Gebäudeenergiepass einführen. Jährlich sollen 5 Prozent des Gebäudebestandes mit Baujahr vor 1978 energetisch saniert werden. Alle passiven und aktiven energetischen Sanierungsmaßnahmen sind zugleich ein Jobmotor für die beteiligten Industriezweige, den Mittelstand und das Bauhandwerk.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Durch die Erneuerung des Kraftwerksparks, vorwiegend von Stein- und Braunkohlekraftwerken, könnten erhebliche CO2-Einsparungen bewerkstelligt werden. Allein in Deutschland müssen in den kommenden zehn bis 20 Jahren etwa die Hälfte aller Kraftwerke ersetzt werden. Dies betrifft ein Investitionsvolumen von vielen Milliarden Euro. Eine Verbesserung der Wirkungsgrade bedeutet zugleich eine Verbesserung der CO2-Bilanz und damit aktiven Klimaschutz zu verträglichen Vermeidungskosten.

   Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird sich in der großen Koalition dafür einsetzen, die Schöpfung zu bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten. Gleichzeitig wollen wir der Umweltpolitik nicht ihre wirtschaftliche Grundlage entziehen. Die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU, CSU und SPD bildet die Basis zur Erreichung dieser Ziele. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Vertrag den Beginn einer zukunftsorientierten, effizienten und erfolgreichen Umweltpolitik der großen Koalition darstellt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.

   Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 16/59 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Wie ich sehe, ist das nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

   Damit kommen wir zum Themenbereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ich erteile das Wort der Bundesministerin, Frau Dr. Ursula von der Leyen.

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Koalitionsvertrag ist ein Meilenstein zu einer modernen Familienpolitik. Wir haben darin klar gemacht: Wir wollen mehr Kinder in den Familien und mehr Familie in der Gesellschaft. Wir investieren in Familie.

   Das Leitbild, an dem wir uns orientieren, meint mehr als einen Familienlastenausgleich - das auch, aber nicht nur. Familie ist mehr als eine Oase der Innerlichkeit oder des Rückzugs - das auch, aber nicht nur. Familie ist der Ort, wo Menschen für andere und für sich Verantwortung übernehmen. Familie ist der Ort, von dem Kinder hoffentlich in ein glückliches Leben aufbrechen. Familie ist der Ort, wo Menschen immer wieder neu ein gemeinsames Leben handeln und verhandeln. Familie ist der Ort, wo sich beide Eltern für beides verantwortlich fühlen, für das wirtschaftliche wie für das emotionale und seelische Wohl der Kinder.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Um das zu erreichen, müssen wir aber auch bereit sein, unsere Einstellungen, Klischees und schnellen Urteile zu überprüfen. Die Botschaft, die heute aus allen Kanälen und Chefetagen auf die jungen Menschen niederprasselt, ist ziemlich eindeutig und verheerend: „Wer beruflichen Erfolg im Leben nicht ausschließen will, sollte Kinder und Familie, Sorge und Verpflichtung für andere meiden, weil sie auf dem Weg durch ein spannendes Leben nur behindern.“ - Ich weiß erstens aus Erfahrung: Das ist nicht wahr. Ich bin zweitens der Meinung: Eine Gesellschaft, die so programmiert ist, wird in doppelter Hinsicht scheitern;

(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)

sie wird dadurch sozial kälter und ökonomisch nicht erfolgreicher werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

   Familien brauchen vor allem drei Dinge: Zeit, eine unterstützende Infrastruktur und Einkommen. Aber damit Familien überhaupt erst entstehen, müssen wir die Rahmenbedingungen so verändern, dass junge Männer und Frauen Kindern, Familie und Beruf in ihrem Lebenslauf besser als gegenwärtig Raum geben können, Raum verschaffen können. Somit ist es eine konservative, weil bewahrende Aufgabe, Familie auch und gerade unter veränderten Bedingungen wieder leichter möglich zu machen.

   Mögen sich manche noch so nostalgisch an die 50er-Jahre erinnern: Sie kommen nicht wieder zurück. Darüber, ob Familienwerte heute, 2005, und in Zukunft gelebt werden können, entscheiden unser Handeln und unsere politische Tat.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Es ist eine soziale Aufgabe, mit und durch Familien den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken und dafür zu sorgen, dass möglichst alle Kinder ihre Talente und Fähigkeiten von Anfang an optimal entfalten können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   So betrachtet rückt die Politik für Familien vom Rand in die Mitte einer zukunftsorientierten Gesellschaftspolitik. So oder so stellt sie die Weichen in viele Richtungen. Ob wir in den Bildungsbilanzen - sprich: PISA - wieder nach vorne kommen, ob wir Wohlfahrt und Wohlstand nachhaltig sichern, ob wir ein lebendiges Land werden, das lebenswert und attraktiv im globalen Wettbewerb ist: Politik für die Familien ist eine Politik für die Zukunft! Wer die Zukunft gewinnen will, der muss bereit sein, neue Wege zu gehen und starke Akzente zu setzen.

   Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag entscheidende Meilensteine für eine ganzheitliche und nachhaltige Familienpolitik verankert: Im Jahre 2007 wird das einkommensabhängige Elterngeld das derzeitige Erziehungsgeld ablösen. Die Eltern erhalten dann 67 Prozent des vorherigen Nettoerwerbseinkommens für ein volles Jahr bis zu einer Höchstgrenze von 1 800 Euro. Dies ermöglicht es den Familien, sich ihrem Kind gerade in seinem ersten Lebensjahr ohne Geldsorgen intensiv zu widmen. Wir wissen, dass dies von entscheidender Bedeutung für die meisten jungen Eltern ist. Das Signal des Staates ist ganz eindeutig: Jedes Kind ist eine Bereicherung für uns alle als Gesellschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb mildern wir Einkommenseinbrüche im ersten Lebensjahr nach der Geburt eines Kindes ab. Das gilt für Eltern, die sich zur Betreuung des Kindes entschließen, und das gilt ebenso für Eltern, die weiter erwerbstätig bleiben und damit hohe Kinderbetreuungskosten haben.

   Außerdem wollen wir es Müttern und auch Vätern erleichtern, Elternzeit zu nehmen. Acht Monate lang ist es den Eltern völlig freigestellt, wie sie die Elternzeit aufteilen und ob und in welchem Maße sie erwerbstätig sind. Zwei Monate sind zusätzlich für den Vater und zwei Monate sind zusätzlich für die Mutter reserviert. Die Muttermonate sieht wohl jeder als selbstverständlich an. Die Vatermonate sollten es eigentlich auch sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN))

   Meine Damen und Herren, Kinder brauchen Mütter, Kinder brauchen aber auch Väter. Sowohl Väter als auch Mütter wollen ihre Fähigkeiten im Arbeitsmarkt entfalten können. Ich denke, die Vatermonate werden ein wichtiger weiterer Schritt auf dem Weg zu einer veränderten Arbeitskultur sein, die hoch effizient und dennoch familienverträglich sein wird.

   Diese elementare Erfahrung, dass die Kindererziehung und die Talente der Eltern in der Arbeitswelt einander nicht ausschließen, sondern bestärken können, nutzen wir in Deutschland viel zu wenig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Sie ist aber Grundvoraussetzung, wenn die Kindererziehung in einem modernen Land inmitten einer globalisierten Welt eine Zukunft haben soll.

   Norwegen und Schweden beispielsweise haben bereits gute Erfahrungen mit diesen Vatermonaten gemacht. Fast 40 Prozent der schwedischen Männer nutzen dieses Angebot. Diesen Ländern, ihrer Prosperität und ihren Kindern hat es nicht geschadet, sondern genutzt.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

Das Elterngeld in Verbindung mit dem Ausbau der Kinderbetreuung für unter 3-Jährige bedeutet auch, dass in Zukunft die Möglichkeit einer spürbaren Senkung von Familienarmut besteht. Wenn junge Frauen - auch aus einfachen Berufen - nach der Geburt eines Kindes aufgrund des Elterngeldes zunächst ein Jahr in ihrem Berufsleben pausieren können und danach eine gesicherte und bezahlbare Kinderbetreuung vorfinden und nutzen, dann wird es viel weniger Familien geben, die nur von einem Einkommen oder nur von Transfereinkommen leben müssen. Nicht Kinder machen arm, sondern Kinder leben in Armut, weil ihre Eltern keine Arbeit haben oder den Wiedereinstieg in den Beruf nicht mehr finden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Das Elterngeld fördert eine feste Berufsidentität von Frauen. Es verdeutlicht, dass sie in ihrem Beruf verankert bleiben, setzt eben Familienzeit nicht länger in einen Gegensatz zur Erwerbstätigkeit.

(Ina Lenke (FDP): Ein Jahr!)

   Wir müssen aber auch wieder entdecken, dass Familien, die sich nach dem Prinzip der Subsidiarität einsetzen, um ihre Kinder zu erziehen und ihr Einkommen zu erwerben, Arbeitsplätze schaffen. Deshalb wird diese Bundesregierung dafür sorgen, dass Eltern bei den Kinderbetreuungskosten und den haushaltsnahen Dienstleistungen steuerlich entlastet werden, und wir werden den Kinderzuschlag weiterentwickeln, um Kinder- und Familienarmut zu verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Wir brauchen eine Politik, die Mut zu Kindern macht. Wir brauchen aber auch eine Politik, die sich mehr um die Kinder kümmert, die heute heranwachsen. Kein Kind darf verloren gehen. Jedes Kind ist wichtig, um die wirtschaftliche, emotionale und soziale Zukunft unseres Landes zu sichern. Es gibt zunehmend in unserem Land Kinder, die in einer Atmosphäre der Erziehungsohnmacht aufwachsen. Sie erfahren und erleiden körperliche und seelische Verwahrlosung. Der zuverlässigste Ansprechpartner ist vielleicht der Fernseher im Wechsel mit dem Computer. Diese Kinder lassen wir an ihrem Lebensanfang verkümmern. Hier müssen wir mehr hinschauen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Mit Modellprojekten zur Frühförderung gefährdeter Kinder werden wir dafür sorgen, dass Hilfe in diese Familien und damit zu den Kindern kommt.

   Die Familienstrukturen verändern sich. Die Großfamilie verschwindet. Das kann man beklagen, aber es ist eine Tatsache. Damit schwindet auch der selbstverständliche Zusammenhalt der Generationen. Erziehungswissen und Alltagskompetenzen gehen verloren, aber auch Erfahrung, Gelassenheit und Muße der älteren Generation bleiben oft ungenutzt. Stattdessen wird Einsamkeit immer mehr zum Altersproblem.

   Wir wollen den familienpolitischen Horizont auf die Mehrgenerationenfamilie ausweiten. Die Öffnung des Horizontes geschieht nicht nur aus menschlichen und emotionalen Gründen, sondern auch deshalb, weil sich nur mit diesem erweiterten Blick ganz handfeste Chancen nutzen und Probleme lösen lassen. Wir wollen ein Leitbild des „produktiven Alterns“. Die älteren Menschen sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Das muss uns leiten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

   Familie ist im wahrsten Sinne des Wortes der ursprüngliche Ort, wo Alltagssolidaritäten gelebt werden. Auch wenn Familien kleiner, bunter und mobiler werden: Auf das Geben und Empfangen von Alltagssolidaritäten können wir nicht verzichten. Wir müssen deshalb neue moderne Netzwerke schaffen, gewissermaßen die Vorteile der früheren Großfamilie in moderne Sozialstrukturen übertragen. Wir werden deshalb Mehrgenerationenhäuser als familienunterstützende Zentren schaffen. Sie erschließen bürgerschaftliches Engagement. Sie machen Zusammenhalt erfahrbar. Sie geben Alltagskompetenzen und Erziehungswissen weiter. Sie geben Antworten darauf, wie sich die Generationen in einer Gesellschaft des langen Lebens untereinander helfen können.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Politik für die Familien ist alles andere als ein „weiches“ Thema oder eine Unterabteilung der Sozial- und Transferpolitik. Ganz im Gegenteil, sie ist ein Handlungsfeld, das Weichen stellt und so darüber mitentscheidet, wie in dieser Gesellschaft Bildung, Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt sein werden. Das Ziel, mehr Kinder in die Familien und mehr Familie in die Gesellschaft zu bringen, erfordert eine schöpferische Politik. Es erfordert zum Teil auch andere Wege, als sie frühere Regierungen gegangen sind.

   Wir wollen erneuern, um zu bewahren. Der demographische Wandel kann nicht nur Krise, sondern auch Chance bedeuten. Er kann gestaltet werden und wir wollen diese Herausforderung annehmen.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat nun die Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion.

Ina Lenke (FDP):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau von der Leyen, als niedersächsische Bundestagsabgeordnete möchte ich Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch zu Ihrem wichtigen Amt aussprechen. Von Ihnen und der Bundeskanzlerin erwarten die Frauen in Deutschland eine starke Interessenvertretung für mehr Beschäftigung und endlich bessere Rahmenbedingungen für Familien und Kinder.

   Die FDP wird jede Maßnahme unterstützen, die Kinderarmut beseitigt und Frauen und besonders auch Männer ermutigt, sich für Kinder zu entscheiden. Denn Kinderlärm ist Zukunftsmusik.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb beantragt, dass wieder eine Kinderkommission - eine Lobby für Kinder - eingesetzt wird. Wir hoffen, dass wir uns auch diesmal einigen und fraktionsübergreifend diesen wichtigen Unterausschuss einrichten.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

   Alles, was die rot-grüne Bundesregierung nicht geschafft hat, soll jetzt angepackt werden, zum Beispiel das einjährige Elterngeld. Frau von der Leyen, als ich Ihrer Rede zuhörte, habe ich mich immer wieder gefragt, wo die Kindergarten- oder Krippenplätze sind, wenn Frauen ab 2007 nach einem Jahr wieder arbeiten gehen, aber erst ab dem dritten Lebensjahr des Kindes einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben. Hier gibt es eine Betreuungsfalle.

(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich bitte Sie, dazu Stellung zu nehmen.

   Die FDP wird aber Ihr Konzept unterstützen, Frau von der Leyen, wenn es hinsichtlich des Elterngelds auf einer soliden finanziellen Grundlage steht. Mit der Vorgängerregierung haben wir in diesem Zusammenhang schlechte Erfahrungen gemacht. Das macht misstrauisch. Die SPD hatte 230 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren versprochen. Diese Maßnahme sollte durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe finanziert werden. Doch bisher ist bei den Städten und Gemeinden nichts angekommen. Die Bundeskanzlerin hat trotzdem dieses Wahlversprechen erneuert.

   Herr Staatssekretär Gerd Hoofe, Sie haben noch aus der niedersächsischen Landesregierung heraus im Oktober kritisiert, dass die versprochene Entlastung der Kommunen ausbleibt. Ich zitiere aus der Pressemitteilung vom 5. Oktober 2005: „Bundesminister Clement plündert die Kassen der Kommunen“. Wir erwarten von Ihnen als neuem Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, dass innerhalb von 100 Tagen das Finanzierungskonzept für die Kommunen vorliegt.

(Beifall bei der FDP)

   Die angekündigten familienpolitischen Verbesserungen, die bessere steuerliche Absetzbarkeit der Kinderbetreuung, die Berücksichtigung von haushaltsnahen Dienstleistungen und die Abschaffung der Lohnsteuerklasse 5, für die die FDP und ich jahrelang gekämpft haben, unterstützen wir, wenn es vernünftige Lösungen gibt. Persönlich begrüße ich die Neuregelungen zur anonymen Geburt, die Sie vornehmen wollen. Das derzeitige Recht - das wissen wir alle - stimmt nicht mit der Realität überein. Wenn wir gemeinsam zu einer Neuregelung kämen, würde ich mich freuen.

(Beifall bei der FDP)

   Die FDP wird aufmerksam verfolgen, ob sich diese Regierung tatsächlich für die Familien einsetzt. Denn die Gesamtbilanz ist maßgebend. Wie verhalten sich Belastungen und Entlastungen zueinander? Wenn die Pendlerpauschale drastisch gekürzt wird, die Eigenheimzulage wegfällt und die Mehrwertsteuer erhöht wird, sind das zunächst einmal Belastungen, die mit den angekündigten Entlastungen verrechnet werden, ehe für die Familien ein Mehrwert entsteht.

   Eine zentrale Forderung der FDP ist die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familienarbeit. Für Frauen bedeutet das mehr Berufstätigkeit und für Väter mehr Familienarbeit.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dabei bitte ich zu beachten, dass zwar die Zahl der berufstätigen Frauen seit 1991 deutlich zugenommen hat, nicht aber - das ist wichtig - das von ihnen geleistete Arbeitsvolumen.

Dieses verteilt sich lediglich auf mehr Personen. Frau von der Leyen, das ist ein schlechtes Zeichen. Nur wenn es der Bundesregierung gelingt, die Arbeitslosigkeit erfolgreich zu bekämpfen, wird es Familien und Frauen in Deutschland besser gehen.

   Frau von der Leyen, zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung zum Zivildienst machen. Er fehlte mir in Ihrer Rede. Wie Sie sicherlich wissen, müssen der Zivildienst und die Wehrpflicht in dieser Legislaturperiode besonders beachtet und - unserer Meinung nach - ausgesetzt werden. Was unter der alten Regierung geschehen ist, ist eine jugendpolitische Todsünde, vor der ich die neue Regierung nur warnen kann. Der Verteidigungsminister hat sich jedenfalls mit seiner Ankündigung, einen Pflichtdienst für junge Männer und Frauen einzuführen - dazu hätte ich gerne etwas von Ihnen gehört -, ein schlechtes Entree verschafft. Das ist ein verheerendes politisches Signal. Ich bitte Sie sehr herzlich, dem etwas entgegenzusetzen; denn wenn die Bundesregierung einen Pflichtdienst einführt, dann werden 700 000 - so groß ist jedes Jahr die Zahl der tauglichen jungen Männer und Frauen - sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wegrationalisiert. Das wollen wir alle doch nicht.

   Recht herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Nun hat das Wort die Kollegin Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion.

Nicolette Kressl (SPD):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit einem Satz beginnen, den wir schon oft formuliert haben und den wir in den Koalitionsvertrag wieder aufgenommen haben: Familien sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Neben ökonomischen Aspekten sind emotionale zu berücksichtigen, wenn es um Familie geht. In sehr vielen Familien konzentriert sich die Hoffnung auf Solidarität, Geborgenheit und Weiterentwicklung. Diese kann leider nicht immer erfüllt werden. Aber in vielen Familien ist das der Fall. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Rahmenbedingungen für Familien ständig zu verbessern. Die Politik darf sich nicht einfach ausdenken, wie Familie funktionieren soll, und danach handeln. Unsere Aufgabe muss vielmehr sein, ständig zu analysieren, unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich Familien gut entwickeln. Wenn sich die Gesellschaft weiterentwickelt, muss natürlich auch der äußere Rahmen für Familien verändert werden.

   Wir müssen die Wünsche der Menschen betreffend Familie und ihrer Entwicklung aufnehmen und die gesellschaftliche Situation der Familien analysieren. Das halte ich für ganz wichtig. Wir müssen darüber reden, unter welchen Rahmenbedingungen sich Familien gut entwickeln. Wir wissen, dass es sehr viel mehr ältere Menschen in unserer Gesellschaft gibt, dass sich viele Menschen im Moment ihren Kinderwunsch nicht erfüllen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch immer schwierig ist und dass es auch deshalb sehr häufig Defizite bei der Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in der Familie gibt. Zu einer Analyse gehört, daraus die Konsequenzen für das politische Handeln zu ziehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Wir wissen des Weiteren - das ist ebenfalls eine Aufgabe der Familienpolitik -, dass es zunehmend Familien gibt, die von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen sind. Deshalb ist es ganz entscheidend, dass Familienpolitik ein ganzes Bündel an Maßnahmen umfasst.

   Wer auch immer glaubt, mit nur einer Maßnahme könnte erreicht werden, dass mehr Kinderwünsche erfüllt werden, oder mit nur einer Maßnahme könnte sich die Rollenverteilung in der Familie verändern, täuscht sich. Wir brauchen ein Bündel von verschiedenen Maßnahmen und wir brauchen eine Verzahnung mit anderen Politikfeldern. Ich freue mich, dass es in diesem Koalitionsvertrag gelungen ist, Familienpolitik und Politik für Kinder und Jugend keineswegs nur in diesem Kapitel Familienpolitik zu verankern. Wir sehen vielmehr, dass es ganz viele Bereiche gibt, in denen diese eine entscheidende Rolle spielt. Ich will einige Beispiele dazu nennen.

   Wir haben familienpolitische Maßnahmen mit dem Bereich Bildungspolitik verzahnt, weil wir in beiden Fällen zu Recht Wert auf frühkindliche Förderung legen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Wir haben - auch das finde ich ganz entscheidend - Familien- und Gleichstellungspolitik mit der Arbeitsmarktpolitik verzahnt. Auch dazu zwei Beispiele. Wenn wir betonen und unterstreichen, dass es für uns wichtig ist, dass unter 25-Jährige auch das Recht auf eine Ausbildung, eine Qualifikation oder einen Arbeitsplatz haben,

(Zurufe von der LINKEN)

dann ist das ein entscheidender Beitrag dazu, familienpolitisch weiterzukommen.

(Beifall bei der SPD)

Dass wir unseren Wunsch verankern, dass alle Maßnahmen der Arbeitsmarktreform auch unter frauenpolitischen Gesichtspunkten evaluiert werden, ist für mich entscheidend für die Frage der Rollenverteilung und Chancengleichheit. Das gehört auch zur Familien- und Gleichstellungspolitik.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Im Bereich der Steuerpolitik haben wir verankert, dass es nun weitere Verbesserungen - ich betone: weitere Verbesserungen - bei der steuerlichen Anerkennung von Betreuungskosten geben wird. Es war während unserer Regierungszeit, als die Anerkennung von erwerbsbedingten Betreuungskosten in das Steuerrecht aufgenommen wurde. Auch das ist ein entscheidender Punkt. Wir haben vor, schon im nächsten Jahr zu Verbesserungen im Bereich der steuerlichen Anerkennung von Kinderbetreuung zu kommen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich will einen letzten Bogen zu einem anderen Politikbereich spannen. Es ist nicht der letzte insgesamt, aber ein letztes Blitzlicht, nämlich der Bereich Innenpolitik und Integration. Ich habe vorhin angesprochen, dass wir wissen, dass es Kinder gibt, die nicht mehr an dem, was sie für ihre Entwicklung brauchen, teilhaben. Es liegt in der Verantwortung der Integrations- und der Innenpolitik, aber auch - das sage ich ausdrücklich - der ehemals im Familienministerium verankerten Integrationsbeauftragten, zu überlegen, wie die Chancen von Kindern von Migrantinnen und Migranten deutlich verbessert werden können. Da müssen wir in den nächsten Jahren noch weitere Schritte gehen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Wir sichern von hier aus Frau Böhmer unsere Unterstützung zu, aber wir garantieren auch, dass wir immer darauf schauen, dass sie sich entsprechend weiterentwickelt.

(Beifall bei der SPD)

   In diesem Koalitionsvertrag - darüber freuen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns ganz besonders - stellen wir fest, dass es wirklich gelungen ist, gemeinsam den Schritt zur modernen Familienpolitik zu gehen. Ich will die Gelegenheit hier nutzen, der ehemaligen Bundesministerin Renate Schmidt - sie ist krank und kann nicht da sein - ein Dankeschön zu sagen, weil wir wissen, dass sehr viele von diesen neuen Gedanken und Entwicklungen im Bereich der Familienpolitik auch ihrer Arbeit zu verdanken sind.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Lenke (FDP))

   Gestatten Sie mir einen Gedanken zu der Frage, die gestern in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin angedeutet worden ist, nämlich die Frage der Freiheit. Mir ist schon wichtig, im Bereich der Familienpolitik mit zu definieren, wo für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Freiheit wichtig ist. Wir sehen da eine Verbindung, nämlich dass auf der einen Seite Frauen und Männer individuelle Lebenschancen erhalten, während sie auf der anderen Seite selbstständig und eigenständig ihre wirtschaftliche Grundlage autonom sichern können. Diese Verbindung gehört für uns zum Freiheitsbegriff.

(Beifall bei der SPD)

   Deshalb gibt es das Maßnahmenbündel, das auch Sie, Frau Ministerin, beschrieben haben: Wir wollen den Betreuungsausbau verstetigen; wir unterstützen den Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz. Wenn es den Kommunen nicht gelingt, ihrer Verpflichtung zum Ausbau von Betreuungseinrichtungen nachzukommen, dann werden wir einen Rechtsanspruch auf Betreuung von Kindern ab dem zweiten Lebensjahr einführen, um deutlich zu machen, dass Betreuungsausbau und Elterngeld, also der zweite Bereich des Maßnahmenbündels, ganz eng zusammenhängen. Es ist selbstverständlich notwendig, dass auch Eltern, die kürzere Zeit zu Hause bleiben, auf eine gut ausgebaute Infrastruktur an Betreuungsangeboten zurückgreifen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Wir wollen - auch dies ist ganz wichtig - den Kinderzuschlag deutlich erhöhen. Wir wollen das Ganze so gestalten, dass es einfacher und transparenter wird. Das ist notwendig. Wir wollen, dass auch die Zahl der Anspruchsberechtigten deutlich steigt. Das heißt, wir haben die ganz wichtige Aufgabe zu lösen, die Teilhabechancen und die materielle Absicherung von Familien mit niedrigem Einkommen zu verbessern. Das ist ein entscheidender Bestandteil dieses Maßnahmenbündels.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Vor uns liegt sehr viel Arbeit in diesem Bereich. Ich kann Ihnen sagen, Frau Ministerin: Wir freuen uns darauf, diese gemeinsam mit Ihnen zu schultern. Wir finden nämlich, dass es sich für die Frauen, für die Kinder und für die Familien lohnen wird, diese Arbeit zu tun.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Das Wort hat nun der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Jörn Wunderlich (DIE LINKE):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer die Regierungserklärung aufmerksam verfolgt und den Koalitionsvertrag mit Interesse gelesen hat, der kann doch nur feststellen, dass der Eindruck erweckt werden soll, Deutschland sei kinder- und familienfreundlich. Jeder kann seine Meinung sagen und jeder kann Festlegungen treffen. Wie weit sie zutreffen, das wird sich im Ergebnis zeigen. Die Regierung wird nicht an den Worten, sondern an den Taten gemessen.

   Ich kann gegenwärtig nur feststellen: Die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn eine Gesellschaft, die sich im Wesentlichen dem Diktat des Geldes und der Ökonomie unterwirft, eine Gesellschaft, die nach dem Motto „Rechnet sich das überhaupt?“ handelt, kann nicht familien- und kinderfreundlich sein.

   Ein weiterer Grund, der mich zweifeln lässt: Bundeskanzlerin Merkel hat gestern vom Elterngeld als Einkommensersatz mit dem so genannten Vaterfaktor gesprochen. In einem Entschließungsantrag der CDU/CSU vom 19. April 2005 zur Regierungserklärung von Gerhard Schröder am 18. April 2002 stand:

Gerade die geplante Einführung des Elterngeldes widerspricht dem Prinzip einer bedarfsgerechten Förderung und verstößt gegen den Grundsatz der Wahlfreiheit. ... Das Elterngeld verstößt aber auch gegen den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit. Das bisherige Erziehungsgeld ist eine Anerkennung der Erziehungsleistung der Eltern. … Das Elterngeld hingegen begünstigt höhere Einkommensgruppen. Dies ist sozial ungerecht und widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN - Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Hört! Hört!)

Da frage ich mich natürlich: Mit wie vielen Richtungsänderungen ist denn noch zu rechnen?

   Ein weiteres Problem: Zu den notwendigen Rahmenbedingungen, die die Koalition bezüglich einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit schaffen will, gehört auch eine familienfreundliche Arbeitswelt mit flexiblen Arbeitszeiten. Das klingt zunächst gut; aber die Wirklichkeit auf dem Arbeitsmarkt sieht doch ganz anders aus. In der Industrie, in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst wird eine ganz andere Sprache gesprochen. Der Vater pendelt über viele Kilometer zum Arbeitsplatz und ist nur am Wochenende zu Hause. Demnächst bekommt er noch nicht mal mehr die Pendlerpauschale; das ist ja machbar. Die Mutter wird von der Agentur für Arbeit in einen 80 Kilometer entfernten Arbeitsort - das ist laut Agentur für Arbeit zumutbar - vermittelt. Oder: Bei Erkrankung der Kinder stehen im gesamten Jahr nur vier bis zwölf Tage - je nachdem, wo man beschäftigt ist - für eine Freistellung zur Verfügung.

Nun weiß jeder von Ihnen, dass Kinder krankheitsanfälliger sind. Masern sind nicht nach vier Tagen auskuriert. Was passiert mit den Kindern? Die Lösung kann doch nicht der Griff zum Jahresurlaub sein.

   An dieser Stelle geht meine Kritik und die Kritik meiner Fraktion an Sie alle - ich wiederhole: an Sie alle -: Sie lassen seit Jahren soziale Ungerechtigkeiten zu. Sie lassen es zu, dass Familien übermäßig belastet und zerrissen werden, fordern stringent Mobilität ein. Jetzt meinen Sie, das Ganze mit einem Unternehmensprogramm zur betrieblichen Betreuung der Kinder, mit Mehrgenerationenhäusern und Modellprojekten lösen zu können. Das alles klingt nicht schlecht. Über die Ansätze lässt sich reden. Nur, das Verwerfliche ist die Umsetzung. Da wollen Sie nämlich wieder soziale Ungerechtigkeiten zulassen.

   Die bereits erwähnten Modellprojekte als Lösung aller bzw. fast aller Probleme. - Mal ehrlich: Wenn wir mit offenen Ohren und offenen Augen durch die Wahlkreise gehen, dann erfahren wir doch, dass es Projekte in Hülle und Fülle gibt. Aber alle haben ein gemeinsames Problem: die Finanzierung bzw. die Anschlussfinanzierung. Da müssen Gelder gestrichen werden, um die Finanzierungslücken in den Kommunen und Kreisen zu schließen, die durch die verfehlte Hartz-IV-Politik entstanden sind. Das ist der falsche Weg. So kann es nicht weitergehen und so wird es auch nicht weitergehen.

(Beifall bei der LINKEN)

   Noch ein Wort zu den Mehrgenerationenhäusern. Auch das klingt gut. Aber soll generationenübergreifende Alltagssolidarität unter Erwerbslosen, verarmten Rentnern und Kindern ohne Kitaplatz bestehen? Ist das die Lösung in der Familienpolitik? Initiieren Sie nicht immer wieder neue Projekte zulasten bereits laufender Projekte! Was wir brauchen, ist eine soziale Grundsicherung für alle, Kontinuität bei der Ausnutzung der Ressourcen als Investition in die Familie; denn - darüber, denke ich, sind wir uns einig - Familie ist Zukunft.

   Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Herr Kollege Wunderlich, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu und wünsche alles Gute.

(Beifall)

   Das Wort hat nun die Kollegin Ekin Deligöz von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorneweg eines feststellen: Die neue Regierung hat die Bedeutung von Familienpolitik erkannt. Sie hat einige richtige politische Ansätze. Dennoch bin ich an vielen Punkten skeptisch und die will ich auch benennen.

   Viele Ihrer guten Ansätze münden nur in halbherzigen Ankündigungen. Viele entscheidende Punkte in diesem Koalitionsvertrag sind ungeklärt. Sie sind offen. Sie sind nicht konkret. Im Bereich der Frauen-, Jugend- und Altenpolitik fehlen sogar konkrete Beschlüsse. Fehlanzeige! Nichts ist zu finden!

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Viel Prosa, nichts Konkretes. So kann man die wichtigsten Entscheidungen in einem Zukunftsfeld dieser Nation nicht lösen. Schöne Worte reichen da nicht aus. Wir brauchen die Taten hierzu.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Wir haben jetzt schon einiges über das Elterngeld gehört. Ich möchte das als ein Beispiel herausgreifen. Eine richtig fundierte Bewertung und Debatte dazu ist im Moment noch gar nicht möglich. Wie das Ganze ausgestaltet werden soll, wer darauf Anspruch hat, wer profitiert und wer Verlierer ist - das sind die absolut entscheidenden Punkte -, können wir im Moment noch gar nicht sagen. Die wichtigen Punkte fehlen, sind noch nicht präsentiert. Ganz im Gegenteil: Es gibt eine ganze Menge von Punkten, bei denen Unklarheiten dominieren und präzise Fakten fehlen. In den öffentlichen Äußerungen vonseiten der Koalitionspolitikerinnen und -politiker tauchen im Übrigen Widersprüche auf.

   Einerseits behaupten Sie im Koalitionsvertrag, das Ganze koste 3 Milliarden Euro. So viel kostet das Erziehungsgeld heute. Das heißt, irgendwo müssen an den bisherigen Modellvorschlägen rasante Kürzungen vorgenommen werden, die aber nicht benannt werden. Andererseits sagt die Ministerin in einem Interview, das Ganze koste vielleicht doch 4 Milliarden Euro. Was stimmt denn nun, 3 oder 4 Milliarden Euro?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sagen: Es bleibt alles ein Stück weit, wie es ist. Einerseits sprechen Sie im Koalitionsvertrag dann von der Alternative A und der Alternative B in Bezug auf die Bemessungsgrundlage. Andererseits sagt die Ministerin, wieder in einem Interview, die Alternative B, die von der Union vorgeschlagen wird, sei längst durchgesetzt und werde auch so umgesetzt. Das heißt für mich eigentlich, dass Union und SPD sich in der Ausgestaltung und in den wichtigen Punkten noch gar nicht einig sind. Wenn das Elterngeld das zentrale familienpolitische Projekt dieser Koalition sein sollte, dann ist das eine sehr bescheidene Leistung, die Sie hier präsentieren.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Es freut mich, dass das Tagesbetreuungsausbaugesetz bestätigt worden ist. Es freut mich umso mehr, als wir dazu mehrere Gespräche auch mit der CDU/CSU-Fraktion geführt haben. Insbesondere freut es mich, weil dieses Gesetz maßgeblich von den Grünen initiiert wurde; denn es ist gut für die Eltern und für die Kinder. Mit Blick auf die Zukunftschancen ist es wichtig, Frühförderung und Elementarbildung anzugehen. Bei aller gegensätzlichen Debatte über das Elterngeld: Wir wissen, dass der Schlüssel zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Tagesbetreuung liegt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Gleichzeitig sage ich Ihnen: So zu tun, als sei diese Aufgabe schon gelöst und man könne dieses Kapitel schließen und das nächste aufmachen, ist eine Lebenslüge; das stimmt so nicht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Christel Humme (SPD): Das steht auch so nicht im Koalitionsvertrag! Lesen!)

Sie sagen zwar, für Sie sei erst einmal das Elterngeld wichtig, über die Kinderbetreuung könne man in ein paar Jahren noch einmal reden.

(Nicolette Kressl (SPD): Das stimmt doch gar nicht!)

Aber das ist viel zu spät. Sie verdrehen die Notwendigkeiten. Sie müssen erst die Grundlagen für eine Kinderbetreuung schaffen, damit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich wird, und in einem zweiten Schritt können wir über das Elterngeld reden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Weil die SPD so dazwischenschreit, noch ein Satz: Wenn Sie jetzt so tun, als sei die Debatte über die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten vom ersten Euro an eine ganz neue Erfindung, dann ist das doch nicht wahr, Frau Kressl. Ich kann mich sehr gut an Veranstaltungen und Verhandlungen gerade mit Ihnen erinnern, bei denen Sie etliche Argumente hatten, warum das alles nicht so gut ist, warum das unsinnig viel Geld verschlingt, weshalb man das nicht machen kann. Wir haben das immer wieder, in jeder Debatte von neuem gefordert. Da verwechseln Sie die Tatsachen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Noch eines zum TAG. Warum schaffen Sie einen Rechtsanspruch auf Betreuung, wenn Sie ihn schon einführen, erst ab dem zweiten Lebensjahr? Warum sind Sie nicht mutig genug, diesen gleich ab dem ersten Jahr zu ermöglichen?

(Ina Lenke (FDP): Ja! Dann muss es konsequent sein!)

Wenn nämlich das Elterngeld auf acht Monate gekürzt werden soll, dann stehen die Eltern bereits im ersten Jahr vor der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und nicht erst ab dem zweiten Jahr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP)

Sie lassen die Frauen im Stich, indem Sie das Elterngeld nach dem ersten Jahr abschaffen, aber den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung erst nach dem zweiten Jahr ermöglichen. In der Zeit, die dazwischen liegt, überlassen Sie die Frauen sich selbst.

(Nicolette Kressl (SPD): Es ist das zweite Lebensjahr! - Dr. Uwe Küster (SPD): Das Lesen der Dokumente erleichtert die Rede!)

- Ich lese diese Dokumente und dort lese ich vor allem eines nicht, nämlich das, was die Union uns im Wahlkampf versprochen hat. Wir haben über die Erhöhung des Kindergrundfreibetrages und des Kindergeldes gesprochen. Wir haben gehört, dass es sehr wichtig ist, dass es einen Kinderbonus in der Rente gibt. Von alldem ist inzwischen nichts mehr übrig geblieben. Die gesamten CDU/CSU-Konzepte sind in diesem Koalitionsvertrag nicht vorhanden. Ich frage mich, wohin sie gekommen sind oder ob Sie inzwischen einsichtig geworden sind und gemerkt haben, dass genau diese Maßnahmen Unsummen verschlingen würden, ohne dass dem tatsächlichen Bedarf der Eltern, Kinder und Familien entsprochen würde.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ein Letztes. Frau von der Leyen, ich finde es richtig, dass Sie den Teilbereich der vernachlässigten Kinder ansprechen und entsprechende Modelle haben. Das finde ich sehr wichtig und darin werden Sie auch unsere Unterstützung haben. Aber Sie dürfen nicht so tun, als würde irgendeinem Kind allein dadurch etwas Gutes getan, dass man Selbstverständlichkeiten in der Gesellschaft propagiert. Vor allem geschieht den Kindern nichts Gutes, wenn nur irgendwelche Projekte initiiert werden, gleichzeitig aber, auch von den Ländern, wichtige Jugendhilfemaßnahmen gekürzt werden, im Bundesrat darüber gesprochen wird, Kürzungen im KJHG durchzusetzen, und die Jugendhilfe schon heute nicht mehr gewährleistet werden kann, weil die finanzielle Basis fehlt. Es ist eine Lebenslüge, wenn man behauptet, man könne die Jugendhilfe kürzen und gleichzeitig den Präventionsgedanken stärken. Jugendhilfe ist Prävention. Ich bitte Sie, Ihr Augenmerk darauf zu richten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Die Mehrgenerationenhäuser sind ein wichtiges Ziel. Auch ich halte sie als Grundidee für richtig; dagegen kann man nicht viel einwenden. Auch das ist ein Initialmodell. Was aber passiert, wenn die Modellfinanzierung ausläuft?

   Wir haben eine ganze Reihe von Modellen - das ist mein letztes Argument, Frau Präsidentin - und Praxisbeispielen bei den Eltern-Kind-Zentren durchgeführt. Diese Zentren existieren und bekommen einen Preis nach dem anderen. Jetzt aber starten Sie ein neues Projekt, anstatt darüber nachzudenken, wie man gut laufende Projekte auf eine solide finanzielle Basis stellen kann.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Liebe Ministerin, das Programm, das hier vorgelegt worden ist, ist kleinteilig, es ist nicht konsistent, es ist Stückwerk. Es geht in vielen Punkten an dem vorbei, was Eltern jetzt brauchen. In den Bereichen der Jugend-, Familien- und Altenpolitik wird die Umsetzung sehr schwer werden, weil Sie keine Konzepte vorlegen. Ein schlüssiges Gesamtkonzept ist nirgendwo erkennbar. Dazu kommt, dass die Generationenverhältnisse nicht zukunftstauglich austariert sind.

   Trotz allem können Sie in diesem Land sehr viel erreichen. Wir brauchen nicht nur eine Politik der schönen Worte; wir brauchen eine Politik der Taten. Das ist meine Aufforderung an Sie.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:

Jetzt hat das Wort der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Johannes Singhammer (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zuallererst, Frau Ministerin, gratuliere ich Ihnen zu Ihrem neuen Amt. Ich wünsche Ihnen Erfolg und Gottes Segen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Deutschland braucht ein weites Herz für seine Kinder und für seine Familien und eine große Koalition für mehr Kinderfreundlichkeit und mehr Familienfreundlichkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Als Schicksalszahlen der Nation gelten allgemein die hohen Arbeitslosenzahlen und die Zahlen über die hohe Verschuldung des Staates. Aber wenn sich die Geburtenzahlen seit vielen Jahren im freien Fall befinden und sich das Idealbild einer Bevölkerungspyramide in einen bedrohlichen Pilz mit einem dünnen Stiel von nachwachsenden Generationen verengt, dann ist diese Perspektive für unser Land mindestens ebenso schicksalhaft.

(Ina Lenke (FDP): 15 Jahre zu spät dran!)

Deshalb ist nicht nur die Zahl von Existenzgründungen in der Wirtschaft, sondern auch die Zahl der Familiengründungen und der Kinder ein Indikator für Zuversicht und Vertrauen. Dabei wollen wir die Familienpolitik nicht auf eine Zahlenideologie von Geburtenziffern verengen. Für uns ist wichtig, dass sich immer mehr Kinder auf der Sonnenseite des Lebens und immer weniger auf der Schattenseite befinden.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Um das zu erreichen, werden wir ein Bündel von Maßnahmen verwirklichen. Zum Beispiel wollen wir mehr finanzielle Gerechtigkeit für Familien und Kinder durch ein Elterngeld mit Wahlrecht der Eltern, Frau Deligöz, erreichen. Das Wahlrecht bezieht sich darauf, ob sie den gleichen Gesamtbetrag für ein Jahr oder für zwei Jahre erhalten wollen.

(Ina Lenke (FDP): Das ist doch dann weniger!)

- Das ist dann logischerweise auf zwei Jahre verteilt.

(Ina Lenke (FDP): Na, also! Dann reicht es doch nicht!)

   Mit einem Kinderzuschlag werden wir erreichen, dass Eltern ohne Bezug von Arbeitslosengeld II für ihre Kinder besser sorgen können. Mit der Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen sollen Mütter und Väter künftig bis zu einem Gesamtvolumen von jährlich 5 Milliarden Euro gefördert werden. Von diesen 5 Milliarden Euro werden rund 2 Milliarden Euro auf die Kinderbetreuungskosten konzentriert. Beginnen soll das bereits im kommenden Jahr, 2006.

(Ina Lenke (FDP): Wie viel ist das dann pro Person?)

Künftig werden Mütter und Väter gefördert, wenn sie als Privathaushalt Arbeitgeber sind - natürlich unter der selbstverständlichen Voraussetzung, dass es sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse sind.

(Ina Lenke (FDP): Ja, wie viel denn?)

   Damit erreichen wir mehreres. Wir schaffen damit einen Treibsatz für mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, für mehr Jobs; die Schwarzarbeit wird eingedämmt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Schwung gebracht.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner)

Das ist kein Dienstmädchenprivileg; vielmehr ist das ein Gerechtigkeitsprivileg für die Familien.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir wissen: Finanzieller Ausgleich allein leitet in Deutschland noch keinen Trend zu mehr Geburten ein. Notwendig ist ein Klimawechsel in vielen Lebensbereichen: Dazu gehören familienfreundliche Arbeitszeiten, sodass Kinder und Karriere zunehmend besser vereinbart werden können. Dazu gehören aber auch Respekt und gesellschaftliche Anerkennung für alle Lebensentwürfe, insbesondere für Lebensentwürfe derjenigen Frauen, die sich trotz Ausbildung für ihre Familie entschieden haben. Auch das verdient Respekt und Anerkennung.

   Kinder und Jugendliche müssen in einem geschützten Umfeld heranwachsen können. Die Union hat im Koalitionsvertrag darauf gedrängt, dass nicht die Vertreiber und Verkäufer von so genannten Killerspielen in geschütztem Umfeld agieren können, während Kinder und Jugendliche ungeschützt mit Gewalt konfrontiert werden. Wir wollen nicht, dass virtuelles Töten und Verletzen von Mitspielern und der Einsatz von Schusswaffen zur Selbstverständlichkeit, andererseits Rücksicht und Hilfsbereitschaft zur Ausnahmeerscheinung werden.

   Wir wollen mehr Chancen für Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt; denn es gibt nichts Schlimmeres für junge Menschen, als wenn ihnen bei ihrem ersten Schritt in die Erwerbstätigkeit die Tür buchstäblich vor der Nase zugeschlagen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden deshalb Schulverweigerer und Jugendliche ohne Schulabschluss besonders fördern, aber auch fordern.

   Wir wollen das Leben in jeder Phase schützen. Deshalb haben wir den unerträglichen Zustand von Spätabtreibungen im Koalitionsvertrag aufgegriffen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber im Jahr 1992 in seinem Urteil eine Beobachtungs- und eventuelle Nachbesserungspflicht auferlegt. Wir nehmen diesen Auftrag und diese Verpflichtung des höchsten deutschen Gerichtes ernst.

   Wir fühlen uns verantwortlich für alle Menschen, die bei uns leben. Wir wollen nicht, dass Frauen ohne deutsche Staatsangehörigkeit herabgewürdigt oder instrumentalisiert werden. Wenn Zehntausende junger türkischer Frauen mitten unter uns leben, die als Folge von Zwangsheirat oder arrangierten Ehen das Wort Gleichberechtigung nicht sprechen, nicht schreiben oder nicht lesen können, dann hat das Wegschauen nichts mit Toleranz zu tun. Menschenwürde gilt für alle in unserem Land.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir werden deshalb dafür sorgen - so steht es im Koalitionsvertrag geschrieben -, dass Zwangsverheiratungen als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch aufgenommen werden.

   Deutschland ist seit einigen Jahren auf einem abschüssigen Weg und in der Gefahr, ein kinderentwöhntes Land zu werden. Wir wollen gemeinsam Kinder wieder mehr in den Mittelpunkt rücken. Mein Rat an uns Erwachsene ist: Die Welt gelegentlich aus der Augenhöhe eines Kindes, also aus 80 oder 90 Zentimeter Höhe, zu betrachten muss nicht zu einer Verzwergung der Politik führen, sondern kann zu einer neuen Humanität führen, die wir brauchen.

   Deutschland braucht einen neuen Schwung an Menschlichkeit, Mut und Zuversicht. Damit wollen wir neu beginnen.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Hier möchte ich auch darauf hinweisen, dass die Neuregelung, mit 45 Versicherungsjahren in Rente gehen zu können, von Eltern, insbesondere von Müttern, kaum in Anspruch genommen werden kann.

(Ina Lenke (FDP): Genauso ist es!)

Denn bei ihnen werden die Kindererziehungszeiten nur mit je drei Jahren angerechnet. Ich glaube, Frau Ministerin, dass Sie hier etwas ganz wesentliches Familienpolitisches übersehen haben.

(Beifall bei der FDP)

   Alt werden heißt heutzutage, nicht mehr am Rand stehen zu müssen, sondern den dritten Lebensabschnitt aktiv gestalten zu wollen, um möglichst lange ein selbst bestimmtes Leben führen zu können. Hier geht es um ureigenste Freiheitsrechte gerade auch alternder Menschen, die Entmündigung und Abgeschobenwerden in Altenheime und Pflegeheime fürchten.

   Wir brauchen deshalb verstärkt ein bürgerschaftliches Engagement, an dem sich gerade auch Senioren gesellschaftlich beteiligen. Die Absicht der Bundesregierung, mit einer Weiterentwicklung des Stiftungsrechts und steuerlicher Anreize Möglichkeiten der Finanzierung ehrenamtlicher Aufgaben zu schaffen, begrüßen wir.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich möchte in dieser gesellschaftspolitischen Debatte aber auch darauf hinweisen, dass die Integrationspolitik jetzt offenbar Chefsache ist; so hoffe ich zumindest. Die Anbindung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung an das Kanzleramt möchte ich so deuten.

   Die FDP hat sich lange dazu bekannt, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Für uns ist die Integrationspolitik traditionell von hoher Bedeutung. Im sechsten Ausländerbericht stellte die Beauftragte der Bundesregierung fest, dass die FDP-Fraktion schon 2004 ein integrationspolitisches Gesamtkonzept vorlegte, das über die Enge der integrationspolitischen Debatte im Zusammenhang mit dem Zuwanderungsgesetzprozess hinauswies.

   Fast 14 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Jede fünfte Ehe ist binational; jedes vierte Neugeborene hat mindestens einen ausländischen Elternteil. Auf keinen Fall lassen sich Integrationsdefizite nur mit dem Polizeirecht oder dem Strafrecht lösen.

(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen in Deutschland keine Parallelgesellschaften und müssen uns deshalb mit dem besonderen Problem auseinander setzen, wie wir eine nachholende Integration für bereits in Deutschland lebende Migranten gestalten.

   Im Koalitionsvertrag - damit komme ich zum Schluss - haben sich Union und SPD zur Migrations- und Integrationspolitik manches vorgenommen, was dringend notwendig ist. Wenn sie Vorhaben wie das frühe Deutschlernen von Kindern mit Migrationshintergrund, die Stärkung des interkulturellen und interreligiösen Dialogs und die Förderung der Gleichstellung von Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund in gute Gesetze und Programme gießen, wird die FDP gerne an ihrer Seite stehen.

(Beifall bei der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

Christel Humme (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Ich erlebe zurzeit, dass in jeder Bürgermeisterrunde, in jeder Bürgermeisterrede, auf jedem Arbeitgeberempfang und auf jedem Neujahrsempfang die Forderung nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den Vordergrund gestellt wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage Ihnen: Damit ist der ehemaligen Ministerin Renate Schmidt etwas gelungen, was niemand erwartet hat, nämlich dass die Familienpolitik inzwischen im Mittelpunkt der Politik, ja im Mittelpunkt unserer Gesellschaft gelandet ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sieben Jahre hartnäckige Arbeit für Familien haben sich in der Tat gelohnt. Ich glaube, dass die große Koalition an diesen guten Vorarbeiten anknüpfen kann und dass wir diese Politik gemeinsam fortsetzen können.

   Wenn ich auf die siebenjährige Arbeit im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurückblicke, dann stelle ich fest, dass wir gerade in diesem Ausschuss sehr häufig gemeinsame Ziele formuliert haben. Wir alle wollten die Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern verbessern. Wir waren davon überzeugt, dass Frauen bessere Chancen im Erwerbsleben brauchen. Niemand von uns wollte leugnen, dass wir für Mütter und Väter gute Rahmenbedingungen schaffen müssen, damit Eltern Beruf und Familie miteinander vereinbaren können. Aber zu einem gemeinsamen Handeln kam es nur sehr selten. - Frau Lenke, Sie schütteln den Kopf. Aber so ist es.

   Bedauerlicherweise muss ich feststellen, dass wir uns vom Ritual der ideologischen Grabenkämpfe nicht ganz lösen konnten. Allerdings gab es ein Beispiel dafür, dass wir dies geschafft haben. Daran möchte ich gern erinnern, weil es deutlich macht, dass in Zukunft vieles geht. Ich erinnere an die Einführung der so genannten Unisextarife bei der Riester-Rente. Alle Vertreter der Fraktionen, die der damaligen rot-grünen Koalition und die der damaligen Opposition aus CDU/CSU und FDP, haben gleiche Tarife für Frauen und Männer gefordert.

(Ina Lenke (FDP): Ja!)

- Sie haben sich damit zwar in Ihrer Partei nicht durchgesetzt, Frau Lenke, aber in unserem Ausschuss schon.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Damals ist es uns in eindrucksvoller Weise gelungen, die ideologischen Grabenkämpfe zu überwinden, und ich glaube, dass die Koalitionsverhandlungen gezeigt haben, dass wir, Union und SPD, die Chance haben, dies wieder zu schaffen und gemeinsame Lösungswege in den Vordergrund zu stellen. Der Koalitionsvertrag ist ein Erfolg, ein Erfolg für Familien, Senioren, Frauen, Kinder und Jugendliche. Dieser Vertrag kann sich meiner Ansicht nach durchaus sehen lassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Frau Ministerin, für die konstruktive Zusammenarbeit bei den Verhandlungen recht herzlich danken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Mit diesem Koalitionsvertrag bleiben die Familien im Mittelpunkt unserer Politik. Es bleibt auch bei dem Ziel, Deutschland zum kinderfreundlichsten Land Europas zu machen. Es bleibt auch dabei, dass wir uns um das Wichtigste zuerst kümmern, Frau Deligöz, nämlich um den Ausbau der Kinderbetreuung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Johannes Singhammer (CDU/CSU))

Lesen Sie das bitte noch einmal nach! Das steht nach wie vor an erster Stelle.

   Wenn ich die Rede der Bundeskanzlerin noch einmal Revue passieren lasse, freue ich mich über einen Satz ganz besonders. Sie hat gesagt: Die soziale Herkunft eines Kindes darf nicht den Bildungsabschluss und damit die Lebenschancen bestimmen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Wenn wir dieses Ziel verfolgen, muss der Ausbau der Infrastruktur der wichtigste familienpolitische Schwerpunkt bleiben.

   Der Ausbau der Betreuungsplätze für unter Dreijährige - das gilt für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr, Frau Deligöz, also ab dem ersten Geburtstag - ist gut, und zwar gut für die Bildungschancen und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Er ist aber auch gut für die Bekämpfung von Familien- und Kinderarmut. Dabei haben wir eine Gruppe ganz besonders im Blick, nämlich die der Alleinerziehenden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie ein besonderes Armutsrisiko tragen. Gerade für diese Gruppe möchten wir daher das Erziehungsgeld in ein Elterngeld umwandeln.

(Beifall der Abg. Renate Gradistanac (SPD))

Das bedeutet, dass wir dann zwei Komponenten haben: auf der einen Seite die Betreuung und auf der anderen Seite das Elterngeld. Dieses Maßnahmenbündel wird dazu beitragen, Familien- und Kinderarmut zu bekämpfen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU - Ina Lenke (FDP): Wer bezahlt das?)

   Alle Familien werden von dem Elterngeld profitieren, und zwar schon dadurch, dass wir den Vätern die Chance geben, sich an der Erziehung zu beteiligen und zu beobachten, wie ihre Kinder aufwachsen. Ich habe mich gestern und auch heute Morgen über die Presse sehr gewundert. Das Argument, das immer wieder in den Vordergrund gestellt wurde, war, dass diese Regelung verfassungsfeindlich sei. Darüber wundere ich mich ganz gewaltig. Seit wann ist in der Verfassung eine Rollenverteilung festgeschrieben? So habe ich die Verfassung noch nie ausgelegt.

(Beifall bei der SPD)

   Ich habe mich darüber gefreut, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel gestern gesagt hat, dass wir einen sanften Druck auf die Männer ausüben müssen, sich stärker an der Familienarbeit zu beteiligen. Das tun wir mit der Einführung des Elterngelds. Vielleicht werden wir dann die Erfolge, die in Schweden zu verzeichnen sind, auch hier verzeichnen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist der Schlüssel zu einer zukunftsweisenden Frauen- und Gleichstellungspolitik. In der Frauen- und Gleichstellungspolitik haben wir in den letzten Jahren viel geschafft. Wir haben aber nicht alles erreicht.

Hier sind die Erwartungen der Frauen sehr hoch.

   Gerade im Bereich des Arbeitsmarktes ist aus frauenpolitischer Sicht noch einiges zu erledigen. Nach wie vor haben wir keinen gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit. Hier sind wir uns alle einig - das ist ganz wichtig -, dass dringender Handlungsbedarf besteht.

(Beifall der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Die Koalition wird die Hartz-Gesetze auch in puncto Geschlechtergerechtigkeit überprüfen müssen. Das hatten wir uns schon vorher vorgenommen. Ich denke, das werden wir umsetzen.

   Wie wichtig dieses Thema ist, möchte ich an einem Beispiel deutlich machen: Frauen, die ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld II verlieren, weil ihr Partner, mit dem sie nicht verheiratet sind, zu viel verdient, verlieren gleichzeitig ihren Kranken- und Pflegeversicherungsschutz. Das darf nicht sein. Das müssen und das werden wir schnell ändern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Sie wissen, es gibt eine freiwillige Vereinbarung zwischen der letzten Bundesregierung und den Spitzenverbänden der privaten Wirtschaft zur Gleichstellung am Arbeitsplatz. Diese Vereinbarung ist ja, denke ich, mit der großen Koalition nicht außer Kraft gesetzt. Wir sollten uns deren zweite Bilanz, die sicherlich kommen wird, kritisch ansehen. Die SPD war immer der Auffassung, wenn Familienfreundlichkeit und Chancengleichheit nicht freiwillig zum Thema Nummer eins in den Betrieben werden, müssen wir uns über entsprechende gesetzliche Regelungen Gedanken machen. Auch das sind wir den Frauen schuldig.

   Ich hoffe, Frau Ministerin, dass Sie genauso wie Ihre Vorgängerin die Bündnisse für Familie weiterführen, damit an dieser Stelle endlich Bewegung in den Laden kommt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

   Das Antidiskriminierungsgesetz wäre für die Gleichstellung am Arbeitsmarkt ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung gewesen und hätte den Frauen geholfen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wieso „wäre“? Das ist ein wichtiger Schritt!)

- Ja, Frau Schewe-Gerigk, so ist es. - Ich bin froh, dass die Koalitionspartner - hören Sie gut zu! - im Koalitionsvertrag unterstrichen haben, dass die europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien umgesetzt werden müssen.

(Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eins zu eins!)

In der letzten Legislaturperiode haben wir heftig über das Antidiskriminierungsgesetz gestritten. Aber ich denke, dass wir es jetzt schaffen werden, dieses Gesetz im Interesse der Frauen und im Interesse einer diskriminierungsfreien Gesellschaft endlich in die Tat umzusetzen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Ich freue mich auf die neue, spannende Herausforderung, in einer großen Koalition die bestehenden gesellschaftspolitischen Aufgaben zu lösen, und zwar jenseits - ich hoffe, dass das gelingt - aller ideologischen Gräben. Das sage ich auch in Richtung Opposition.

   Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Diana Golze (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In ihrer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin ausgeführt, dass sich die neue Bundesregierung viele Taten vorgenommen hat. Ich hoffe, dass diesen Worten auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpolitik wirklich Taten im Sinne der jungen Menschen unseres Landes folgen.

(Johannes Singhammer (CDU/CSU): Das werden sie!)

   Unter anderem sollen junge Menschen ermutigt werden, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden. Dafür wurde im Koalitionsvertrag die Schaffung von 230 000 zusätzlichen Betreuungsplätzen für Kinder unter 3 Jahren bis zum Jahr 2010 festgeschrieben. Der zwölfte Kinder- und Jugendbericht der rot-grünen Bundesregierung vom Herbst 2005 geht jedoch weiter und empfiehlt einen Rechtsanspruch bis 2010 für alle Kinder von Geburt an. Diese Empfehlung sollte die neue Bundesregierung in die Tat umsetzen.

(Beifall bei der LINKEN)

   Die Länder und Kommunen müssen damit verbunden aber auch die Möglichkeit bekommen, diesen Rechtsanspruch zu erfüllen. Vermutungen, die Kommunen könnten dies durch Einsparungen im Zusammenhang mit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gewährleisten, sind mehr als vage und derzeit nicht belegbar.

   Zum Thema Rechtsansprüche von Kindern sollte bei der Bundesregierung jedoch noch einiges mehr auf der Tagesordnung stehen. Trotz Protesten hat die Bundesregierung die UN-Kinderrechtskonvention bislang nur unter ausländerrechtlichen Vorbehalten unterschrieben, nach denen das deutsche Ausländerrecht Vorrang vor den Verpflichtungen der Konvention hat.

Dieser Zustand muss schnellstens überwunden werden.

(Beifall bei der LINKEN)

   Eine wichtige Frage ist weder im Koalitionsvertrag noch in der Regierungserklärung ausreichend beantwortet worden: Wie will die Bundesregierung gegen die wachsende Kinderarmut vorgehen? Kinderarmut hat in der Bundesrepublik eine historisch neue Dimension erreicht. Nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat die Einführung von Hartz IV zum Jahresbeginn die Zahl der von Armut betroffenen Kinder auf ein Rekordhoch von 1,7 Millionen steigen lassen. Insgesamt leben 14,2 Prozent der Kinder in Deutschland in Armut; das ist jedes siebte Kind, in Ostdeutschland sogar jedes vierte.

   Kinderarmut nimmt den jüngsten Mitgliedern unserer Gesellschaft die Zukunftschancen; denn die Weichen für die Entwicklung werden in den ersten Lebensjahren gestellt. Ich zitiere aus der Regierungserklärung: „Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft entscheidet sich daran, wie wir mit ihnen umgehen.“ Gemeint waren damit auch die Kinder.

   Werte Kolleginnen und Kollegen, das Verständnis der großen Koalition von Jugendlichen in unserem Land ist äußerst widersprüchlich. Auf der einen Seite wird gerade von Schulabgängern erwartet, dass sie sich auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz begeben und dabei flexibel sind. Ebenso sollen sie dem Arbeitsmarkt nach einem erfolgreichen Abschluss, so sie denn überhaupt in den Genuss eines solchen kommen, uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Andererseits sollen sie bis zum Alter von 25 Jahren am elterlichen Rockzipfel hängen, um den Staat nicht zu belasten. Von in der Verfassung festgeschriebenen Bürgerrechten kann hier wohl keine Rede sein, wenn wir sie den jungen Menschen nur dann gewähren, wenn es uns passt.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir müssen ihnen doch wenigstens die Chance auf ein selbstbestimmtes und erfolgreiches Leben bieten. Der Pakt für Ausbildung bietet diese Chance nicht.

   Die Kinder und Jugendlichen sind die Zukunft unseres Landes. Wir sollten es uns heute nicht mit ihnen verscherzen. Wir selbst werden im Alter die Folgen dessen zu tragen haben und uns den Fragen der nachkommenden Generation stellen müssen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und wünsche Ihnen persönlich und für Ihre Arbeit hier im Parlament alles Gute.

(Beifall)

   Dies war die letzte Rednerin in dieser Debatte.

   Wir kommen nun zu den Themenbereichen Finanzen und Steuern.

   Außerdem rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b sowie die Zusatzpunkte 3 und 4 auf:

5. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beschränkung der Verlustverrechnung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen

- Drucksache 16/107 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Eigenheimzulage

- Drucksache 16/108 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

ZP 3 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm

- Drucksache 16/105 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oskar Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost und der Fraktion der LINKEN

Hedgefondszulassung zurücknehmen

- Drucksache 16/113 -

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

   Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dies ist meine erste Rede hier im Bundestag, meine Jungfernrede, die ich nicht mehr von der Bundesratsbank, sondern von der Regierungsbank kommend halte.

(Zuruf von der CDU/CSU)

- Es gibt ja einen alten Aphorismus, der lautet: Hochverrat ist eine Frage des Datums.

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Ich möchte mich sehr herzlich für die vielen Glückwünsche bedanken, die ich bekommen habe. Ich gebe zu: Es ist auch das eine oder andere Kondolenzschreiben dabei gewesen,

(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

das ich gebührend beantworten werde. In wenigen Tagen mache ich eine Erfahrung, die auch viele Privatleute in Deutschland machen: die Erkenntnis, dass das schöne Gefühl, Geld zu haben, weitaus weniger intensiv ist als das klamme Gefühl, kein Geld zu haben.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Um ernsthaft zu werden, meine Damen und Herren, sage ich: Wir haben unabweisbar erhebliche Haushaltsprobleme. An den Beginn meiner Ausführungen stelle ich daher sehr gezielt die Feststellung, dass diese Haushaltsprobleme nicht ausschließlich aus fiskalischer Perspektive und nicht allein über fiskalische Anstrengungen zu lösen sind.

Ich halte das für aussichtslos. Diese unabweisbaren Haushaltsprobleme sind nur in einem Gesamtzusammenhang zu lösen. Sie werfen uns sehr direkt zurück auf Fragen, die alle Seiten dieses Hauses - in den unterschiedlichsten Ausschüssen, in den unterschiedlichsten Ministerien - beschäftigen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr wahr!)

Diese Fragen lauten: Wird die Wachstumsdynamik in Deutschland in den nächsten Jahren hinreichend sein, um diese Probleme zu lösen? Wie können wir unsere Sozialversicherungssysteme robuster machen

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr wahr!)

gegen konjunkturelle Ausschläge, aber auch gegenüber den Folgen der Demographie, wenn - was eine Tatsache ist - das Normalarbeitsverhältnis als Bezugsgröße für die Erhebung der Sozialversicherungsbeiträge zunehmend erodiert? Wir wissen, dass jede Entspannung auf dem Arbeitsmarkt uns näher an eine solide Haushaltsführung heranführt. Wir haben es über die Folgen der Demographie hinaus, die ich bisher angesprochen habe, auch mit weiteren Folgen dieser Entwicklung zu tun.

   Ich stelle das an den Anfang, um die Notwendigkeit aufzuzeigen, dass wir diese Haushalts- und Fiskalpolitik mit den anderen politischen Aufgabenfeldern mehr denn je vernetzen. Es kann keine Arbeitsteilung geben, dass im Hohen Hause die Haushalts- und Finanzpolitiker auf der einen Seite und die anderen Politiker auf der anderen Seite stehen, dass der Finanzminister im Kabinett für die kruden, für die schlechten Nachrichten zuständig ist und die anderen sich populär, auch mit Blick auf ihr Ausgabeverhalten, aufstellen können.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Solide Staatsfinanzen sind, das weiß ich, nicht alles und ich will sie auch nicht überbewerten. Aber ohne solide Staatsfinanzen werden wir viele der uns gemeinsam beschäftigenden Aufgaben definitiv nicht erfüllen, geschweige finanzieren können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ich glaube - und ich mache gar keinen Hehl daraus -, dass eine große Koalition die beste Voraussetzung dafür ist, einen solchen Gesamtzusammenhang herzustellen und diese Aufgaben zu lösen. Deshalb ist es auch nahe liegend, dass der Koalitionsvertrag keiner rein fiskalischen Logik folgt. Ich selber als einer in der Verhandlungskommission habe versucht, dem zu entsprechen. Wir haben gesagt: „Ja, wir brauchen eine ordentliche Haushaltsführung“, aber auf der anderen Seite hat diese große Koalition auch Gestaltungsansprüche formuliert und wir wollen diesen Gestaltungsansprüchen auch entsprechen, zum Beispiel mit Blick auf die Förderung der gewerblichen Wirtschaft, insbesondere des Mittelstandes; mit Blick auf die Familienförderung, die eben eine große Rolle gespielt hat; mit Blick auf Forschung und Entwicklung - das berühmte 3-Prozent-Ziel, das in vier, fünf Jahren erreicht sein soll; was übrigens bedeutet, dass wir 6 Milliarden Euro mehr in die Hand nehmen müssen -, um auf diesem Gebiet international wieder die Nase vorn zu haben; mit Blick auf die Verkehrsinfrastruktur und das wichtige Thema, wie wir private Haushalte zunehmend auch als Arbeitgeber mobilisieren können, und zwar mit Blick auf sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.

   Glaubwürdige Politikmuss sich den Realitäten stellen; das weiß ich. Diese Realitäten heißen zum Beispiel: Rund 20 Prozent des Bundeshaushaltes, also insgesamt etwa 50 Milliarden Euro, sind nicht nachhaltig durch Einnahmen gedeckt. Um es auf den Punkt zu bringen - wahrscheinlich bei manchen Kritik hervorrufend -: Dieser Bundeshaushalt hat sehr viel weniger ein Ausgabenproblem und sehr viel mehr ein Einnahmeproblem!

(Beifall bei der SPD)

Mit fast 80 Milliarden Euro machen die Leistungen des Bundeshaushaltes an die gesetzliche Rentenversicherung annähernd ein Drittel des gesamten Bundeshaushaltes aus. Insbesondere mit Blick auf Herrn Solms, der gleich nach mir reden wird, möchte ich darauf hinweisen, dass alleine fünf große Ausgabenblöcke 72 Prozent dieses Bundeshaushaltes festlegen: der Zuschuss zur Rentenversicherung, die Arbeitsmarktausgaben, die Zinsen, die Personalausgaben und die Zuwendungen. Die restlichen 28 Prozent betreffen teilweise wichtige Ausgabenfelder, nach der Rechtschreibreform zu bezeichnen mit den drei Fs: nämlich Verkehr, Verteidigung und Forschung und Entwicklung.

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Angesichts dieser Verkarstung - in Form dieser fünf Blöcke - und mit Blick auf die hoch investiven Anteile der drei Fs ist klar: Wenn jemand glaubt, er könnte aus diesem Bundeshaushalt in einer Radikaloperation 10, 15, 20, 25 Milliarden Euro auf einmal herausschneiden, dann irrt er! Das ist Voodoo-Fiskalpolitik!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Denn wenn Sie dies wollen, Herr Solms, dann müssen Sie sich jetzt hierhin stellen und sagen, ob Sie den 80-Milliarden-Euro-Zuschuss an die Rentenversicherung kürzen wollen! Sind Sie bereit, den Menschen zu sagen, dass sie, wenn Sie zum Beispiel 8 Milliarden Euro herausholen wollen, um die Mehrwertsteuererhöhung zu vermeiden, es mit Rentenkürzungen von 4 Prozent zu tun haben werden? Ich habe von Kollegin Schmidt gelernt, dass 50 Prozent der Rentner in Deutschland ihre Rente alleine aus der gesetzlichen Rentenversicherung beziehen. Sie müssten diesen Frauen und Männern die Rente also um real 4 Prozent kürzen! - Bei den Zinsen können Sie nicht sparen. Bei den Zuwendungen sparen wir. Auch beim Personal sparen wir. Das heißt, die Spielräume sind sehr gering. Wenn diese Mehrwertsteuererhöhung so des Teufels ist, dann müssten Sie, um sie zu vermeiden, mit Vorschlägen kommen, wie ich sie von Ihnen nie gehört habe; ich komme darauf zurück.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Was schauen Sie uns jetzt an?)

   Das Problem bei diesem Haushalt ist nicht allein dessen Niveau. Wir haben vielmehr ein Strukturproblem: Wir zahlen für die Vergangenheit zu viel und geben für die Zukunft zu wenig aus.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP))

Das ist die Realität. Ich könnte noch weitere Punkte aufzählen, wie zum Beispiel die Zinsquote, die zu geringe Investitionsquote und dergleichen mehr. An diesen Sachverhalten kommt niemand vorbei, weder die FDP - auch nicht Sie, Herr Solms, wenn Sie bei einer anderen Konstellation meine Funktion übernommen hätten - noch die Linkspartei. Ich habe den Eindruck, dass es einfache, gar populäre Antworten auf diese komplexen, sehr ineinander verwobenen Probleme nicht gibt.

   Die FDP tut so, als ob sie durch Steuersenkungen die Regelgrenze des Art. 115 Grundgesetz einhalten könnte. Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass sie vornehmlich über Haushaltskürzungen den Konsolidierungsbeitrag erbringen will. Wie Sie das machen wollen, weiß ich nicht. Diese Zauberformel ist mir nicht geläufig. Das ist die von mir schon angesprochene Voodoo-Fiskalpolitik. Wo sollen denn die 35 Milliarden Euro herkommen, Herr Solms? Wenn Sie weitere Steuersenkungen wollen und gleichzeitig die Regelgrenze des Art. 115 Grundgesetz einhalten wollen, dann müssen Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit belegen, wie diese Defizitlücke über Haushaltskürzungen gedeckt werden soll.

(Beifall bei der SPD)

Außerdem müssen Sie belegen, mit welchen Verwerfungen und Kollateralschäden das verbunden ist. Übrigens ist das alles kontraproduktiv für Wachstum und Beschäftigung. Diese Antwort bleibt die FDP schuldig.

   Dass Sie persönlich manchmal mit einer großen Chuzpe antreten und sagen, das, was diese große Koalition, diese Bundesregierung im nächsten Jahr mache, sei verfassungswidrig, lasse ich Ihnen nicht durchgehen. Denn Art. 115 Grundgesetz lässt, wie Sie wissen müssen, eine Ausnahme zu. Diese Bundesregierung nimmt diese Ausnahme in Anspruch. Das ist nicht verfassungswidrig, sondern durchaus verfassungskonform.

   Das wirkt deshalb als eine so große Chuzpe auf mich, weil ich habe nachzählen lassen, wie oft die FDP an einem solchen Verfahren beteiligt war. Sie war es fünfmal.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die FDP ist in den Jahren 1994, 1991, 1984, 1979 und 1976 an einem solchen Verfahren beteiligt gewesen, wie es die große Koalition diesmal macht, nämlich im Haushaltsaufstellungsverfahren die Regelgrenze nicht einzuhalten, aber dies mit der Erlaubnis, der Ausnahmeregelung, die Art. 115 Grundgesetz enthält. Weshalb die Kritik? Sie waren fünfmal dabei.

(Zuruf des Abg. Frank Schäffler (FDP))

- Ja, ja, die FDP lebt vom Kurzzeitgedächtnis der Bürgerinnen und Bürger. Das ist richtig.

(Zuruf von der FDP)

- Ich könnte Ihnen das Verfahren genau beschreiben. Das hätte aber einen zu starken Seminarcharakter. Ersparen Sie mir das bitte. Es ging um eine Rücklagenbildung.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): NRW, Herr Steinbrück!)

   Sie von der FDP sind auch an anderer Stelle Gefangener Ihrer Terminologie, nämlich dann, wenn Sie die Abschaffung jeder Steuervergünstigung automatisch als eine Steuererhöhung definieren. Dann kommen Sie dazu, solche Beiträge zu halten, wie Herr Brüderle das heute getan hat. Wenn Sie mit mir darin einig wären, dass wir viele Steuervergünstigungen haben, die eigentlich obsolet sind, und dass deren Abschaffung nicht automatisch Steuererhöhungen sind, sondern Einsparungen, die man erbringen kann, dann kämen Sie zu ganz anderen Zahlen.

   Ich will Sie daran erinnern: In einem Jahr wie 2008, in dem sich die volle Wirksamkeit vieler Maßnahmen, die sich diese Regierung vorgenommen hat, entfalten wird, haben wir es zu tun mit Ausgabenkürzungen von ungefähr 10 Milliarden Euro, mit der Abschaffung von Steuervergünstigungen in der Dimension von 6,3 Milliarden Euro, mit Steuermehreinnahmen über höhere Versicherungsteuer und Mehrwertsteuer von 9,8 Milliarden Euro und bei den Einmaleffekten und Privatisierungen etwa mit 9 Milliarden Euro. Das sind die Proportionen. Diese stehen im Widerspruch zu dem, was Herr Brüderle heute hier mit großer Emphase vorgetragen hat.

   Niemand zahlt gerne Steuern. Aber die Steuerquote in Deutschland ist - das betone ich - auch nicht das Hauptproblem. Ich stimme sogar Herrn Lafontaine begrenzt zu,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Na, na!)

dass selbst die addierte Steuer- und Abgabenquote im internationalen Vergleich nicht das Hauptproblem ist. Was er darüber zu sagen versäumt, ist, dass wir in Deutschland zu hohe Lohnzusatzkosten haben, die sich aus gesetzlichen und tariflichen Regelungen zusammensetzen. Was er in seiner Rede heute Morgen nicht beschrieben hat, ist, dass die Lohnzusatzkosten inzwischen 100 Prozent der Lohn- und Gehaltssumme ausmachen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Er meint, der Bundestag solle die Löhne festlegen!)

- Er verschweigt, dass wir in Deutschland im Bereich des Arbeitsmarktes nach wie vor ein riesengroßes Problem haben. Ich möchte nicht polemisch werden, aber es ist bildlich so zu beschreiben: Ein Malergeselle hat zu Hause einen Wasserrohrbruch und lässt diesen von einem Installateurgesellen reparieren. Der Malergeselle muss fünf Stunden arbeiten, um eine Arbeitsstunde des Installateurgesellen bezahlen zu können. Das beschreibt das Hauptproblem auf dem Arbeitsmarkt.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Carl-Ludwig Thiele (FDP))

Was Sie von der Linkspartei dazu darstellen, hilft uns definitiv nicht weiter.

   Abgesehen davon sind an dieser Stelle auch die leichten Hinweise erlaubt, dass die Steuersysteme in Europa inzwischen miteinander konkurrieren und dass wir mit unserem Steuersystem dafür sorgen müssen, dass es bei der hohen Mobilität des Kapitals nicht zu Abwanderungen kommt.

   Ich will auf das Thema zurückkommen, das in der Debatte heute Morgen, die Herr Brüderle mit entfacht hat, schon eine Rolle spielte, nämlich auf die Mehrwertsteuer. Ja - wir müssen uns doch nicht wechselseitig naiver machen, als wir sind -, die Erhöhung der Mehrwertsteuer hat einen kontraproduktiven Effekt für die Wirtschaft. Jeder, der das leugnet, macht sich etwas vor.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

- Es ist so. - Die Frage ist nur, mit welchen anderen Verwerfungen und anderen Nachteilen für die Konjunktur und die solide Haushaltsführung eine alternative Strategie verbunden wäre. Darauf haben Sie keine Antwort.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): Das ist Ihnen erst nach der Wahl eingefallen? Warum haben Sie das nicht vor der Wahl gesagt? Sie sind hier doch der Durchblicker!)

- Wissen Sie: Gelegentlich hat die Politik auch einen Erkenntnisfortschritt zu verzeichnen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Lachen bei der FDP - Hans-Michael Goldmann (FDP): Sie wären von Ihren Leuten geprügelt worden!)

- Ach, entschuldigen Sie bitte. Sie haben vor der Wahl Steuersenkungen versprochen. Wenn Herr Solms an meiner Stelle wäre, dann müsste er heute hier die politische Lebenslüge der FDP vertreten, da Steuersenkungen gar nicht möglich sind. Das ist genau dieselbe Lebenslüge.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU - Zurufe von der FDP sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE))

Ich bin mir ganz sicher: Wenn er in meinem Amt wäre und wenn er heute Ihre Aussagen im Bundestagswahlkampf verteidigen müsste, dann müsste er sich von ihnen genauso verabschieden. Tun Sie also doch nicht so und spielen Sie sich doch nicht vollmundig auf.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): Sagen Sie einmal etwas zu der Lebenslüge der SPD!)

   Wenn Sie sagen, dass Sie diese Erhöhung der Mehrsteuer nicht wollen - den einen Mehrwertsteuerpunkt, durch den die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gesenkt werden sollen, lasse ich einmal weg -, dann müssen Sie diesem Hause erklären, wie die 10 Milliarden Euro - ich addiere immer die Versicherungsteuer und die Mehrwertsteuer - auf anderem Wege finanziert werden sollen. Das können Sie nicht. Das ist Ihr Offenbarungseid. Da gibt es nichts,

(Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann (FDP))

es sei denn, Sie würden sagen: Wir senken die Renten und die Investitionen und wir setzen in den Zukunftsfeldern - was immer dabei in Rede steht - keine Akzente mehr.

   Ich sage sehr bewusst: Um seine Aufgaben erfüllen zu können, benötigt dieser Staat Ressourcen. Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat. Die Menschen erwarten, dass wir die Infrastruktur finanzieren, dass wir Daseinsvorsorge betreiben, dass wir die innere und äußere Sicherheit finanzieren und dass wir in Bildung, Forschung und Entwicklung investieren.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr gut!)

Wir wollen aber keinen fetten Staat haben. Wir wollen nicht länger einen Vater und eine Mutter Staat haben. Wir brauchen auch keine Alimentationsveranstaltungen, wie sich die Linken das gelegentlich vorstellen, sondern wir brauchen einen leistungsfähigen Staat, der dafür auch die entsprechenden finanziellen Ressourcen benötigt.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, der auch dadurch Vertrauen und Sicherheit schafft, dass er die großen Lebensrisiken der Menschen absichert und ihnen mehr Chancengerechtigkeit beim Zugang zu Bildungseinrichtungen garantiert, damit sie ein selbst verantwortetes Leben führen können. Deshalb trete ich in einer solchen Rede auch der verbreiteten und modischen Diskreditierung des Staates und seiner Institutionen entgegen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dies ist auch bei Ihnen mit ordnungspolitischen Vorstellungen unterlegt, von denen ich sehr weit entfernt bin.

(Beifall bei der SPD)

Nur die sehr Begüterten können sich einen schwachen Staat leisten, die anderen nicht.

(Beifall bei der SPD - Hans-Michael Goldmann (FDP): Blödsinn! Das ist ja unerträglich!)

   Abstrakt sind alle überall für Haushaltskonsolidierung: bei den Verbänden, in den Medien und auch bei uns. Wehe aber, es wird konkret! Abstrakt sind alle für den Abbau von Steuervergünstigungen - aber bitte bei den anderen. Diese Debatte haben wir schon jetzt. Mir ist jede Kritik willkommen, die uns weiterhilft, gerade auch dann, wenn sie in Sorge um das Gemeinwohl geäußert wird. Mir ist es aber vielleicht auch erlaubt, solche Kritik zurückzuweisen, die klar von Gruppeninteressen geprägt ist.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

   Ich will ein Beispiel aus der jüngsten Zeit nennen, nämlich die geplante Verlustverrechnungsbeschränkung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen. Die Art und Weise, wie die FDP dort Klientelpolitik betrieben hat und glaubte, dort Klientelinteressen vertreten zu müssen, hat mit einer Orientierung an den Interessen des Gemeinwohls nichts zu tun.

(Beifall bei der SPD - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Auch der Herr Trittin! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Trittin nicht unerwähnt lassen!)

Sie müssen wissen: Allein das Lavieren über diesen Stichtag hätte den Steuerzahler 500 Millionen Euro kosten können, nur weil man denjenigen, die diese Fonds verwalten, vielleicht die Hand hat reichen müssen: Aus verfassungsrechtlichen Gründen müsste das alles noch verschoben werden und dergleichen mehr. Da ist nichts dran.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das war Herr Trittin!)

Diese Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen werden daran festhalten, weil wir wissen, dass sehr viel Geld daran hängt.

   In aller Deutlichkeit: Wenn wir Gruppeninteressen bedienen, haben wir keine Chance, zu einem wirtschaftlichen Aufschwung zu kommen, schon gar nicht zu mentalen Veränderungen, wobei ich glaube, dass uns diese Mentalitäten gelegentlich sehr hemmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   So ernüchternd das Bild der öffentlichen Finanzen auch sein mag, so besteht doch in meinen Augen kein Anlass zu Hoffnungslosigkeit oder Fatalismus. Wie in vielem, können wir auch hier einiges von den Chinesen lernen. Sie verwenden zwei Pinselstriche, um das Wort „Krise“ zu schreiben. Der eine Pinselstrich steht für die Gefahr, der andere für die Gelegenheit. Will sagen: Hüte dich in einer Krise vor der Gefahr, aber erkenne auch die Gelegenheiten. Solche Gelegenheiten gibt es.

   In der vergangenen Legislaturperiode hat es immerhin eine beachtliche Zunahme der so genannten Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen im Zuge von Reformen gegeben, für die ich meinem Vorgänger Hans Eichel, der daran maßgeblich beteiligt war, noch einmal danken möchte.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU))

Die Experten weisen aus, dass wir durch eine Reihe von gesetzlichen Vorhaben, die im Vermittlungsausschuss durchaus Zustimmung gefunden haben, diese Tragfähigkeitslücke, das heißt die Differenz zwischen den langfristigen Ausgaben und den Einnahmen des Staates, in nur zwei Jahren um 20 Prozent verringern konnten. Es gibt keinen Grund, warum eine große Koalition hierauf nicht aufbauen sollte. Wir werden es tun.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Warum hat die Regierung das dann nicht früher getan?)

   Die Bundesregierung hat ein ausgewogenes und aufeinander abgestimmtes Maßnahmenpaket in der, wie ich glaube, richtigen Schrittfolge vorgelegt. Wir wollen 2006 Rückenwind organisieren. Wir wollen 2007 das Maastrichtkriterium hinsichtlich der Verschuldung und auch die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes einhalten.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Sehr gut!)

Das wird uns erhebliche Anstrengungen abverlangen. Ich kündige hier noch einmal an, dass die Einhaltung des Maastrichtkriteriums von 3 Prozent im Jahre 2007 auch mit Blick auf die europapolitische Aufstellung der Bundesrepublik Deutschland von einer erheblichen Bedeutung sein wird.

   Wir befinden uns im Augenblick in einer Verfassungskrise. Wir verfügen im Augenblick über keine finanzielle Vorausschau. Ob dies die britische Präsidentschaft bis Weihnachten noch liefern wird, ist nicht sicher. Das heißt, es stehen möglicherweise noch offene Fragen zur Finanzierung der EU zur Behandlung an. Das bedeutet, dass wir uns eine dritte Krise, eine mögliche Währungskrise bezüglich der Infragestellung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, nicht werden leisten können. Das ist der Hintergrund.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann (FDP))

   Das Kabinett hat bereits erste Schritte eingeleitet, auf die ich aus Zeitgründen nicht zu sprechen kommen möchte. Der zweite Schritt wird sein, dass wir bereits im nächsten Jahr folgende Impulse setzen wollen: Familienförderung, Stärkung von Forschung und Entwicklung, Programm zur energetischen Gebäudesanierung sowie Förderung der gewerblichen Wirtschaft. Der dritte Schritt wird sein, dass wir uns um die großen Reformvorhaben schon 2006 werden kümmern müssen. Herausragendes Beispiel ist dafür das Gesundheitssystem vor dem Hintergrund sehr zielantinomischer Positionen, die wir vorher eingenommen haben. Aber ich gehöre zu denjenigen, die wissen, dass hier die Musik spielt, wenn wir jemals von dem hohen Bundeszuschuss für die versicherungsfremden Leistungen in der Krankenversicherung wegkommen wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Der nächste Schritt ist eine Erhöhung der Umsatzsteuer und der Versicherungsteuer zum 1. Januar 2007. Dazu habe ich das Notwendige gesagt. Wir bleiben auch im Sinne einer sozialen Balance für die davon Betroffenen bei dem halben Mehrwertsteuersatz.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 7 Prozent ist nicht die Hälfe von 18 Prozent!)

- Ich meine den ermäßigten Satz von 7 Prozent. Danke sehr, mathematisch haben Sie Recht, Frau Scheel.

   Der fünfte Schritt wird eine große Unternehmensteuerreform zum 1. Januar 2008 sein, für die der Grundsatz gilt: Solidität vor Schnelligkeit. Wir werden unsere Zeit brauchen, um die vorliegenden Vorschläge des Sachverständigenrates und der Stiftung Marktwirtschaft so auszuloten, dass dabei etwas Vernünftiges herauskommt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)

   Ich will zum Schluss sagen: Es ist ein Ziel dieser großen Koalition und vielleicht auch ihre Chance, Vertrauen wiederzugewinnen. Wir wollen uns ernsthaft und intensiv um einen glaubwürdigen Politikstil bemühen, der von den Wählerinnen und Wählern anerkannt wird. Die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass wir ihnen ohne Umschweife die Realität so beschreiben, wie sie ist, dass wir ihnen keine raschen Lösungen dort versprechen, wo wir sie nicht haben, dass wir aber versuchen, Wege aufzuzeigen. Die Menschen haben jedoch auch einen Anspruch darauf, dass nicht alles zerredet und zerfasert wird, was in die politische Debatte gebracht wird. Sie haben eine Bringschuld, die Informationsangebote der Politik so abzurufen, dass sie sich ein eigenes, von öffentlichen Aufgeregtheiten unabhängiges Bild machen können. Diese Bringschuld mahne ich bei den Bürgerinnen und Bürgern an.

(Beifall bei der SPD)

   Die große Koalition hat die Chance, zu einem Politikstil zu finden, mit dem Vertrauen zurückgewonnen werden kann. Wir müssen aus Überzeugung handeln und wir wollen durch Handeln überzeugen.

   Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Minister, ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit auch im Namen des Parlaments alles Gute.

   Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem Herr Steinbrück seine erste Rede hier gehalten hat, gebietet es die Höflichkeit, zurückhaltend darauf zu antworten. Ich habe mich aber gewundert, dass Sie Ihre Rede mit einer umfassenden Beschimpfung der Opposition begonnen haben. Ich bin nicht der Finanzminister. Unser Programm steht nicht zur Disposition und Diskussion. Vielmehr diskutieren wir hier über die Regierungserklärung der neuen Koalition und Sie sind für die Finanzpolitik verantwortlich. Um dieses Thema geht es.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

   Sie müssen nun Ihre Finanzpolitik rechtfertigen, sagen, ob sie schlüssig ist und zu den erwähnten Zielen führt oder ob Sie diese Ziele verfehlen werden. Ich bin ebenso wie viele Fachleute in diesem Land davon überzeugt, dass diesem Programm die sinnstiftende Linie, wie Professor Straubhaar festgestellt hat, fehlt.

(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

   Sie haben keine ökonomische Orientierung. Sie haben Einzelvorschläge vorgelegt, die nicht zusammengehören und sich widersprechen. Dabei ist kein finanzpolitisches Leitmotiv zu erkennen. Dem finanzpolitischen Programm mangelt es an inhaltlicher Konsistenz und konzeptioneller Klarheit. Das will ich mit einigen Bemerkungen untermauern.

   Zunächst einmal muss ich mich dagegen verwehren, dass Sie uns falsche Vorwürfe machen. Wir haben die Abschaffung der Verlustzuweisungsfonds seit Jahren - auch schriftlich und im Deutschen Bundestag - gefordert,

(Beifall bei der FDP)

und zwar unabhängig davon, wer davon betroffen ist.

(Joachim Poß (SPD): Im Finanzausschuss haben Sie aber immer dagegen gestimmt, wenn es konkret wurde!)

Die Regierung, die damals von der SPD mit Ihrem Parteifreund Hans Eichel und den Grünen gebildet wurde, hätte das längst vollzogen haben können. Richten Sie deshalb keine Vorwürfe an die falsche Adresse!

(Beifall bei der FDP)

   Entscheidend ist aber, ob Ihre finanzpolitische Strategie, die von einer Fülle von Steuererhöhungen und einer kleinen Zahl von Einsparungen geprägt ist, zum Ziel führt. Sie haben die großen Probleme der öffentlichen Haushalte in den Mittelpunkt Ihrer Strategie gestellt. Es ist richtig: Sie sind riesig und ich glaube, dass Sie, die Sie erst jetzt nach Berlin gekommen sind, nicht geahnt haben, dass das strukturelle Defizit ein Volumen von über 60 Milliarden Euro erreicht hat. Das haben auch wir, die wir uns damit beschäftigt haben, nicht gedacht.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach!)

Wir sind von 50 Milliarden Euro ausgegangen; dass es 65 Milliarden Euro sind, haben wir nicht erkannt, Herr Eichel. Sie haben uns das jedenfalls nicht vorgetragen. Darauf muss ich an dieser Stelle hinweisen.

(Beifall bei der FDP - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da haben Sie aber nicht aufmerksam Zeitung gelesen!)

   Sie haben in allen der letzten fünf Haushaltsberatungen Haushaltsplanentwürfe vorgelegt, die offenkundig schon zum Zeitpunkt der Beratung falsch waren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn Herr Steinbrück jetzt dazu übergeht, saubere Zahlen vorzulegen, dann halte ich das für richtig und bedanke mich dafür. Es ist aber noch nicht die Lösung des Problems.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): So ist es!)

Immerhin ist ein Anfang in Ehrlichkeit besser, als wieder zu falschen Zahlen zu greifen.

   Was ist der Grund für die Löcher im Staatshaushalt? Es gibt viele Gründe, aber lassen Sie mich zwei Hauptgründe nennen: zum einen ausufernde Staatsausgaben und zum anderen eine immer schmalere Basis für die Staatseinnahmen durch die hohe Arbeitslosigkeit.

   Wenn Sie die Haushalte des Bundes, der Länder und Gemeinden sanieren wollen, dann müssen Sie Ausgaben senken, Aufgaben des Staates zurücknehmen, Bürokratie abbauen und mehr Freiheit für die Bürger, Unternehmen, Investoren und Sparer schaffen,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wie Angela Merkel es gestern beschrieben hat!)

um auf diese Weise das Haushaltsdefizit zu reduzieren.

   Eine weitere zentrale Aufgabe besteht darin, alles zu tun, das dazu beiträgt, dass in Deutschland wieder Arbeitsplätze entstehen können. Denn nur dann, wenn es Ihnen gelingt, Arbeitsplätze zu schaffen, wird es wieder mehr Steuer- und Beitragszahler geben.

(Beifall bei der FDP)

Ich erinnere an die einfache Faustregel: Wenn 1 Million Bürger, die heute von Sozialleistungen leben, wieder in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden könnten, dann würde sich die finanzielle Bilanz des Staates um etwa 20 Milliarden Euro verbessern. In diesem Zusammenhang möchte ich an die 80er-Jahre erinnern, als wir die gleichen Probleme - zwar nicht im selben Umfang, aber in struktureller Hinsicht waren sie vergleichbar - hatten. Damals wurde unter Finanzminister Stoltenberg und Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff eine Entlastungsreform begonnen. Es war eine dreistufige Steuerreform mit einem Entlastungsvolumen von 60 Milliarden Euro. Das hat dazu beigetragen, dass zwischen 1983 und 1990 die Zahl der Beschäftigten auf dem ersten Arbeitsmarkt um mehr als 2,2 Millionen gestiegen ist. Das Ergebnis war, dass der Staatshaushalt 1989 nahezu ausgeglichen war, und zwar im Gesamtstaat. Die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der Sozialkassen wiesen damals nur noch ein Defizit in Höhe von circa 3 Milliarden Euro auf. Das ist im Vergleich zu heute fast nichts. Sie sehen: Die Sanierung war nur über den Aufbau von Beschäftigung möglich. Deswegen ist Ihre finanzielle und ökonomische Strategie völlig falsch.

(Beifall bei der FDP)

Sie können sicherlich sagen: Die blöde Opposition! Warum soll ich mich um sie kümmern? Was sie erzählt, stimmt sowieso nicht. Jeder Vorschlag der FDP ist eo ipso unsozial. - Ich kenne diese Argumentation. Aber das ist egal; denn letztendlich müssen Sie sich vor dem Wähler rechtfertigen.

   Ich möchte nun kurz auf Ihre Strategie eingehen. Da die Defizite im nächsten Jahr nicht beherrscht werden können - das wäre in der Tat sehr schwierig; das gebe ich zu -, wollen Sie ein konjunkturpolitisches Strohfeuer entfachen - mehr wird es auch nicht sein -, bevor Sie 2007 die Bürger zur Kasse bitten. Sie überwälzen die Verantwortung für die falsche Politik, die Sie seit Jahren und Jahrzehnten machen - seit 1970 ist der Haushalt nicht mehr ausgeglichen -, auf die Bürger. Diese müssen die Lasten tragen. Was wird passieren? Im nächsten Jahr, insbesondere was das Weihnachtsgeschäft angeht, wird es vielleicht ein konjunkturpolitisches Strohfeuer geben. Aber danach bricht die Konjunktur völlig ein. Wenn Sie ein Ausgabenprogramm mit einem Volumen von - über die ganze Legislaturperiode - 25 Milliarden Euro auflegen, gleichzeitig aber 150 Milliarden Euro an Liquidität abschöpfen, dann ist klar, dass es keine positive konjunkturelle Entwicklung, kein Wachstum und keine zusätzliche Beschäftigung geben kann. Das ist ein ganz einfacher Grundsatz der Makroökonomie.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Dagegen hilft auch nicht, die FDP zu beschimpfen!)

Wie gesagt, Sie wollen ab 2007 rund 150 Milliarden Euro einschließlich Privatisierungs- und Einmalerlöse abschöpfen und legen gleichzeitig ein Ausgabenprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden Euro bis 2009 vor. Das kann nicht funktionieren. Ab 2007 wird Ihnen die Rechnung präsentiert werden. Ich weise Sie schon heute darauf hin, dass Sie scheitern werden, wenn Sie Ihre Strategie nicht ändern.

(Beifall bei der FDP)

   Wir wollen aber nicht, dass Sie scheitern, sondern, dass Sie Erfolg haben und für mehr Beschäftigung in Deutschland sorgen.

(Joachim Poß (SPD): Die OECD sieht das in den letzten Tagen ganz anders als Sie!)

- Ich weiß nicht, ob Sie das richtig verstanden haben, was Sie gelesen haben. Aber nicht die OECD, sondern wir im Deutschen Bundestag sind für unsere Politik verantwortlich.

(Beifall bei der FDP)

Lesen Sie einmal die Gutachten des Sachverständigenrates und der wirtschaftswissenschaftlichen Institute! Überall wird die Meinung vertreten, dass Ihrer Politik die ökonomische Linie fehlt.

   Letztendlich wird sich herausstellen, ob Ihre Vorstellungen helfen, Menschen in Lohn und Arbeit zu bringen. Darauf müssen sich - jedenfalls nach unserer Meinung - die Wirtschafts- und die Finanzpolitik konzentrieren. Der neue Wirtschaftsminister Michael Glos, der die Debatte heute Morgen eröffnet hat, hat gesagt: Unser zentrales Ziel ist, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen. - Der Mann hat Recht. Aber warum tun Sie nichts dafür? Warum machen Sie eine falsche Politik? Die Rechnung wird Ihnen präsentiert werden.

(Beifall bei der FDP)

   Das Interessante dabei ist: Uns wird gerade von sozialdemokratischer Seite oft vorgehalten, man dürfe nicht alles ökonomisieren; der blanke Kapitalismus sei völlig unsozial und ungerecht. Hier haben wir nun ein typisches Beispiel dafür, dass eine ökonomische Strategie auch eine soziale Gerechtigkeitsstrategie beinhaltet. Das alles passt genau zusammen.

(Beifall bei der FDP)

Die größte soziale Ungerechtigkeit ist die Arbeitslosigkeit.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Das ist nicht nur eine Frage des Einkommens bzw. des Einkommens- oder Beschäftigungsverlustes, sondern auch eine Frage des menschlichen Status, des Selbstbewusstseins. Hier werden ganze Familien einem traurigen Schicksal überlassen. Daher müssen wir uns auf den Abbau der Arbeitslosigkeit konzentrieren. Wenn Sie eine vernünftige ökonomische Politik machen und für Steuer- und Abgabenentlastung, Bürokratieabbau, also Abschaffung von Vorschriften und Kontrollen, und für mehr Freiraum sorgen, und zwar unter der Maßgabe, internationale Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen, dann werden Sie auch das soziale Problem lösen. Ich halte es durchaus für möglich, in absehbarer Zeit 2 Millionen Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Nur müssen da mutige Entscheidungen getroffen werden.

(Beifall bei der FDP)

Eine Koalition mit einer Mehrheit von 70 Prozent hier im Deutschen Bundestag hat doch alle Möglichkeiten. Wir können unsere Kritik dagegenstellen, aber wir können Sie am Handeln nicht hindern. Sie müssen aber auch handeln, aber Sie handeln nicht richtig. Das ist mutlos.

(Beifall bei der FDP - Joachim Poß (SPD): Wir haben doch gehandelt!)

Schauen Sie sich doch das Abgabenprogramm an, das Sie aufgestellt haben. Elterngeld - soll das die Konjunktur in Gang bringen? Handwerkerrechnungen können von der Steuer abgesetzt werden. Das mag ja für die Handwerker schön sein, führt aber wieder zu einer steuerlichen Komplizierung und zu zusätzlichen Manipulationsmöglichkeiten. So ist es doch.

(Beifall bei der FDP - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das war doch eine FDP-Forderung oder nicht?)

   Alle Parteien haben erklärt, sie wollten eine grundsätzliche Steuerreform mit einer Steuervereinfachung: niedrig, einfach und gerecht. Die CDU hat das sogar von uns abgeschrieben. Wo ist das denn geblieben? Wo sind denn die mutigen Vorschläge von Friedrich Merz geblieben, die Sie von der CDU auf Ihrem Parteitag beschlossen haben? Kein Wort ist mehr davon zu hören. Alles verschoben auf 2008.

(Beifall bei der FDP)

Seit Jahren kennen wir die Probleme, seit Jahren hätten Sie Ihre Hausaufgaben machen können. Die Gesetze hätten schon längst eingebracht werden können.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Läuft alles unter Kontinuität!)

Wir haben das alles in einem Gesetzestext formuliert. Da können Sie natürlich über jede Einzelheit streiten - das weiß ich auch; es gibt für alles Alternativen -, aber Sie müssen erst einmal ein neu konzipiertes Steuerrecht vorlegen, damit man darüber streiten kann.

(Beifall bei der FDP)

Das verträgt keinen Verzug. Die Wirtschaft hat damit gerechnet, dass wir ein neues Unternehmensteuerrecht im Jahr 2007 in Kraft setzen. Das hat übrigens, glaube ich, im Wahlprogramm der CDU gestanden.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da stand noch mehr drin!)

Wo ist es denn jetzt? Auch Sie, Herr Poß, werden doch zugeben, dass es gut wäre, wenn wir ein Unternehmensteuerrecht hätten, das wenigstens europarechtskonform wäre und wenigstens Rechtsformneutralität bewirken würde -

(Joachim Poß (SPD): Das haben wir gemacht!)

- das haben Sie nicht gemacht; Sie wollen es machen, sagen Sie, aber bis jetzt habe ich davon nichts gesehen. -

(Beifall bei der FDP)

- und das dazu führen würde, dass aus steuerlicher Sicht Investitionen in Deutschland so attraktiv sind wie in Österreich. Das ist doch der einfache Maßstab, den wir uns setzen.

(Joachim Poß (SPD): Jetzt ist der Maßstab Österreich! Da kriege ich ja das Kichern!)

Daran werden Sie gemessen werden, und zwar nicht von uns, nicht einmal von der öffentlichen Meinung, sondern die Wirtschaft, die Unternehmen in Deutschland werden Ihre Politik beurteilen. Angesichts der heutigen globalisierten Wirtschaft können Sie niemanden in Deutschland einschließen. Wem das nicht passt, der geht. Das mag man mögen oder nicht mögen, aber so ist es.

   Wenn Sie verhindern wollen, dass noch mehr Unternehmen und sogar mittelständische Unternehmen ins Ausland abwandern,

(Joachim Poß (SPD): Österreich hat höhere Steuersätze als wir!)

dann müssen Sie unverzüglich ein solches Programm auflegen und durch das Parlament bringen. Wenn Sie das nicht tun, versagen Sie. Jetzt, am Anfang der Legislaturperiode, weise ich Sie darauf hin: Wenn Sie das machen, werden wir Sie konstruktiv und kritisch unterstützen. Wir halten das für zwingend notwendig, wenn wir in Deutschland wieder Chancen für Arbeit und Brot bekommen wollen. Wenn Sie das mutwillig verzögern und keine ausreichenden Reformen auf den Weg bringen, dann werden wir scheitern. Wir werden dann alle scheitern, wir als Opposition auch, weil das verlorene Vertrauen der Bürger in die politischen Kräfte nicht mehr zurückgewonnen werden kann.

(Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Sehr richtig!)

Das trifft die Bundesregierung, das trifft die Parlamente.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Das trifft uns alle. Deswegen - das können Sie mir glauben - ist uns daran gelegen, dass Sie eine erfolgreichere Politik machen, jedenfalls erfolgreicher als das, was sich in diesem Koalitionsprogramm ankündigt.

   Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter Rauen (CDU/CSU))

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ein echter Meister!)

Dr. Michael Meister (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland hat wieder eine handlungsfähige Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel. Die Zeit des Stillstands ist vorbei. Wir legen alleine heute im Rahmen dieser Debatte drei Gesetzentwürfe vor, die in den nächsten Wochen beraten und beschlossen werden sollen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist unheimlich wegweisend!)

Das zeigt, es geht zügig voran. Es wird nicht nur diskutiert, Frau Scheel, sondern es wird in Deutschland wieder gehandelt.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Ich möchte ausdrücklich für unseren Bereich begrüßen, dass die Bundeskanzlerin das Motto ihrer Regierung unter das Leitmotiv „Mehr Freiheit wagen“ gestellt hat. Ich glaube, dass das ein gutes und richtiges Motiv ist und wir unsere Arbeit an diesem Motiv ausrichten wollen.

   Herrn Bundesfinanzminister Steinbrück möchte ich im Namen meiner Fraktion zunächst einmal eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit anbieten. Ich glaube, vor uns liegen sehr schwierige Aufgaben, die wir hoffentlich gemeinschaftlich anpacken und in diesen vier Jahren bewältigen wollen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Die jüngste Konjunkturumfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln oder die schon eben von Herrn Solms zitierte OECD-Prognose verkünden eine positive Entwicklung. Wir sollten diese positive Perspektive nutzen, ohne sie zu überschätzen; denn es reicht uns nicht, wenn sich allein die Konjunktur bessert. Wir müssen den konjunkturellen Aufschwung nutzen, um notwendige strukturelle Veränderungen in Deutschland voranzubringen und die Lage unseres Landes damit dauerhaft zu verbessern.

   Hier wurde eben angemerkt, dass die Strukturreformen dieser Bundesregierung nicht weit genug gehen. Ich möchte deshalb aus dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom November 2005 zitieren, in dem sich die Bundesbank mit dem Koalitionsvertrag auseinander setzt:

In zentralen Bereichen werden im Koalitionsvertrag für die Legislaturperiode grundlegende finanzpolitische Reformen in Aussicht gestellt. ... Hier bestehen Chancen, dass die finanzpolitischen Rahmenbedingungen deutlich verbessert werden.

Es wird an uns allen liegen, in welcher Weise wir die Chancen, die in diesem Koalitionsvertrag stecken, tatsächlich nutzen. Ich rate uns dazu, diese Chancen nicht zu zerreden; vielmehr sollten wir gemeinschaftlich versuchen, diese Chancen zu nutzen, um zu Ergebnissen zu kommen. Vor dieser Aufgabe stehen wir gemeinschaftlich.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Die Ausgangslage, die wir vorfinden - Stichworte: Haushaltslage; Arbeitsmarkt; Strukturen, insbesondere der Sozialsysteme -, ist ungeheuer schwierig. Hier wurde eben gefordert, dass die Staatsfinanzen saniert werden. Auch wenn manch einer diesen Eindruck erweckt, ist es natürlich nicht so, dass die Koalitionsverhandlungen der vergangenen Wochen zu dem Defizit geführt haben, das wir jetzt zu beseitigen haben; vielmehr hat diese Koalition dieses Defizit in Höhe von etwa 60 Milliarden Euro vorgefunden. Wir stellen uns der Aufgabe, diesen Haushalt wieder in Ordnung zu bringen.

   Ich finde es ausgesprochen gut, dass Herr Steinbrück bei einem gemeinsamen Interview auf einer Pressekonferenz gesagt hat: Diese Koalition startet, indem wir uns zuerst einmal ehrlich machen und die Problemlage zu Beginn der Arbeit klar und deutlich benennen. Ich glaube, der einzig sinnvolle Weg ist, bei den Realitäten zu beginnen und keine Wunschbilder zu malen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Herr Kollege Solms hat eben erklärt, er vermisse ein ökonomisches Leitmotiv. Ich glaube, dass wir in dieser Koalition angesichts dieser schwierigen Ausgangslage sehr wohl ein ökonomisches Leitmotiv gefunden haben: Erstens wollen wir sanieren, Herr Solms. Das ist bei einer Unterdeckung des Bundeshaushalts in Höhe von 60 Milliarden Euro dringend geboten. Zweitens wollen wir durch Sanieren nicht abwürgen - da widerspreche ich Ihrem Kollegen Brüderle -, sondern, begleitend zum Sanieren, Investitionen anregen und damit dazu beitragen, dass Wachstum und Beschäftigung gefördert werden. Beides tun wir gemeinsam. Drittens wollen wir durch die Reformen, die wir anpacken - etwa im Unternehmensteuerbereich und im Bereich der Sozialsysteme -, Perspektiven langfristiger Art eröffnen.

   Ich glaube, dass dieser Dreiklang wichtig ist. Wenn wir erfolgreich sein wollen, dann wird es wichtig sein, diese drei Bereiche - Sanieren, Investieren und Reformieren - gleichermaßen zu berücksichtigen und keine dieser Aufgaben aufzugeben.

   Wir bekennen uns klar und deutlich dazu, dass wir ab dem Jahre 2007 den Vertrag von Maastricht einhalten wollen, und zwar sowohl nach dem Wortlaut als auch nach dem Geist dieses Vertrages. Wir wollen auch die in Art. 115 des Grundgesetzes festgelegte Regelgrenze ab 2007 wieder einhalten. Damit schlagen wir finanzpolitisch endlich wieder einmal Pflöcke ein, die deutlich machen, auf welcher Basis unser Land finanzpolitisch geführt wird. Ich glaube, das ist eine riesige Anstrengung und eine klare Ansage. Es wird sehr viel Kraft erfordern, diese Ziele zu erreichen und über das Jahr 2007 hinaus wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

   Wenn bei einer Lücke von 60 Milliarden Euro gesagt wird: „Wir schaffen es allein über die Ausgabenseite, diese Lücke zu schließen“, dann will ich betonen: Wir reden über die Zielerreichung im Jahr 2007! Das bedeutet, dass wir bis 2007 nicht nur jährliche Sparvolumina in einer Größenordnung von mehr als 30 Milliarden Euro brauchen, sondern dass wir diese Beträge kassenwirksam im Bundeshaushalt brauchen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Jawohl!)

Das ist etwas ganz anderes, als wenn jahreswirksame Veränderungen beschlossen werden, die zum Teil auch Länder und Kommunen betreffen. Deshalb müssen wir uns auch bei dieser Debatte ehrlich machen, indem wir klar und deutlich sagen: Wer es anstrebt, in 14 Monaten mehr als 30 Milliarden Euro zu bewegen, der hat sich durchaus ein ehrgeiziges Programm vorgenommen. Das sollte man an dieser Stelle auch nicht kleinreden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Herr Steinbrück hat vorhin die Aufteilung genannt. Wir werden sparen. 10 Milliarden Euro in 14 Monaten bedeutet eine gewaltige Herausforderung. Indem wir in die steuerliche Bemessungsgrundlage eingreifen, werden wir etwa 6 Milliarden Euro bewegen. Darüber hinaus stehen wir vor der Notwendigkeit - dazu will ich mich klar und deutlich bekennen -, in den Bereich der Umsatzsteuer und der Versicherungsteuer hineinzugehen.

   An der Stelle will ich eine Aufforderung aussprechen. All dies wird gesetzlich umgesetzt werden müssen. Wir sind da offen; Herr Poß, das kann ich, glaube ich, auch in Ihrem Namen sagen. Wenn der Kollege Solms uns in den Haushaltsberatungen Einsparvorschläge im Volumen von 12 Milliarden Euro vorlegt,

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann erhöhen Sie die Mehrwertsteuer nicht!)

die belegt sind und im Jahr 2007 kassenwirksam sind, dann bin ich durchaus bereit, darüber zu reden. Ich verspreche Ihnen: Wir schauen uns Ihre Einsparvorschläge von 12 Milliarden Euro an. Wenn sie deckungsfähig sind, werden wir offen über die Frage reden, ob wir uns dort in anderer Weise aufstellen.

(Joachim Poß (SPD): Guter Vorschlag, Herr Kollege! - Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Aber 12 Milliarden allein für den Bund!)

Aber es muss klar sein, dass das Sparvolumen gehoben wird. Herr Solms, Sie haben jetzt Zeit - wir beginnen zur Jahreswende mit den Haushaltsberatungen -, Ihren Vorschlag auf den Tisch zu legen - additiv zu dem, was die Koalition vorgelegt hat. Dann sind wir gern bereit, uns mit Ihnen darüber auszutauschen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Zur Mehrwertsteuer will ich Folgendes sagen: Wir haben ausdrücklich darauf Wert gelegt, dass eine Senkung der Lohnzusatzkosten zustande kommt.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das klappt ja nicht!)

Wir wollen die Lohnzusatzkosten dauerhaft auf ein Niveau von unter 40 Prozent führen. Das ist für die Arbeitsplätze am Standort Deutschland und für die Investitionstätigkeit am Standort Deutschland eine ganz zentrale Aussage. Deshalb halte ich es für richtig, dass wir einen Teil über Veränderungen in den Sozialsystemen und einen Teil über Refinanzierung über die Umsatzsteuer realisieren.

   Ich will noch einen weiteren Punkt zu nennen. Herr Eichel, Sie können das, glaube ich, bestätigen; Sie haben das mehrfach in Bezug auf die Rentenversicherung und die Krankenversicherung angesprochen. Die Dynamik, die aus den Sozialsystemen kommt, erschlägt sozusagen den Bundeshaushalt. Diese Koalition hat jetzt den Mut gefunden, zu sagen: Wir schließen diese Schleuse und werden dafür sorgen, dass diese Dynamik aus dem Bundeshalt herausgenommen wird. Als Strukturentscheidung ist das eine ganz zentrale Weichenstellung. Ich weiß nicht, ob eine Koalition anderer Konstellation überhaupt den Mut gehabt hätte, diese zentrale Weichenstellung vorzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Das Impulsprogramm, das Thema Investieren also, ist von Herrn Steinbrück schon dargestellt worden. Ich will deshalb das Impulsprogramm nicht näher ausführen, aber zwei Bemerkungen machen. Den Privathaushalt als Arbeitgeber zu entdecken halte ich für extrem wichtig. Von vielen Rednern ist in diesen beiden Tagen schon betont worden, dass wir gerade im Niedriglohnsektor ein Problem mit Arbeitskräften haben. Jetzt haben wir endlich die Offenheit, zu sagen: Dort, wo viel ohne Rechnung, unter der Hand, geht, wollen wir im legalen Bereich, nämlich nur dann, wenn sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entsteht, zu einer steuerlichen Anerkennung kommen. Damit verfolgen wir nicht Schwarzarbeit, sondern setzen einen Anreiz, sozusagen Arbeit aus der Schwarzarbeit herauszuholen. Ich glaube, dass das ein richtiges Prinzip ist. Wir sollten diesen Weg einschlagen, um mehr legale Arbeit in Deutschland zu schaffen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Hier wird die Behauptung aufgestellt, dieses 25-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm werde nur ein Strohfeuer bewirken. Da hat der eine oder andere die Konzeption noch nicht ganz verstanden. Wir müssen massiv sanieren. Die Erhöhung des regulären Satzes der Umsatzsteuer um 3 Prozentpunkte hat natürlich Auswirkungen auf die Binnenwirtschaft. Deshalb muss über den 1. Januar 2007 hinweg eine Brücke gebaut werden, mit der wir dafür sorgen, dass die Wirtschaft weiter läuft. Wenn wir jetzt das Signal setzen „Ihr könnt in den Jahren 2006 und 2007 zu günstigen Rahmenbedingungen investieren“, dann schaffen wir genau die Brücke, die wir brauchen.

   Wir werden in den Gesetzesberatungen darüber reden müssen, wie belastbar diese Brücke ist. Sehr viel wird daran liegen, wie wir das im Einzelnen ausgestalten. Ziel ist, dass die erwarteten Investitionen tatsächlich zustande kommen. Deshalb muss vom Investitionsanreiz aus dem ersten Jahr bis zum Jahr 2008, in dem dann die langfristigen Reformen greifen sollen, ein Weg entstehen, der kontinuierlich beschritten werden kann. Dann haben wir ein ökonomisches Konzept, das auch in der Zeitschiene ausgereift ist und trägt.

   Jetzt zum nächsten Teil, den Reformen. Ich glaube, dass wir das von Herrn Glos heute Morgen genannte durchschnittliche reale Wachstum von 1 Prozent nicht akzeptieren können. Das ist für unser Land viel zu wenig, weil so keine Arbeitsplätze entstehen. Wir brauchen mehr reales Wachstum, und zwar dauerhaft und nachhaltig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir brauchen einen anderen Wachstumspfad; sonst werden wir von der hohen Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland nicht herunterkommen.

   Wir haben über Bürokratieabbau gesprochen. Das ist etwas, was uns kein Geld kostet, aber massiv zu einem besseren Wachstumspfad beitragen kann. Wir haben vereinbart, dass Planungs- und Genehmigungsverfahren schneller durchgeführt werden. Warum muss es so sein, dass Geld, das investiert werden soll, lange zurückgehalten wird, weil Genehmigungen nicht erteilt werden? Außerdem haben wir eine bessere Mittelstandsfinanzierung vereinbart. Auch das ist ein Punkt, der vernünftig ausgestaltet werden muss.

   Wir haben - damit komme ich zu den Steuern - auch darüber gesprochen, dass wir in Deutschland eine belastbare Unternehmensteuerreform brauchen. Ich will hier keine Debatte darüber führen, ob die Steuerquote zu hoch oder zu niedrig ist. Das ist doch für den Entscheider im Unternehmen völlig irrelevant. Er entscheidet nicht aufgrund der Steuerquote, sondern ihn interessieren die Durchschnittsbelastung und, wenn er Zusatzinvestitionen tätigen will, die Grenzbelastung. An dieser Stelle sind wir nicht richtig aufgestellt. Im Koalitionsvertrag haben wir uns auf international wettbewerbsfähige Steuersätze festgelegt, um hier etwas Vernünftiges zu tun. Dabei nehmen wir, Herr Solms, selbstverständlich die Personengesellschaften mit, indem wir eine rechtsformneutrale Unternehmensteuerreform machen. Auch die EU-Probleme haben wir dabei im Blick; die Unternehmensteuerreform soll nach dem Koalitionsvertrag EU-konform ausgestaltet werden. Die Verfahren, die beim EuGH in Luxemburg anhängig sind und ungeheuere Risiken darstellen, wollen wir in diesem Rahmen klären.

   Jetzt kann man natürlich leicht sagen, der 1. Januar 2008 sei zu spät. Aber wenn wir bei der Unternehmensteuerreform eine grundsätzliche Weichenstellung wollen - daran hängt ja die Kapitalertragsbesteuerung und vieles andere mehr -, können wir doch nicht einfach aus der Hüfte schießen. Wir müssen deshalb die beiden Konzepte, die zurzeit ausgearbeitet und demnächst vorgelegt werden sollen - sie sind vorhin schon genannt worden: ein Konzept des Sachverständigenrates und ein Konzept der Stiftung „Marktwirtschaft“ -, prüfen und anschließend eine Entscheidung treffen, welches dieser Konzepte zugrunde gelegt wird. Darauf kann man dann eine vernünftige Gesetzgebung aufbauen. Das ist auch im Sinne der Vertrauensbildung, der Verlässlichkeit und der Planbarkeit. Ich glaube, dass der Zeitpunkt 1. Januar 2008 realistisch ist.

(Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Und ehrgeizig!)

Dieser Zeitpunkt zeigt auch, dass das Ganze nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir alle werden uns erheblich anstrengen müssen, diesen Termin einzuhalten.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Das wird schwer genug!)

   Wir halten das ein, was wir den Unternehmen versprochen haben: Es wird eine Regelung zur Erbschaftsteuer, eine Umstellung bei den Buchführungspflichten sowie durch die verbesserte Istbesteuerung eine Verbesserung der Liquiditätssituation von kleinen Unternehmen geben. Dies wird relativ zügig noch im kommenden Jahr angegangen werden.

   Abschließend zu den drei vorliegenden Gesetzentwürfen: Die Abschaffung der Eigenheimzulage haben wir in Verbindung mit der Frage der Integration der Immobilie in die private Altersvorsorge gesehen. Vor diesem Hintergrund sind wir bereit, zu sagen: Wenn die Immobilie in geeigneter Weise in die private Altersvorsorge integriert ist, kann auf das Förderinstrument der Eigenheimzulage verzichtet werden.

   Zu den Steuersparfonds will ich nur sagen: Mir liegt im Sinne der Vertrauensbildung daran, dass wir an dieser Stelle versuchen, so weit als möglich auf rückwirkendes In-Kraft-Treten zu verzichten

(Beifall des Abg. Otto Bernhardt (CDU/CSU))

und den Menschen zu sagen, was wir in der Zukunft tun werden. Deshalb werden diese drei Gesetzentwürfe bis zum Jahresende im Bundestag und im Bundesrat abschließend beraten werden, damit die Menschen zum Jahreswechsel wissen, was in steuerlicher Hinsicht im nächsten Jahr auf sie zukommt.

   Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und freue mich auf die Debatten. Es ist jetzt viel leichter, hier zu reden, weil man viel größeren Zuspruch hat.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll, Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit jedem Regierungswechsel mutiert der Bundeshaushalt zum Überraschungsei. Auch bei einem Überraschungsei weiß man eigentlich, was drin ist; trotzdem schaut man hinein und tut dann sehr überrascht über das vorhandene Spielzeug - jedes Mal das Gleiche. Genauso ist es beim Haushalt: Die Regierung wechselt, alle schauen ganz ernsthaft und ganz tief in den vorliegenden Haushalt, analysieren ihn ehrlich und sind erschrocken, wie schlecht die Lage ist und wie hoch die Defizite sind.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Meister beziffert sie auf 64 Milliarden Euro, der Finanzminister auf 50 Milliarden Euro und im Koalitionsvertrag stehen 35 Milliarden Euro.

Was macht es schon?

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Kollegin Höll hat erkennbar keine Ahnung! Das ist peinlich!)

Die Zahlen sind da und Sie sind entsetzt darüber, obwohl Sie hier in gemeinsamer neoliberaler Einheitsfront in den letzten Jahren im Unternehmensteuerbereich die Körperschaftsteuersätze von 56 auf 25 Prozent gesenkt haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben den Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Jährlich kostet das die Haushalte der öffentlichen Hand 60 Milliarden Euro. Ja, Herr Steinbrück, wir haben ein Problem auf der Einnahmeseite, ein Problem, das Sie gemeinsam, über Bundestag und Bundesrat, zu verantworten haben.

(Beifall bei der LINKEN)

   Aus dieser schier katastrophalen Lage resultiert dann ein unwahrscheinlicher Handlungsdruck, den Haushalt zu konsolidieren. Das wollte Herr Kohl bereits 1982; er hat es nie geschafft. Jetzt sollen, natürlich, die Kleinen zur Kasse gebeten werden. Dabei bieten Sie einen richtigen Strauß von Maßnahmen an. Nehmen wir als erstes die Mehrwertsteuer. Herr Steinbrück, war denn Ihre Rede die Rechtfertigung der politischen Lebenslüge der SPD?

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da hat sie Recht!)

Natürlich wird die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent - da langen Sie richtig kräftig zu; das hat sich noch keine Regierung in der bundesdeutschen Geschichte getraut - die Nachfrage schwächen. Sie machen das, obwohl Sie im Koalitionsvertrag richtigerweise formuliert haben, dass wir seit zehn Jahren in Deutschland ein Wachstumsproblem haben, das sich daraus ergeben hat, dass wir keine Binnennachfrage in ausreichender Höhe haben.

   Sie verkünden hier großartig: Ein Teil des Geldes fließt doch zurück. - Ja, laut Ihrer Planung fließen 4 Milliarden an die Arbeitgeber zurück. Wir wissen allerdings nicht genau, was sie damit machen werden. 4 Milliarden fließen an Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zurück. Aber 16 Milliarden werden im Nirwana von Bundeshaushalt und Länderhaushalten verschwinden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist doch kein Nirwana!)

So werden Sie die Probleme nicht lösen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Darunter werden wir noch lange leiden, dass Sie solche Reden halten müssen!)

Ich bin schon erstaunt darüber, dass die Koalition genau das macht, da Sie ja in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben haben, dass es Ihnen um die Stärkung des Verbrauchervertrauens geht, um den privaten Konsum zu beleben. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Mit solchen Maßnahmen wollen Sie eine Stärkung des Vertrauens erreichen? Sie wissen genau, dass das kontraproduktiv ist. Ob es nun Dummheit oder Zynismus ist, wird sich zeigen.

   Sie schaffen des Weiteren ab: die Eigenheimzulage, die teilweise Steuerfreiheit von Abfindungen, und das in einer Situation, in der uns fast täglich Nachrichten erreichen, dass insbesondere große Unternehmen mit Massenentlassungen in der nächsten Zeit drohen.

   Sie wollen im Steuerrecht einiges ändern. Ich möchte einen Punkt herausgreifen, der mich besonders interessiert. Sie begründen die Einführung des Anteilsverfahrens im Einkommensteuerrecht mit gleichstellungspolitischen Ansätzen. Ich muss sagen: Ich begrüße die psychologische Wirkung, die von einer Streichung der Steuerklassen ausgeht. Das heißt, dass die Ehepartner jeweils gemäß ihrem Einkommen veranlagt werden. Aber warum machen Sie das? Das kann man im Koalitionsvertrag eindeutig nachlesen: Es geht Ihnen um Liquiditätsvorteile für die Haushalte des Bundes und der Länder. Denn nach der neuen Regelung werden die Ehegatten im Laufe des Jahres mehr Steuern zahlen als nach der bisherigen Regelung. Ich unterstelle Ihnen, dass Sie beabsichtigen, diesen Liquiditätsvorteil auch noch zu veredeln. Sie rechnen nämlich damit, dass eben nicht alle Ehepaare am Jahresende ihre Steuererklärung abgeben werden, weil sie es einfach satt haben und nicht durchblicken. Somit werden sie sich noch nicht einmal die Vorteile, die ihnen auf Grund des Splittingverfahrens zustehen, zurückholen. Sie gehen also in dieser Frage in doppelter Hinsicht auf Kosten der Ehegatten vor.

   Sie sind zu feige, das Ehegattensplitting selber anzufassen. Aufgrund der Halbherzigkeit des eben von mir beschriebenen Verfahrens werden Sie es nicht schaffen - das hat Frau Merkel hier ja gestern großartig verkündet -, dass die Familien und das Zusammenleben mit Kindern wichtig werden bzw. dass uns die Familien viel wert sind. Vielmehr erreichen Sie es mit diesem Verfahren, dass es eine große Gruppe gibt, die weiterhin verliert; das sind die Alleinerziehenden, die Sie auf diese Art und Weise tendenziell schlechter stellen.

   Die große Frage ist natürlich: Was tun Sie mit dem Geld? Wollen Sie damit tatsächlich Arbeitsplätze schaffen? Sie haben im Koalitionsvertrag richtigerweise formuliert, dass die Senkungen der Unternehmensteuern in den letzten Jahren nicht zu mehr Arbeitsplätzen und zu Investitionen geführt haben. 5 bis 7 Millionen Arbeitsplätze fehlen in Deutschland.

Als Ausweg bieten Sie eine kurzfristige Verbesserung bei der Abschreibung an. Das ist gut. Dann stellen Sie aber einen weiteren Einstieg in den Steuersenkungswettbewerb nach unten in Aussicht. Das ist keine Konsolidierungspolitik. Das ist auch keine Politik, die auf die Zukunft gerichtet ist, sondern einfach pure Abzocke, Sozialabbau und eine weitere Umverteilung von unten nach oben.

(Beifall bei der LINKEN)

   Frau Merkel, Sie betonten in Ihrer Rede gestern, dass Sie sehr wohl wissen, dass Sie den Menschen viel abverlangen. Ich würde mich freuen, wenn Sie im Hause sich selber mehr abverlangen und mehr Mut zeigen würden, Reformen tatsächlich anzupacken und sich vielleicht etwas mit Lobbygruppen anzulegen, die hier sehr wohl Beiträge zur Konsolidierung des Haushalts und zur Belebung der Wirtschaft leisten könnten.

   Herr Steinbrück, seien Sie auf der Einnahmenseite doch nicht blind! Sehen Sie nicht nur die Mehrwertsteuer, sondern auch die Vermögensteuer! Reformieren Sie die Erbschaftsteuer, sodass sie Geld einbringt! Tun Sie etwas, um die Steuerschlupflöcher zu schließen! Auf diesem Wege werden Sie unsere Unterstützung haben. Wir werden aber nicht zulassen, dass Sie Ihre Politik als alternativlos verkaufen. Denn das ist sie nicht.

   Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Höll, ich bin froh, dass es uns in den letzten Jahren gelungen ist, gerade bei den kleinen und mittleren Einkommen die Steuerbelastung zu senken.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

83 Prozent aller Unternehmen sind einkommensteuerpflichtig. Indem wir diese Unternehmen massiv entlastet haben, haben wir Arbeitsplätze gesichert. Darauf bin ich stolz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Es ist richtig, Herr Steinbrück, dass die jetzige Situation nicht einfach ist. Insgesamt müssen wir aber doch feststellen, dass der Auftakt der neuen großen politischen Freundschaft sehr schlecht war. Denn Sie machen im nächsten Jahr neue Schulden in Höhe von 41,5 Milliarden Euro. Das ist eine Größenordnung, wie es sie in der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben hat.

(Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Ihr seid enttäuscht, dass ihr nicht mehr mitmachen könnt!)

Für die kommenden Generationen ergibt sich das Problem, dass die dadurch entstehenden Zinsen dauerhaft bezahlt werden müssen. Deswegen sind wir der Meinung, man hätte sich hier mehr anstrengen können, als Sie das getan haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Herr Dr. Meister hat aus dem Monatsbericht November 2005 der Deutschen Bundesbank zitiert. Er sagt, die Deutsche Bundesbank sei der Meinung, dass die neue Koalition alles sehr gut mache. Ich möchte Ihnen aus diesem Bericht der Deutschen Bundesbank folgende Stelle aus der Zusammenfassung vorlesen:

Insgesamt ist die im Koalitionsvertrag angelegte finanzpolitische Strategie allerdings auch mit deutlichen Vorbehalten zu versehen. So ist der Umfang der Konsolidierung im kommenden Jahr unzureichend.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das ist das Ergebnis, zu dem die Deutsche Bundesbank in ihrem neuesten Monatsbericht kommt. Ich möchte einmal wissen, wie Sie zu dem Schluss kommen, dass in diesem Bericht Ihre politische Linie massiv unterstützt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wir lesen nicht nur die Zusammenfassung!)

- Ich weiß, dass Sie gerne im Kleingedruckten herumstöbern, sich daraus irgendwelche Passagen heraussuchen, die Ihnen in den Kram passen, und den Rest einfach unterschlagen.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bravo!)

Das kennen wir von Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Aber ich bin dafür gerüstet und habe die entsprechenden Unterlagen zur Verfügung, damit ich Ihre Einwände gut kontern kann.

   Ich halte es auch für sehr problematisch, dass mit Blick auf den Haushalt gesagt wird: Wir brechen im nächsten Jahr bewusst die Verfassung. - Gerade die Vertreter der Union haben in den Debatten der letzten Jahre immer wieder betont, wie wichtig es sei, die Verfassungsgrenze einzuhalten. Da ist es schon sehr verwunderlich, dass von den ehemaligen Verfassungspatrioten jetzt zu hören ist: Ja, wir sind Verfassungsbrecher und das ist in Ordnung.

Sie sollten mir einmal erklären, wie es möglich ist, dass über Nacht eine solche Wandlung zustande kommt und Sie einen solchen Satz über die Lippen bringen, ohne rote Ohren zu bekommen.

(Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Das ist Ihr Miterbe, Frau Kollegin!)

   Ich habe auch gesagt, dass eine nachhaltige Finanzpolitik stärkere Anstrengungen nötig macht, um aus der Schuldenfalle herauszukommen. Aber man muss die Finanzpolitik und die Haushaltskonsolidierung zeitlich mit den notwendigen Strukturreformen verbinden. Das tun Sie eben nicht. Sie haben kein Konzept für die Gesundheitspolitik. Die Rentenreform verschieben Sie in Wahrheit in die nächste Legislaturperiode. Auch bei der Pflege haben Sie kein Konzept; auch dieses Thema wird vertagt.

   Wir üben Kritik daran, dass Ihre Politik nicht konsistent ist, sondern nur Bruchstücke enthält, die aneinander gereiht werden. Das schafft nicht das notwendige Vertrauen, nicht das Gefühl, dass die Finanzpolitik ein klares Bild, eine Struktur, eine Perspektive hat. Was Sie vorgelegt haben, ist Stückwerk.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Mit Blick auf die Union frage ich: Was ist jetzt eigentlich mit Friedrich Merz los?

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Guter Mann!)

Ich habe ihn gestern nicht gesehen. Auch heute ist er nicht da.

(Widerspruch der Bundeskanzlerin Angela Merkel)

- Entschuldigung, Frau Merkel. Gestern war er also da. Er hat Ihnen gestern sogar zugehört. Das freut mich für Sie.

   Da er sich hier nicht mehr meldet,

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Woher wissen Sie das denn? - Michael Glos (CDU/CSU): Seien Sie doch nicht so traurig! Suchen Sie sich einen anderen!)

sollte man sich einmal anschauen, was er den Zeitungen sagt. Er hat deutliche Worte an seine politischen Freunde und Freundinnen gerichtet. Dazu drei Beispiele. Er hat erstens gesagt:

Aus der Steuersenkungspartei wird jetzt eine Steuererhöhungspartei.

Zweitens hat er gesagt:

Aus der Partei, die den Arbeitsmarkt öffnen wollte, wird die Partei der fortgesetzten Regulierung.

Drittens hat er gesagt:

… die Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte ist eine Steuererhöhung, die die Unternehmen im Wettbewerb zur Schattenwirtschaft massiv benachteiligt.
(Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Er kannte sich eben noch nie aus!)

Dazu kann ich nur feststellen: Wo Herr Merz Recht hat, hat er Recht. Auch das kann man einmal sagen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ganz ungewohnte Koalition hier!)

   Jetzt legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der sich „Einstieg in ein steuerliches Sofortprogramm“ nennt. Er beinhaltet viele, wichtige Einzelaspekte. Was vernünftig ist, das werden wir vonseiten der Grünen mittragen; das sage ich an dieser Stelle ganz eindeutig. Aber es ist ein Gestückel und zeigt keine finanzpolitische Linie.

   Im Jahr 2007 treten Sie dann - das haben wir heute schon mehrmals und auch gestern gehört - die Flucht in Steuererhöhungen an. Es kommt, wenn man den Planungszeitraum im Ganzen übersieht, zu Steuererhöhungen von 150 Milliarden Euro. Das ist für die Bürger und die Bürgerinnen in diesem Land massiv.

(Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Was wollen Sie denn?)

   Wir hätten uns gewünscht, dass Sie bei den Subventionskürzungen nicht so zaghaft sind.

(Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Welche denn?)

Wir hätten uns gewünscht, dass nicht einfach aus Lobbyinteressen bestimmte Bereiche ausgeklammert, sondern benannt werden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Windkraftförderung!)

Abbau der Kohlesubventionen - Fehlanzeige! Abbau von ökologisch schädlichen Subventionen - Fehlanzeige! Streichung von Steuervergünstigungen und der Verlagerung von Einnahmen ins Ausland - Fehlanzeige!

(Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Trittin!)

Voller Mehrwertsteuersatz für grenzüberschreitende Flüge usw. - Fehlanzeige!

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Frau Kollegin, Ihre Zeit ist zu Ende.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist richtig!)

Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Sofort, Frau Präsidentin.

   Es gäbe noch Spielräume. Sie haben sie nicht genutzt. Sie haben die Unternehmensteuerreform auf 2008 verschoben, was ich für hoch problematisch halte. Wir brauchen mehr Dynamik und keine Verschleppung. Dafür werden wir uns einsetzen.

   Danke.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Joachim Poß (SPD):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dass wir alle miteinander aufpassen müssen, dass wir bei diesem Rollenwechsel, den wir in diesen Tagen erleben, unsere Glaubwürdigkeit nicht verspielen, liebe Kollegin Scheel.

(Beifall bei der SPD und der FDP)

Ihr uneingeschränktes Bekenntnis zu Friedrich Merz hat mich gewundert; das muss ich schon sagen.

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU - Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war nicht uneingeschränkt! - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war bezogen auf drei Dinge!)

Ich weiß nicht, ob Sie da im Namen der Grünen gesprochen haben. Ob angesichts Ihres konkreten Verhaltens im Zusammenhang mit den Windkrafträdern Ihre Forderungen im Hinblick auf den Abbau von Steuersubventionen überzeugend und glaubwürdig sind, ist eine andere Frage.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

   Man muss hier über alles reden können, wohl wissend, dass wir unterschiedliche Rollen haben. Wir Sozialdemokraten sind im Gegensatz zu Ihnen in der Regierung geblieben. Sie sollten aber nicht nach wenigen Wochen so reden, als seien Sie schon seit fünf Jahren in der Opposition. Das erhöht nämlich nicht Ihre Glaubwürdigkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

   Dass wir einen verfassungsgemäßen Haushalt aufstellen, ist doch wohl selbstverständlich - was immer auch dazu zu lesen war, Christine Scheel; man sollte nicht irgendwelche Medienzitate zum Maßstab machen -, und zwar in dem Sinne, wie es Herr Steinbrück, dem wir Sozialdemokraten eine glückliche Hand wünschen, hier dargestellt hat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Zum Zusammenspiel mit den Strukturreformen: Lesen Sie den Koalitionsvertrag noch einmal genau durch! In Sachen Rente sind darin bereits sehr weit gehende Festlegungen getroffen worden. Im Bereich Gesundheit hat Frau Bundeskanzlerin Merkel gestern den Dissens festgestellt und gesagt, dass wir diesen im nächsten Jahr ausräumen müssen. Wir sollten doch nicht so tun, als könnten große Probleme von heute auf morgen gelöst werden.

   Lieber Kollege Solms, Ihnen sei einiges nachzusehen, weil Sie erst kürzlich 65 Jahre alt wurden.

(Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Keine Frechheiten!)

In diesem freundlich gemeinten Geiste - ich glaube, Sie haben auch gerade eine schöne Weihnachtsfeier hinter sich - will ich Ihnen antworten. Der Koalitionsvertrag enthält durchaus einen strategischen Ansatz. Herr Kollege Meister hat das hier dargestellt. Ich will es einmal mit meinen Worten sagen: Der Koalitionsvertrag ist zugleich ein Wirtschafts- und Finanzpakt für ganz Deutschland und hat Bedeutung nicht nur für die Bundesebene, sondern auch für die Länder und Kommunen. Das ist die neue Qualität, die wir erreichen wollen: Wir müssen gleichgerichtet handeln, was die staatlichen Rahmenbedingungen angeht. Das war lange Zeit nicht der Fall.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Bei allem Recht zur Kritik der Opposition darf Handlungsmaxime einer Opposition eines nicht sein, nämlich Täuschung und Selbsttäuschung. Das müsste auch für Sie gelten. Man kann die Mehrwertsteuererhöhung kritisch bewerten; Herr Steinbrück hat dies ja eingeräumt. Die SPD hat sie nicht gewollt. Es ist jedoch unrealistisch, zu glauben, es gäbe eine andere Möglichkeit der Haushaltskonsolidierung mit einem ähnlichen Volumen, die nicht zu noch schwereren ökonomischen und sozialen Zumutungen führte oder die - das muss man zugeben - in einer großen Koalition durchsetzbar wäre. Gäbe es eine solche Alternative, hätten wir sie gewählt. Wir tun ja bereits jetzt alles für eine Haushaltskonsolidierung, wie die Steuergesetze, die wir heute mitberaten, zeigen. Die Streichung der Eigenheimzulage für Neufälle, die Schließung noch verbliebener Steuerminderungsmöglichkeiten für Spitzenverdiener und die anderen Veränderungen sind erhebliche Eingriffe.

   Herr Solms, Sie sollten ganz offen und ehrlich sein und sagen, dass Sie zwar in Ihrem Konzept die Schließung dieser Steuerschlupflöcher vorgesehen haben, aber immer dann, wenn im Parlament oder im Finanzausschuss darüber abgestimmt wurde, reine Klientelpolitik betrieben haben.

(Beifall bei der SPD)

Herr Westerwelle hat noch letzte Woche vor laufenden Kameras erklärt, es sei eine Schweinerei, dass diese Steuersparmöglichkeiten abgeschafft werden.

(Dr. Volker Wissing (FDP): Nein, das hat er nicht gesagt! Das wissen Sie auch!)

Schauen Sie sich das bitte einmal genau an!

   Was PDS und FDP bisher zur Haushaltskonsolidierung vorschlagen, ist keine Alternative mit Erfolgsaussichten.

   Das Einsparbuch der FDP ist zwar dick, enthält aber bei näherer Betrachtung wenig Brauchbares. Wenn Sie hier Österreich als Vorbild anführen, empfehle ich Ihnen die Lektüre eines Untersuchungsberichts der Bayerischen Staatsregierung.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Die Bayerische Staatsregierung ist immer gut!)

Darin kommt man zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der individuellen Besteuerung, der Einkommensteuer, Österreich kein Wunderland ist. Im Bereich der Unternehmensbesteuerung kann man über einiges reden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?

Joachim Poß (SPD):

Aber gerne, immer.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):

Nur der Wahrheit halber, Herr Kollege Poß: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kollege Guido Westerwelle die Abschaffung der Verlustzuweisungsfonds voll unterstützt und auch seit langem unterstützt hat? Die kritische Diskussion bezog sich nur auf den Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens.

(Petra Merkel (Berlin) (SPD): Aber warum denn? - Weitere Zurufe von der SPD)

Wir halten die Rückwirkung auf einen Beschluss einer Regierung, die schon abgewählt ist, für verfassungsrechtlich bedenklich. Verfassungsrechtlich wäre es aber durchaus möglich, für das In-Kraft-Treten den Beschlusstermin der neuen Regierung heranzuziehen.

Das ist genau der Unterschied, das ist sozusagen etwas für Spezialisten. Aber die grundsätzliche Abschaffung wird von uns seit Jahren gefordert.

Joachim Poß (SPD):

Herr Kollege Solms, Sie können davon ausgehen, dass die Koalitionsfraktionen natürlich eine verfassungsgemäße Lösung präsentieren werden. Das ist doch selbstverständlich. Diese Frage wurde von drei Häusern der Bundesregierung geprüft und eindeutig beantwortet. Davon gehen Sie einmal aus!

   Aber was hinter den Äußerungen von Herrn Westerwelle deutlich wurde - ich selbst habe das in der ARD oder im ZDF gesehen -, war ein Vorstoß reinen Klientelismus. Das ist nun einmal Ihr Kennzeichen, Herr Solms, da können Sie hier noch so seriös auftreten. Es war reiner Klientelismus.

(Beifall bei der SPD - Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Nein!)

   Die PDS auf der anderen Seite ergeht sich in einer Steuererhöhungsorgie: Körperschaftsteuer, Wiedereinführung der Börsenumsatzsteuer, Wertschöpfungsteuer und anderes.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Das führt uns ökonomisch nicht weiter und hat in dieser Massivität mit ausgleichender Gerechtigkeit nichts zu tun.

(Bodo Ramelow (DIE LINKE): Wir heißen Die Linke! Gewöhnen Sie sich daran!)

- Sie werden mir doch gestatten, dass ich als Sozialdemokrat Sie nicht für links halte. Das will ich deutlich machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deswegen sind Sie für mich die PDS.

(Bodo Ramelow (DIE LINKE): Sie lernen nicht dazu! - Widerspruch bei der LINKEN)

   Wir leben doch nicht auf einer Insel, Herr Ramelow. Man kann über Einzelpunkte bei der Besteuerung sicherlich reden und das werden wir tun. Wir werden ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Erbschaftsbesteuerung bekommen. Wir als Sozialdemokraten haben auf unserem Parteitag in Bochum eine klare Beschlusslage verabschiedet.

   Wenn von der FDP oder aus der Öffentlichkeit gefordert wird, anstelle der Mehrwertsteuererhöhung müssten wir nur bei den Ausgaben richtig rangehen, dann will ich wiederholen, was hier bereits von Herrn Steinbrück gesagt wurde. Sagen Sie bitte den Menschen: Das bedeutet entweder massive Kürzung der Renten oder des Arbeitslosengeldes II. Alles andere ist Augenwischerei, Herr Solms, das muss man in dieser Deutlichkeit sagen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Diese Alternative ist aber untauglich und unzumutbar.

   Wenn etwas ideologische Traumtänzerei ist, dann ist es diese neoliberale Welt der FDP. Wie verträgt sich das denn mit Ihrer Forderung nach der nötigen Rückführung der öffentlichen Verschuldung? Wie verträgt sich Ihre ständige Forderung nach Steuersenkung mit der Notwendigkeit, die öffentliche Infrastruktur, die Daseinsvorsorge zu erhalten oder im Interesse von Chancengerechtigkeit an einigen Stellen noch auszubauen? Diese Fragen müssen Sie doch einmal beantworten! Sie können sich die Welt doch nicht so schnitzen, wie Sie sie gerne haben möchten. Sie müssen sich endlich den Realitäten stellen! Das tun Sie nicht. Sie verweigern sich der wirtschaftlichen, der sozialen und der finanziellen Realität.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Die massiven Steuerentlastungen der letzten Jahre - ich habe mich gefreut, Christine Scheel, dass Sie zumindest nicht vergessen haben, diese hier zu erwähnen -,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da habe ich lange für gekämpft!)

von denen insbesondere Mittelstand, Niedrigverdiener, Arbeitnehmer und Familien mit Kindern profitiert haben, haben aber zu einem, was wir uns erhofft hatten, nicht geführt. Diese Entlastungen haben zwar den weiteren Rückgang der Ökonomie verhindert, der sonst hinsichtlich der Wachstumszahlen eingetreten wäre, sie haben aber, gemessen an unseren Erwartungen bezüglich Wirtschaftswachstum und Beschäftigungswachstum, nicht das gebracht, was wir uns von ihnen versprochen hatten. Das muss man hier ehrlich sagen. Das gilt für die Angebots- wie für die Nachfrageseite.

   Ich habe deswegen in dieser Situation kein Verständnis für Forderungen nach weiteren Steuersenkungen, die unseriös sind, ob sie nun von der FDP, Herrn Merz oder wem auch immer kommen. Ihr Entschließungsantrag, den ich sorgfältig gelesen habe, bietet nur Lyrik wie im Feuilleton, nichts anderes, keine harten Fakten, mit denen man arbeiten könnte.

   Ausgangspunkt für uns - das sage ich hier jedenfalls für die SPD ganz klar - ist: Keine weitere Senkung der Steuerbelastung, auch nicht für Unternehmen, für die das Geld auch gar nicht vorhanden wäre. Allerdings dürfen wir das nicht mit den Steuersätzen verwechseln. Diese Differenzierung wird in der Öffentlichkeit nicht hinreichend gemacht. Anders als der Koalitionspartner will ich ganz offensiv vertreten, dass die volkswirtschaftliche Steuerquote, die bei uns derzeit bei knapp unter 20 Prozent liegt, nicht ausreicht, um die nötigen öffentlichen Güter zur Verfügung zu stellen. Auch das soll nicht verschwiegen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Haben Sie bei Herrn Steinbrück eigentlich zugehört? Er hat das gut erklärt!)

   Wenn wir über Unternehmensbesteuerung reden, dann reden wir Sozialdemokraten in erster Linie über die Struktur der Unternehmensbesteuerung. Jeder, der die komplizierten Fragen kennt, weiß auch, dass es richtig ist - das sage ich mit Blick auf Frau Scheel und Herrn Solms -, erst 2008 dieses große Unternehmen anzupacken. Denn man braucht Planspiele und anderes vorweg. 2007 können Sie dies nicht auf seriösem Weg erreichen. Sie beide müssten das besser wissen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was macht das Ministerium seit Jahren?)

Sagen Sie das also auch in der Öffentlichkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wir haben auch noch andere Punkte zu klären, zum Beispiel die Frage der Besteuerung von Einkünften aus Kapitalvermögen vor dem Hintergrund der mittlerweile weit geöffneten Grenzen. Auch die Kapitalflucht aus Deutschland mit der Absicht der Steuerminimierung ist immer noch ein großes Problem. Das darf - auch das muss man deutlich sagen - aus Gerechtigkeitsgründen nicht so weitergehen. Hier brauchen wir tragfähige Antworten, die wir aber nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland finden. Vielmehr müssen wir sie auch europa- und sogar weltweit suchen. Eine Bewährungsprobe für diese Koalition besteht darin, auf europäischer Ebene Lösungen durchzusetzen, die in diesem Sinne wirklich tragfähig sind; denn der Blick durch die nationale Brille reicht nicht aus, um diese Probleme zu lösen.

(Beifall bei der SPD)

   Der Einkommensteuerzuschlag für Spitzenverdiener, den SPD und CDU/CSU gemeinsam realisieren wollen, wird zu keiner weiteren massiven Steuerflucht führen, wie uns vor allen Dingen so genannte Experten, die in der Beratung Vermögender und Betroffener tätig sind, fast täglich in Zeitungsartikeln weismachen wollen. Einkommen ab 250 000 Euro bzw. bei Verheirateten ab 500 000 Euro werden auf einen Steuerstatus geführt, der auch schon bis zum Beginn dieses Jahres für sie galt. Sich vor diesem Hintergrund, Herr Solms, an Panikmache zu beteiligen ist angesichts der Probleme, die wir in diesem Lande haben und die wir auch lösen wollen, unverantwortlich.

(Beifall bei der SPD)

   Dass wir diesen Vorsatz haben, können Sie uns glauben; denn wir pflegen weder finanzpolitische Illusionen noch unreflektierten Populismus.

(Bodo Ramelow (DIE LINKE): Doch! Sie reden doch gerade von der Reichensteuer! Sieben Jahre lang haben Sie es aber nicht gemacht!)

Wir halten nichts von den Vorstellungen der PDS und ihrer Westimporte, die den Eindruck erwecken, als sei die Staatsverschuldung letztlich kein Problem -

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Joachim Poß (SPD):

- und als müsse man nur Geld in die Hand nehmen, damit es wieder rund läuft in der Ökonomie. Simpler geht es nicht. Ich empfehle Ihnen von der PDS: Nähern Sie sich der Realität an, werden Sie realitätstüchtig! Das sind Sie Ihren Wählerinnen und Wählern schuldig.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Bodo Ramelow (DIE LINKE): Werden Sie mal wieder sozialdemokratisch!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

Dr. Axel Troost (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag geht es im Bereich der Finanzpolitik insbesondere um zwei Ziele: die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Haushaltskonsolidierung. Ich sage Ihnen schon jetzt: In beiden Fällen werden Sie erneut scheitern.

   Der Kollege Solms hat, was die Ausgabenseite des Haushalts angeht, erwähnt, hier könne man von einem Strohfeuer reden. Heute Morgen war sogar von einem Jahr Keynes die Rede. Ich denke aber, dieser Haushalt reicht nicht einmal für ein Strohfeuerchen. Er wird der Herausforderung der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit überhaupt nicht gerecht.

(Beifall bei der LINKEN)

   Wir brauchen in einem ganz anderen Ausmaße und längerfristig ausgerichtete öffentliche Investitionen, um den Binnenmarkt bzw. die Binnennachfrage zu stärken. Wir müssen weg von der ausschließlichen Exportorientierung; dieser Wachstumstyp hat die letzten 15 Jahre in der Bundesrepublik beherrscht. Die Bundesrepublik ist das einzige Land, das eine solche Ausrichtung vornimmt, und das einzige Land, das, was Wachstum und Beschäftigung angeht, in den letzten Jahren so schlecht abgeschnitten hat.

(Beifall bei der LINKEN)

   Ich stimme Herrn Meister völlig zu, wenn er sagt, dass wir einen anderen Wachstumstyp brauchen. Aber wenn man von einem anderen Wachstumstyp spricht, heißt das nicht Bürokratieabbau oder Beschleunigung von Genehmigungsverfahren.

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Doch! Sicher!)

Ein anderer Wachstumstyp muss die Stärkung des Binnenmarktes zum Ziel haben. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir auch die Arbeitslosigkeit nicht abbauen.

(Beifall bei der LINKEN)

   Zum zweiten Punkt: der Haushaltskonsolidierung. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang schon genannt worden:

   Erstens. Die Massenarbeitslosigkeit kostet bei 5 Millionen Arbeitslosen Jahr für Jahr circa 100 Milliarden Euro, die in den Sozialversicherungssystemen und bei den Steuereinnahmen fehlen.

   Zweitens. Bedingt durch die Steuerreformen der letzten Jahre - auch das ist bereits angesprochen worden - betragen unsere Einnahmeausfälle inzwischen 60 Milliarden Euro jährlich, die in allen öffentlichen Haushalten - in dem des Bundes und in denen der Länder und Gemeinden - fehlen, wodurch jetzt natürlich ein Konsolidierungszwang hervorrufen wird, allerdings ein durch diese Steuerpolitik selbst verschuldeter. Von wenigen sinnvollen Maßnahmen im unteren Einkommensbereich abgesehen kam es zu massiven Steuersenkungen für Konzerne und Spitzenverdiener.

Wenn jetzt versucht wird, den Haushalt durch einen massiven Verkauf von Bundesvermögen zu sanieren, dann kann ich dazu nur sagen: Das geht nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“. Das kann es nicht sein!

(Beifall bei der LINKEN)

Der Verkauf von Tafelsilber muss gestoppt werden. Dies ist eine Politik zulasten der Bürger und zulasten der dort Beschäftigten: weil anschließend ein entsprechender Personalabbau erfolgt.

   Angesichts der fortgeschrittenen Zeit ein weiteres Thema nur knapp: Wir haben in die Debatte hier einen Antrag zur Abschaffung der Hedge-Fonds eingebracht. Diese Frage hat im Bundestagswahlkampf ja durchaus eine große Rolle gespielt; der Heuschreckenkapitalismus wurde von Herrn Müntefering in den Mittelpunkt gestellt. Die Frage ist, warum man jetzt nach der Wahl, warum man im Koalitionsvertrag dazu überhaupt nichts mehr hört bzw. liest.

(Zuruf von der CDU/CSU: Falsch!)

- Zumindest ich habe dort nichts in dieser Richtung gefunden. - Wenn wir dafür nicht hier im Parlament gemeinsam Lösungen finden, dann werden wir damit konfrontiert werden, dass DAX-Unternehmen zunehmend in Bedrängnis geraten. Über die Hälfte der 30 DAX-Unternehmen sind bereits von diesen so genannten Heuschrecken sozusagen „angefressen“. Es ist ein Unding, dass Flaggschiffe der bundesdeutschen Wirtschaft wie Siemens oder Daimler-Benz Angst haben müssen, dass sich solche Hedge-Fonds bei ihnen einkaufen und sie zerlegen. Denn das sind die Konsequenzen: Filetierung und massiver Abbau von Arbeitsplätzen in diesen Bereichen. Das müssen wir hier gemeinsam diskutieren; dann erfährt auch dieses Hohe Haus für meine Begriffe einen Bedeutungszuwachs.

(Beifall bei der LINKEN)

   Wir brauchen dringend einen grundlegenden Wechsel in der Finanz- und Wirtschaftspolitik, wenn wir Haushaltskonsolidierung über den Abbau von Arbeitslosigkeit, über zusätzliches Wachstum erreichen wollen. Dafür gibt es ganz konkrete Konzepte: nicht nur bei der Partei der Linken, auch im Bereich der Gewerkschaften und bei einzelnen Vertretern des Sachverständigenrats.

   Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Auch für Sie, Herr Kollege Troost, war das die erste Rede hier in diesem Hohen Haus. Auch Ihnen wünsche ich persönlich und in Ihrer beruflichen Laufbahn alles Gute.

(Beifall)

   Nächster Redner ist der Kollege Steffen Kampeter, CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Steffen Kampeter (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung

(Zuruf von der CDU/CSU: „Die Bundeskanzlerin“ heißt das!)

den Dreiklang Reformieren, Investieren, Konsolidieren in den Zusammenhang der Generationengerechtigkeit gestellt. Sie hat damit deutlich gemacht, dass die große Koalition sparen nicht um des Sparens willen beabsichtigt, sondern im Rahmen einer ganzheitlichen und nachhaltigen Politik, auch im Hinblick auf die nachfolgenden Generationen. Wir können nicht dauerhaft über unsere Verhältnisse leben. Wir müssen deutlich machen, dass Konsolidierung auch eine wesentliche Zukunftsinvestition, die Bewahrung der Chancen zukünftiger Generationen, ist. Konsolidierung muss man als Chance begreifen, weil sie alternativlos ist im Vergleich zu allen Strategien, die sowohl die wirtschaftliche, aber auch die sonstige Leistungsfähigkeit unseres Gemeinwesens einschränken wollen.

   Am Anfang einer solchen ganzheitlichen Finanzpolitik muss die Erkenntnis stehen, in welcher finanziellen Situation sich unser Gemeinwesen befindet: Das strukturelle Defizit in einer Größenordnung von rund 60 Milliarden Euro ist hier bereits in der vergangenen Legislaturperiode von den Haushälterinnen und Haushältern der Union wiederholt kritisiert worden. Es ist schon ein großer Schritt, dass sich die große Koalition von dem Startpunkt dieses enormen Defizits aus zu entschiedenen Konsolidierungsmaßnahmen - auf der Ausgaben-, aber auch auf der Einnahmeseite - entschlossen hat.

   Dies ist ein ehrlicher Anfang und eine klare Strategie zur Gesundung der Staatsfinanzen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich möchte mich bei Bundesfinanzminister Steinbrück für die Verhandlungsführung bei den Koalitionsverhandlungen bedanken. Es war sicherlich kein einfacher Weg für die SPD, diesen Schritt mit uns gemeinsam zu gehen, weil wir auch unangenehme Wahrheiten im Koalitionsvertrag gemeinsam eingestanden haben.

(Joachim Poß (SPD): Für Sie war das aber auch nicht so einfach!)

Es ist ein Stück Vertrauen gewachsen, auf dem wir aufbauen können, um diese vier Jahre in der Finanzpolitik gemeinsam eine Konsolidierungsstrategie aus einem Guss umzusetzen. Sehr geehrter Minister Steinbrück, ich sage Ihnen zu, dass die Haushälter der Unionsfraktion Sie bei allen vernünftigen Vorschlägen aktiv unterstützen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Nicht durchgehen lassen möchte ich - das will ich in diesem Zusammenhang sagen -, was die Kollegin Scheel gemacht hat.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das glaube ich!)

Nachdem sie Sondierungsgespräche mit der Union relativ rasch und frustriert abgebrochen hat, „schwampelt“ sie in ihren Reden in einer unerträglichen Art und Weise herum. Dabei versucht sie, vergessen zu machen, dass sie mit ihren Leistungen im Finanzausschuss an vielem, wo wir jetzt Aufräumarbeiten zu verrichten haben, im Wesentlichen beteiligt war. Sie ist mit eine Verursacherin der finanzpolitischen Krise. Sie können doch nicht so reden, als hätten Sie in den vergangenen Jahren keine Verantwortung dafür getragen!

(Beifall der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN - Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unser Koalitionspartner hat gebremst!)

   Wir haben in den Koalitionsverhandlungen - das ist in der Regierungserklärung deutlich geworden - die Ursachen dieses strukturellen Defizites schonungslos offen gelegt: Es sind die lang anhaltende Wachstumsschwäche, die nicht erst seit der rot-grünen Koalition besteht, die kontinuierliche Zugrundelegung zu optimistischer Annahmen für die mittel- und langfristige finanzielle Entwicklungsplanung sowie die ebenfalls seit langem vonstatten gehende Einbetonierung des Haushaltes durch immer mehr gesetzliche und sonstige Rechtsansprüche. Wir als große Koalition haben festgelegt, dass wir uns diesen drei Ursachen entschieden widmen wollen. Wir wollen dauerhaft höheres Wachstum. Diesen Pfad wollen wir beschreiten.

   Herr Kollege Solms, Sie haben vorhin gesagt, wir würden keine Maßnahmen zur Unterstützung des Wachstums ergreifen.

(Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Keine wirkungsvollen Maßnahmen!)

Ich bitte Sie, selbstkritisch zu überprüfen, ob Sie sich am Anfang der Koalitionsgespräche hätten vorstellen können, dass wir als große Koalition es schaffen, diese Liberalisierungs- und Vorfahrtsmaßnahmen für den Arbeitsmarkt zu vereinbaren, und dass CDU, CSU und SPD bereit sind, gemeinsam diesen Weg zu gehen.

   Wir werden die Fehlsteuerungen bei Hartz IV beseitigen. Wir werden wesentliche Einsparungen auch im konsumtiven Bereich vornehmen. Wir wollen im Rahmen der Tarifautonomie erste Schritte hin auf Bündnisse für Arbeit gehen. Das ist ein großer Erfolg und ein wesentlicher Beitrag zu mehr Wachstum und Beschäftigung in den nächsten Jahren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Darüber hinaus hat diese Koalition vereinbart, 3 Prozent im Bereich der Forschung investieren zu wollen. Das ist langfristig ein Wachstumstreiber. In die Köpfe zu investieren, in diejenigen, die zukünftig für Wachstumsprodukte in diesem Land sorgen, das ist ein entschiedenes Anliegen der großen Koalition. Wir werden den Pfad zu mehr Wachstum - das ist der Partner der Konsolidierung - gehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Wir von der Union haben gemeinsam mit der SPD beschlossen, dass wir zukünftig mit konservativen, das heißt zurückhaltenderen Annahmen unsere Haushalts- und Finanzplanungen durchführen. Es ist vorbei mit der Trickserei, der Täuscherei und den zu optimistischen Annahmen.

(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen konsolidierte Haushalte auch auf Grundlage zurückhaltender Wachstumsschätzungen erreichen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Zurufe von der SPD)

Außerdem werden wir den Anteil der Rechtsansprüche am Haushaltsvolumen zurückführen. Das bedeutet eine höhere Flexibilisierung bei den Leistungsgesetzen. Dies wird auch deutlich im Hinblick auf die Bereiche von Bund und Ländern.

(Abg. Joachim Poß (SPD) begibt sich zu Abg. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

- Herr Kollege Poß, ich weiß nicht, warum Sie an dieser Stelle aufstehen.

(Joachim Poß (SPD): Ich habe Frau Hajduk gebeten, dass sie das zurechtrücken muss, was Sie gesagt haben!)

   Wir wollen diese Konsolidierung nicht nur als Bundesaufgabe begreifen, sondern wollen gemeinsam mit den Ländern dafür Sorge tragen, dass die Erfüllung staatlicher Dienstleistungen bei Qualitätssicherung für die Menschen gleichzeitig effizienter organisiert wird. Wir werden Leistungsgesetze und Standards auf den Prüfstand stellen und so zu einer strukturellen Entlastung in unseren Haushalten kommen.

   Es bestehen in den nächsten Jahren aber auch erhebliche Risiken. Ich erinnere beispielsweise an das Risiko durch Zinsänderungen. Diese werden uns auf unserem Weg begleiten. Wir wollen und wir werden diesen Risiken gemeinsam entgegentreten, sollten sie uns zu zusätzlichen Anpassungen herausfordern. Aber wir werden im Jahr 2007 im Sinne der Generationengerechtigkeit, aber auch im Sinne der Auflagen von Verfassung und Maastricht-Vertrag einen konformen Haushaltsentwurf und -abschluss vorlegen. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel. Wir wollen solide Haushalte als ein Kernmerkmal der großen Koalition.

(Beifall bei der CDU/CSU)

   Diesem Konsolidierungsziel dienen eine ganze Reihe von anderen Maßnahmen, wie zum Beispiel die Förderung des Mittelstandes oder der Bürokratieabbau.

   All diejenigen, die beispielsweise im Hinblick auf die Ausgabensenkungen der Auffassung sind, man könne das nicht tun, sind aufgefordert, bessere Vorschläge zu machen. Der Kollege Poß hat in diesem Zusammenhang richtigerweise darauf hingewiesen, dass es eben nicht reicht, zu sagen, was nicht geht, sondern wir sind darauf angewiesen, deutlich zu machen, was in diesem Land geht. Wir wollen das tun, was möglich ist. Manchmal ist das vielleicht etwas weniger als das, was wünschenswert ist.

   Wir sind die Koalition, die die Möglichkeiten nutzt. Eine der Möglichkeiten, die wir nutzen wollen, ist die Wiederherstellung eines soliden Haushaltswirtschaftens als Kennzeichen und Kernanliegen nicht nur der Bundeskanzlerin, sondern auch der gesamten großen Koalition, die dieses Land in den nächsten vier Jahren führen wird.

   Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:

Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/Die Grünen.

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Kollege Meister hat hier am Anfang seiner Rede gesagt, es sei notwendig gewesen, sich ehrlich zu machen, um hier etwas für den Haushalt vorlegen zu können.

   Ich kann Ihnen nur sagen: Wer vorher so viele Unwahrheiten über die Notwendigkeit eines Abbaus der Steuersubventionen gesagt hat, der musste sich hier heute wirklich ehrlich machen. Insofern musste auch die Union, die erst heute bereit ist, die Eigenheimzulage abzuschaffen, endlich mit der Wahrheit herausrücken. Für dieses Land ist das reichlich spät und für den Haushalt 2006, der noch kommen soll, bedeutet das eine milliardenschwere Belastung; das wissen auch Sie. Deswegen ist diese Ehrlichkeit zwar die Wahrheit, aber zu spät sind Sie leider dennoch gekommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Die SPD müsste jetzt eigentlich vollzählig klatschen; denn, wie Herr Poß sagt: Das ist die Wahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich möchte deswegen ganz deutlich sagen: Ich will Sie nicht dafür kritisieren, dass Herr Steinbrück stolz darauf sein kann, dass bei der Union die Erkenntnis eingezogen ist, dass der Abbau von Steuervergünstigungen nichts anderes als eine sinnvolle Ausgabenkürzung im Haushalt ist. Es ist notwendig, dass das diffamierende Gerede in Ihren Reihen - „von der linken Tasche in die rechte Tasche“ - aufhört. Ich will Sie nicht für die richtige Einsicht heute kritisieren, aber ich muss sagen - das trifft auch auf die Bundeskanzlerin Merkel zu -: Sie haben in der Vorwahlzeit und in der Wahlkampfzeit nicht den Mut zur Wahrheit gehabt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

   Sie haben angekündigt, 2006 einen nicht verfassungskonformen Haushalt aufzustellen.

(Joachim Poß (SPD): Nein! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Behaupten Sie hier nicht die Unwahrheit, Frau Hajduk!)

Sie haben das nach erheblichen Streitereien, die auch die Öffentlichkeit erreicht haben, korrigiert. Daraus kann man zwei Punkte ableiten:

   Erstens. Sie haben eine kurze Zeit überlegt, ob Sie Skrupel haben müssen, Ihre Zweidrittelmehrheit auch brutal gegen die Verfassung anzuwenden.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das, was Sie da behaupten, ist unglaublich!)

Sie sind dabei zu der Einsicht gekommen, dass das vielleicht nicht ganz klug wäre. Aus den Reihen der CDU ist das aber gefordert worden.

   Zweitens. Das zeigt, dass Sie bei den Privatisierungserlösen für 2007 und 2008 eigentlich ein Polster benötigen; denn der Satz, dass es unmöglich ist, nach der üblichen Regel einen verfassungskonformen Haushalt für 2006 aufzustellen, stimmt nicht. Den Schluck aus der Pulle, den jetzt die rote Koalition

(Joachim Poß (SPD): Rot wäre schön, haben wir aber nicht! - Steffen Kampeter (CDU/CSU): Keine Drohungen!)

- Entschuldigung -, die große Koalition mit 40 Milliarden Neuverschuldung für 2006 nimmt, hätte sich Rot-Grün nicht genehmigt und Finanzminister Eichel hätte so etwas nie vorgeschlagen. Das ist die Wahrheit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

   Ich will Ihnen sagen, dass ich es mir hier nicht leicht machen möchte. Herr Steinbrück, auch wir hätten große Probleme mit der Neuverschuldung in 2006 gehabt. 40 Milliarden Euro sind aber eine ganze Menge, dies ist zu viel. Das könnten mehrere Milliarden weniger sein. Ich sage das auch mit Blick auf die Zinsentwicklung, die es in Zukunft geben wird.

   Was Sie mit dieser Rekordverschuldung machen - es sind von vornherein 40 Milliarden Euro -, ist der doppelte Waigel. Ich will Ihnen dazu sagen: Dieser Haushalt soll auffallend spät kommen. Es ist der doppelte Waigel, weil er erst im Juli nächsten Jahres in Kraft treten soll. Dieser Haushalt wird bewusst spät geliefert und erst zwei Tage nach den Landtagswahlen - am 26. März 2006 sind in den süddeutschen Bundesländern Landtagswahlen - eingebracht, um die erste Bewährungsprobe dieser großen Koalition zu lindern.

(Joachim Poß (SPD): Im Kabinett ist er am 22. Februar!)

Das ist der doppelte Waigel; denn der Haushalt, der 1991 aufgestellt wurde - damals war es eine große neue Leistung, nach der Wiedervereinigung einen Haushalt aufzustellen -, stand einen Monat früher im Gesetzblatt, als dieser Haushalt 2006 der großen Koalition stehen soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

   Ich komme abschließend zu dem Punkt, der mir mit Blick auf die finanzpolitische Aufstellung der Koalition am meisten Sorge bereitet. Haushaltskonsolidierung funktioniert nur mit dem Abbau von Arbeitslosigkeit. Ich will es präziser sagen: Haushaltskonsolidierung funktioniert nur mit der Zunahme von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Ich habe die große Sorge, dass Sie diesen Zusammenhang definitiv nicht ausreichend berücksichtigen. Sie entlasten den Haushalt durchaus von versicherungsfremden Leistungen im Bereich Gesundheit. Da wollen Sie im Haushalt mehr als 4 Milliarden Euro einsparen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Das ist doch ehrgeizig!)

Sie legen aber keine Gesundheitsreform vor. Das macht deutlich: Die Beiträge zur Krankenversicherung werden steigen.

   Sie haben schon ganz klar gesagt, dass Sie sich mit einem Jahr Abstand nicht in der Lage sehen, den Beitragssatz zur Rentenversicherung stabil zu halten. Er wird um mindestens 0,4 Prozentpunkte steigen. Der Beitragssatz zur Pflegeversicherung wird - das wissen Sie, Herr Thönnes - spätestens ab 2007 wahrscheinlich auch steigen, wenn Sie nicht mit einer Reform mehr als das erreichen, was Sie in den Koalitionsverhandlungen vereinbart haben.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)

   Ich sage Ihnen voraus: Das, was Sie als Senkung der Arbeitslosenversicherung angekündigt haben - die Hälfte von diesen 2 Prozentpunkten sind Auswirkungen der rot-grünen Arbeitsmarktreform -, ist in Ihrem Reformstau mit Blick auf die gesamten Lohnnebenkosten schon längst aufgefressen. Bei den Lohnnebenkosten ist diese Koalitionsvereinbarung trotz saftiger Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Nullsummenspiel. Das ist mit Blick auf Impulse zur Modernisierung der Haushalte und die Steuerfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen ein Desaster. Das ist ein richtig schwaches Ergebnis und ein schlechter Start für die große Koalition.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Bartholomäus Kalb von der CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalitionsfraktionen haben sich zu Beginn ihrer Verhandlungen mit der Ausgangslage sehr genau befasst und eine gründliche Bestandsaufnahme vorgenommen.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hat auch lange genug gedauert!)

Wir mussten leider feststellen, dass die Lage dramatischer ist, als bisher angenommen werden konnte. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass der Konsolidierungsbedarf weit höher als bisher angenommen ist, dass es nicht möglich sein wird, schon für 2006 einen Haushalt vorzulegen, der die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes einhält, zumindest dann nicht, Frau Hajduk, wenn man nicht in einer insgesamt unwirtschaftlichen Art und Weise Einmaleffekte erzielen möchte, und dass es auch sehr schwierig sein würde, das Maastrichtkriterium von 3 Prozent 2007 wieder einzuhalten.

   Leider hat sich mehr als bestätigt, was Ihr Amtsvorgänger, Herr Bundesminister - das muss man zugeben -, schon im Juni dieses Jahres gesagt hat:

Die Haushaltslage ist dramatisch ...

Das hat Hans Eichel schon im Frühsommer dieses Jahres erkannt. Leider wollte diese bittere Wahrheit niemand hören. Sie ist im Wahlkampfgetöse untergegangen. Insbesondere die eine Seite dieses Hauses wollte sie gar nicht hören.

   Diese neue Koalition hat sich in den finanzpolitischen Verhandlungen - professionell geführt von Herrn Minister Steinbrück und Ministerpräsident Roland Koch - schonungslos mit den Fakten auseinander gesetzt und die erforderlichen Schlussfolgerungen gezogen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass für irgendwelche wünschenswerte Leistungsverbesserungen, außer den vereinbarten Maßnahmen zur Stärkung von Wachstum, Beschäftigung und Familie, kein Spielraum besteht, dass Leistungen beschränkt werden müssen, dass für steuerliche Entlastungen keine Möglichkeit besteht, sondern stattdessen die Einnahmeseite des Staates verbessert werden muss.

   Es ist schon erstaunlich, wie viele gute Vorschläge hinsichtlich Einsparmöglichkeiten und Subventionsabbau gemacht werden und wurden und wie viel Mut zu diesen Einschnitten angemahnt wird und wurde. Dies geschah auch von solchen, die dies aus ordnungspolitischer Überzeugung fordern, aber dann Einwände formulieren, wenn sie bzw. ihre Interessengruppe selber davon betroffen sein könnte. Wir, die großen Volksparteien, die diese Koalition tragen, können nicht einfach in einer Art Prinzipienreiterei über die Köpfe der Menschen hinweg sparen, kürzen und streichen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

   Wir müssen die Menschen mitnehmen. Wir müssen erklären, warum manche Maßnahmen unumgänglich sind.

(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU))

Wir müssen auch erkennen, wo die Belastungs- und Zumutbarkeitsgrenzen der Bürger verlaufen, die entweder auf Transferleistungen angewiesen sind oder die Steuer- und Beitragslast tragen müssen.

(Steffen Kampeter (CDU/CSU): Wohl wahr!)

   Deshalb müssen wir auch erklären, warum wir sparen und konsolidieren: eben nicht in erster Linie, weil wir die Verfassungsbestimmungen einhalten oder den Maastrichtvertrag erfüllen müssen. Wir müssen erklären, dass alle diese Regelungen ihren Sinn haben, nämlich sicherzustellen, dass es nicht zu einer Desinvestition bei gleichzeitig überbordender Verschuldung, einem Substanzverlust und einem Wert- und Vermögensschwund kommt. Auch die Maastrichtkriterien müssen eingehalten werden, wenn wir vermeiden wollen - heute ist schon darüber gesprochen worden -, dass ein dauerhafter Schaden für die Währung und für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung im Euro-Raum entsteht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Aber es geht nicht nur aus diesen Gründen um die Einhaltung der Belastungsgrenzen. Wir müssen dem von verschiedener Seite gern geschürten Eindruck entgegentreten, es würde zulasten der Menschen gespart. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Wir sparen im Interesse der Menschen. Wir sparen im Interesse der Zukunft der Menschen, weil sie sonst in einer nicht so fernen Zukunft nicht mehr in der Lage wären, die Lasten aus der Verschuldung zu tragen.

   Wenn, wie so häufig, der Vorwurf erhoben wird, der Staat kürze hier, streiche dort und erhöhe die Belastung, dann ist die Frage zu stellen: Wer ist der Staat? Woher kommt das Geld des Staates? Dann müssen wir eine banale Grundwahrheit aussprechen: Der Staat bzw. die öffentlichen Hände haben kein anderes Geld als jenes, das sie vorher über Steuern, Abgaben, Beiträge und Gebühren dem Bürger aus der Tasche gezogen haben.

   Eine zweite Grundwahrheit ist, dass in einer Volkswirtschaft nicht mehr verteilt werden kann - weder über gesetzliche noch private Sicherungssysteme -, als vorher gemeinsam erwirtschaftet wird.

   Wir handeln als Bundesgesetzgeber nicht nur im Interesse des Bundes und des Bundeshaushaltes, sondern wir tragen auch in hohem Maße Mitverantwortung für die übrigen Ebenen, die Länder und Kommunen. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, dass keine Lastenverschiebung auf andere Ebenen erfolgen darf. Im Gegenteil: Die bereits eingeleiteten Maßnahmen werden über die Steueranteile von Ländern und Kommunen ganz wesentlich zu deren Entlastung und zu Einnahmeverbesserungen führen. Insofern kann ich die Kritik der letzten Tage, die von mancher Seite geäußert wurde, nicht nachvollziehen.

   Die Frau Bundeskanzlerin hat gestern unter anderem ausgeführt:

Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird.

Sie führte weiter aus:

Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache verkleiden und damit die Gemeinschaft ausnutzen.

   Gleichzeitig war gestern in der Zeitung ein anderes Zitat zu lesen:

Jeder wird den gesetzlichen Rahmen maximal ausnutzen. Da hat es keinen Zweck, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Das ist rechtmäßig und muss akzeptiert werden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wer war das?)

   Angesichts solcher Aussagen kommt man zum Nachdenken darüber, was getan werden muss, um Gesetze zielgenauer wirken zu lassen und möglichem Leistungsmissbrauch besser vorzubeugen. Ich denke aber, dass es uns selbst bei allerbestem Willen und gründlichster Arbeit nicht gelingen wird, jeden Missbrauch zu verhindern. Es wird auch nicht möglich sein, Gesetze zu machen, die für 80 Millionen Menschen Einzelfallgerechtigkeit gewährleisten.

   Umso mehr wird es darauf ankommen, dass es uns gelingt, wieder einen gesellschaftlichen Grundkonsens über die Eigenverantwortung herzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

   Ich habe in meiner Kindheit und Jugend viele, insbesondere ältere Menschen erlebt, die vermutlich auch damals schon Anspruch auf gesetzliche Leistungen gehabt hätten, aber nach dem Motto „Ich will mir selber helfen; ich will nicht der Allgemeinheit zur Last fallen“ gelebt haben. Für viele in dieser Generation galt der Grundsatz: Das tut man nicht; das macht man nicht.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Da gab es aber auch viel Armut!)

- Gerade diese Menschen haben das größte Verständnis für die Allgemeinheit aufgebracht, Frau Kollegin Scheel. - Es mag sehr altmodisch klingen, aber es war vielleicht ein hohes Maß an Eigenverantwortung, Bescheidenheit, Gemeinsinn und Solidarität.

(Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die haben sich aber auch geschämt!)

Möglicherweise fehlt uns ein wesentlicher Teil davon.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

   Wie wichtig eine Trendumkehr in der Haushalts- und Finanzpolitik ist, wird bei einem Blick auf die demographische Entwicklung unserer Bevölkerung, wie sie sich schon in nächster Zeit ergeben wird, sehr deutlich. Schon in wenigen Jahren, bis zum Jahr 2020, wird der Anteil der unter 20-Jährigen von rund 21 Prozent auf 17 Prozent sinken. Zugleich steigt der Anteil der über 65-Jährigen von 17 Prozent auf über 21 Prozent an. Das allein zeigt, vor welchen Herausforderungen unsere Gesellschaft und unsere Volkswirtschaft stehen. Es macht deutlich, dass Sparen und Reformieren kein Selbstzweck sind, sondern unabdingbar notwendig sind, um der Verantwortung gegenüber den Menschen und ihren Problemen sowie den Herausforderungen bereits in den nächsten Jahren gerecht zu werden.

   Wenn wir das bedenken, wird klar, dass wir in der Haushalts- und Finanzpolitik dringend und unverzüglich eine Trendumkehr erreichen müssen. Dafür bietet die neue, große Koalition eine gute Chance. Nutzen wir diese Chance!

   Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.

   Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/107, 16/108, 16/105 und 16/113 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 16/107 - Tagesordnungspunkt 5 a  - soll zusätzlich an den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

   Wir kommen nun zu den Themenbereichen Bildung und Forschung. Als erste Rednerin hat das Wort die Bundesministerin Dr. Annette Schavan.

[Der folgende Berichtsteil - und damit der gesamte Stenografische Bericht der 5. Sitzung - wird morgen,
Freitag, den 2. Dezember 2005,
an dieser Stelle veröffentlicht.]
Quelle: http://www.bundestag.de/bic/plenarprotokolle/plenarprotokolle/16005
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